Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

„Großes Kino“ – Monumentale Filmplakate

Eine DDR-Besonderheit: „Drei Quadratmeter Vergänglichkeit“

Wer immer an der Konzeption und Ermöglichung dieses Bandes beteiligt war hat alles richtig gemacht. Großes Kompliment.  Im Impressum lese ich eine alarmierende Zahl: „Privatdruck der Universität Erfurt in Kooperation mit der DEFA-Stiftung Berlin in 600 Exemplaren. Vertrieb: Bertz + Fischer Verlag Berlin.“

Ein Filmbuch wie dies, Format 27,5 x 25 cm, Hardcover, durchgängig farbig, 184 Seiten, für 29 Euro im Verkauf, geht also mit 600 Exemplaren an den Start, dies in einem Land mit 83,02 Millionen Einwohnern und 118,6 Millionen Kinogängern im Vor-Corona-Jahr 2019. Die im gleichen Verlag erschienene, mustergültige erste deutsche Monographie des Regisseurs Anthony Mann, in all ihrer Tiefe und Verästelung wohl nur als besonders liebevolle Doktorarbeit zu bewerkstelligen – meine Besprechung dazu hier – hatte eine Startauflage von 400. So hoch und weit ist der Horizont der Cineasten also hierzulande noch gespannt. Wahrlich keine Massenbewegung. Das nebenbei. Und dies auch, um die Beharrlichkeit zu preisen, trotzdem am Konzept Filmbuch festzuhalten. Denn klar ist das Kultur. Jedes Buchexemplar ein Samenkorn. Für welche Generationen auch immer…

Vergänglich, sogar extrem vergänglich war das Medium, dem der Forscher Patrick Rössler im völlig zu Recht so betitelten Band „Großes Kino“ seine Aufmerksamkeit widmet: nämlich den monumentalen DDR-Filmplakaten der 1960er-Jahre, mit denen der Progress Filmverleih, der einzige Filmverleih der DDR, für besonders massentaugliche Filme warb.

„Verräter im Netz“, Gestaltung: Ernst Lauenroth

Diese besondere Öffentlichkeitsform im Format Dreifach AO, vom Verleih „Großfläche“ genannt, entfaltete mit ihren gut meterhohen und annähernd zweieinhalb Meter breiten Panoramen eine besondere visuelle Kraft. In der heutigen Filmliteratur und in den Archiven blieb sie weithin unbekannt und unbeachtet, weil sie enorm vergänglich war. „Von den aufwändigen, überformatigen Drucken auf stärkerem Papier wurde in der stets auf einen effektiven Rohstoffeinsatz ausgerichteten DDR-Planwirtschaft nur eine geringe Anzahl hergestellt – und diese primär durch Klebung verarbeitet (drei zusammengesetzte A0-Plakatteile), so dass sie nach Verwendung verloren waren und überkleistert wurden“, schreibt Patrick Rössler in seinem Vorwort „Drei Quadratmeter Vergänglichkeit“.

Im umfassenden Progressbestand des Filmmuseums Potsdam etwa sind höchstens zwei Dutzend Großflächenplakate erhalten. Die Deutsche Kinemathek selbst hat keinerlei mehrteilige Progress-Filmplakate in ihrem Plakatarchiv und das Deutsche Filminstitut & Filmmuseum besitzt nach eigener Auskunft keine Exemplare, ermittelte Patrick Rössler. Im ebenfalls von der DEFA-Stiftung ermöglichten und herausgegebenen Standardwerk „Mehr Kunst als Werbung“ von Detlef Helmbold mit rund 6.400 DDR-Filmplakatabbildungen sind nur drei solcher Scope-Motive dokumentiert.

Neuland also. Und eine erhebliche Rekonstruktionsarbeit. Der Bildband versammelt insgesamt 162 Plakatbeispiele, alle zwischen 1959 und 1966 entstanden. Der Schwerpunkt liegt auf dem besonders gut dokumentierten Jahr 1963, aus dem sich 73 Plakate wiederfinden – und aufschlussreiche Vergleiche erlauben. Die im Buch zusammengetragene und filmwissenschaftlich erschlossene Auswahl dokumentiert die Sammlung der Universitätsbibliothek Erfurt, wo sich in den Beständen der Interdisziplinären Forschungsstelle für historische Medien (IFhM) ein Konvolut von über 100 unbenutzten Großflächenplakaten erhalten hat. Für die Publikation wurden sie um rund 30 weitere Plakate aus einer Privatsammlung ergänzt.

„Großes Kino“ – Umschlagrückseite

Jeder im Buch vorgestellte Film ist mit seinem Breitwand-Werbemotiv präsentiert, dazu kommen die wichtigsten filmografischen Angaben, ein (kleineres) hochformatiges „Normal“-Plakat oder Szenenfoto sowie ein kommentierender Kurzinhalt aus der Online-Datenbank „Lexikon des Internationalen Films“, die seit Jahrzehnten von der Katholischen Filmkommission für Deutschland und dem Internetangebot www.filmdienst.de (früher eine gedruckte Filmzeitschrift) gepflegt wird. Gerade in Zusammenhang mit manchem „Ostblock“-Film erzeugt die meist im Kern westdeutsche Inhaltswertung oft eine hübsche Reibung. An geeigneter Stelle wird darauf hingewiesen, dass es sich um zeitgenössische Einschätzungen handle und das bei einer Betrachtung aus heutiger Perspektive zu berücksichtigen sei.

„Die Brücke: Gestatung: Jürgen Großmann/ „Privatleben“: Kurt Geffers

Und immer findet sich und G (wie Gestaltung) der Name des Breitwand-Künstlers. Ein Verzeichnis am Buchende nennt an die 50 Namen, besonders oft genannt werden Kurt Geffers, Jürgen Großmann, Ernst Lauenroth, Helmut Merten und Klaus Poche. Es fällt auf, wie zu Beginn der Plakat-Ära noch viele Filmfotos auf dem Plakaten zu finden sind, wie dann allmählich mit Typografie und Proportionen gespielt sind, ehe sich die Breitwand immer mehr entfaltet. Großes Kino, eben – und das aus der DDR.

Hier das erste Dutzend der Plakate:
Ehesache Lorenz, DDR 1959
Don Juans allerletzte Abenteuer, Ungarn 1958
Schicksal einer Frau, UdSSR 1957
Einer von uns, DDR 1959
Zu Fuß in den Himmel, Ungarn 1959
Im feindlichen Lager, China 1959
Wo der Zug nicht lange hält …, DDR 1960
Montparnasse 19, Frankreich/ Italien 1957
Geheimcode, Rumänien 1959
Die nach uns kommen, UdSSR 1959
Am Ende des Weges, CSR 1959
Ohne Gewissen, Ungarn 1960

Welche Plakate ich besonders gelungen fand? Viele! 
Darunter Die Taiga ruft, Die Helden vom Adlerpass, Tatis Mein Onkel, Die Prozession zur heiligen Jungfrau, Die Nacht von Ferrara, Junitage, Ehe: ungenügend, Das Beil von Wandsbeck, Die glorreichen Sieben, Die Brücke, Der Weg nach oben, Der Mann auf den Schienen.

Hach.

Patrick Rössler: Großes Kino. Monumentale DDR-Filmplakate der 1960er-Jahre. Erschienen zum 75. DEFA-Jubiläum. Verlag Bertz und Fischer, Berlin 2021. 184 Seiten, Querformat, über 350 farbige Abbildungen, 29 Euro. – Verlagsinformationen hier.

PS. Autor Patrick Rössler ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Erfurt und war über viele Jahre hinweg als Filmkritiker für Tageszeitungen und deren Korrespondent auf den Berliner Filmfestspielen aktiv. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der visuellen Kommunikation, insbesondere mit der Publikumspresse und der deutschen Filmpublizistik im 20. Jahrhundert (Ausstellung und Publikation u.a.: „Die Sprache des Stummfilms“, 2006; „Die Bilder des Tonfilms“, 2014; „Filmfieber“, 2017). An der Universität Erfurt leitet er als Mitbegründer die Interdisziplinäre Forschungsstelle für historische Medien (IFhM) und verantwortet dort speziell das Archiv mit einem geschlossenen Bestand von ca. 150.000 Dokumenten zur Filmwerbung in der DDR, das die seit 1955 in Kinos gezeigten Spielfilme fast vollständig abdeckt. Der vorliegende Band entstand im Kontext des dem von ihm mit geleiteten Citizen-Science-Projekts „Kino in der DDR“ (seit 2019).

 PPS. CrimeMag-Lesern dürfte er kein Unbekannter sein, er hat nämlich unsern Schutzpatron porträtiert:

Patrick Rössler: anders denken. Krähen-Krimis und Zeitprobleme: der Nest-Verlag von Karl Anders. Begleitpublikation zur Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstags von Karl Anders, 20. September – 30. Oktober 2007, Universitätsbibliothek Erfurt, und 7. November – 14. Dezember 2007 Literaturhaus Frankfurt a.M./ Universitätsbibliothek Frankfurt a.M., mit Beiträgen von Ann Anders, Herbert Ehrenberg, Alf Mayer und Sascha Münzel und einer Bibliografie der im Nest-Verlag erschienenen Bücher. Sutton Verlag, Erfurt 2007.

Und er war auch hier dabei:

Reinhard Klimmt, Patrick Rössler: Reihenweise: Die Taschenbücher der 1950er Jahre und ihre Gestalter. Unter Mitarbeit von Jane Langforth, Mirko Schädel und Andrea van Dülmen. Zwei Bände im Schuber, zusammen 936 Seiten, 249 Euro. Band 1: Essays, 544 S., durchwegs farbig illustriert. Band 2: Farbiges Bildregister, Bibliografie, Biografien der Gestalter, 388 S.  Achilla Presse, Butjadingen 2016.

Siehe auch:
Detlef Helmbold: Mehr Kunst als Werbung. Das DDR Filmplakat. Hrsg. von der DEFA Stiftung. Bertz + Fischer , Berlin 2018. 672 Seiten, 96 Euro. – Verlagsinformationen hier. Besprechung von Hans Helmut Prinzler hier. Er hat nachgezählt: 6.385 Plakate zu Filmen aus 58 Ländern reproduziert, gestaltet von 465 Grafiker*innen. Zu sehen sind 5.066 Spielfilm-, 342 Dokumentarfilm- und 977 Kinderfilmplakate. Ein nahezu lückenloser Spaziergang durch die Kino- und Filmverleihgeschichte der DDR .

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