Geschrieben am 15. August 2018 von für Crimemag, CrimeMag August 2018

Graphic Novel: Am liebsten mag ich Monster

Monster - CoverLieber Werwolf als Mensch

„Dieses Buch ist ein Monster im bestmöglichen Sinne.“ Eigentlich nicht der Stil von Alf Mayer, eine Besprechung mit einem Blurb zu beginnen, aber der von der Comic-Größe Alison Bechdel trifft es auf den Kopf. Die Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“ der Amerikanerin Emil Ferris  ist unglaublich. So unglaublich wie ihre Geschichte selbst, und dann noch eins drauf.

Unglaublich, dass dies ein Debüt und die erste Veröffentlichung der Autorin sein soll.
Unglaublich, dass sie bei der Fertigstellung bereits 55 Jahre alt war.
Unglaublich, dass sie das Buch quasi als Reha erdacht, erzählt und gezeichnet hat.
monster eisner-win-seal-145Glaubhaft aber dann wieder, dass es für dieses originelle Werk jetzt bei der San Diego Comic Con die Aufnahme in den Comic-Olymp und drei Goldmedaillen gab:
2 018 Eisner Award Winner: Best Writer/Artist
2018 Eisner Award Winner: Best Graphic Album
2018 Eisner Award Winner: Best Coloring.

Schuld an diesem Buch ist letztlich ein echtes kleines Monster. Eine Stechmücke. 2001 wurde Ferris – alleinerziehende Grafik-Freiberuflerin, 40 Jahre alt – in Chicago von einem Moskito gestochen und mit dem West-Nil-Virus infiziert. An dem starb schon Alexander der Große; Raben fielen vor seinem Ableben vom Himmel, berichtet Plutarch. Innerhalb von drei Wochen war Emil Ferris von der Hüfte ab gelähmt und verlor auch die Herrschaft über ihren rechten Arm.

Mittlerweile gilt es als erwiesen, dass das Virus von einer in einem israelischen Flugzeug auf der Strecke Tel Aviv – New York transportierten infizierten Mücke in die USA eingeschleppt wurde. Die ersten Anzeichen waren Vögel, die tot von den Bäumen des Central Parks fielen. Bald steckten sich ältere Menschen in der Gegend an und erkrankten. Eine Ärztin aus der Bronx mit Tropenerfahrung glaubte, das West-Nil-Fieber zu erkennen, und verständigte forschende Militärärzte, die den Verdacht bestätigten. Seitdem breitet sich das Virus auf dem ganzen nordamerikanischen Kontinent aus.

Monster - 404Zeugnis einer hart erkämpften Rückeroberung eigener Fähigkeiten

Die rechte Hand nutzlos, geriet Ferris in die Schreibschule des Art Institute of Chicago, weil ihr klar wurde, dass sie sich auf eine andere Tätigkeit verlegen musste. Zeichnen war eine manchmal berghohe Anstrengung. Das Buch ist so auch das Dokument einer Rehabilitation, das Zeugnis einer hart erkämpften Rückeroberung eigener Fähigkeiten und Ausdrucksmittel. Sechs Jahre Arbeit stecken in den gut 400 Seiten – dies ist erst der erste Band.

Und, Junge, Ausdruck hat es. Aber zuerst muss gesagt werden: Panini Comics hat sich hier nicht lumpen lassen. Die Ausstattung ist erstklassig. Der Aufwand für die deutsche Ausgabe war enorm. Zum einen richtig viel Text, mehr als sonst in einem Comic. Zum anderen musste viel handgelettert werden, weil der Text oft mit den Zeichnungen verschmilzt, nur selten in eigenen Blasen steht und viele Retuschen nötig waren. Alessio Ravazzani (Lettering) und Torsten Hempelt (Übersetzung) haben hier einen bemerkenswert guten Job gemacht.

Das überformatige Softcover-Buch kommt wie eine Kladde daher. Blau liniertes Ringbuch mit Ausreißseiten. Fast jede Doppelseite hat eine andere Konzeption: Mal gibt es großflächige Bildpoesie, mal Dioramen mit Nebenelementen, mal mangaeske Bildexplosionen, mal normale Grids, mal Filmsequenzen, mal Bild- und Textkästen auf der Seite, mal alles integriert. Oft ist es, als würde man einem Feuerwerk beiwohnen oder durch ein Kaleidoskop geschüttelt.

Erzählt wird im Tagebuch-Stil: Kugelschreiber, Blei- und Farbstift auf liniertem Schreibpapier, die Farben sehr dosiert eingesetzt. Die Zeichnungen wechseln von kindlich anmutendem Gekritzel zu allerlei Comic- und Zeichnungstil bis zur klassischen Radierung oder witzigen Crossovers. Expressionistische Bildwelten scheinen auf, Echos von Otto Dix und George Grosz. Bis hin zu Robert Crumb. Nebenbei ist es auch eine Exkursion in die klassische Bildwelt.

monsters_InhaltVerschränkte Erzählebenen zuhauf

„Eigentum von Karen Reyes“ steht auf der Vorsatzseite, im Innendeckel eines aufgeklappten Kofferplattenspielers. Auf dem Plattenteller liegen „The Troggs“ mit „Wild Thing“. Im Textfeld steht: „Ich drehte die Platte ganz laut auf, weil es nämlich …“/ Doppelseite mit regendüsterer Stadtsilhouette: „… Kacke gewesen wäre, wenn … … Mama mich dabei erwischt hätte …“ Dann erleben wir über die nächsten zehn, zwölf Seiten, wie der Erzählerin die Knochen länger werden und sich die Gelenke dehnen, wie das Nachthemd in Fetzen reißt, wie sie draußen schon den Mob hören kann … und wie sie, obwohl es wehtut, glücklich ist, den Kopf in den Nacken wirft … und schreit… und schreit … „Awoooooooooooooooo… Aaaaaoooooooo …“

Kurz, wie das zehnjährige Mädchen Karin Reyes zum Werwolf-Monster wird. Wie sie in dieser Verwandlung ihrer Welt standhält und sich ihren Platz darin sucht. Wie sie den Mord an einer alten Nachbarin namens Anka Silverberg, die den Holocaust überlebte, aufzuklären sucht. Wie die Geschichte uns zurück in das Deutschland der Nazi-Zeit führt, wie sich das Heute und das Gestern verschränken, wobei die Gegenwart die der politischen Unruhen der späten 1960er in Chicago ist.

Sie wirft sich den Trenchcoat ihres Bruders Deeze über, wird zum Detektiv und zum Spion, zur Ermittlerin. Gleichzeitig entdeckt sie die Kunst als Lebensmittel, entflammt sich für die Malerei im Art Institute of Chicago, vertieft sich in die Gemälde, erfindet Geschichten dazu – und sehr komische Interpretationen. Natürlich darf in solch einem Buch Johann Heinrich Füsslis „Nachtmahr“ von 1781 nicht fehlen (als Henry Füssli). Es gibt „Washingtons Überquerung des Delaware“ von Emanuel Leutze, George Seurats „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“, Suchspiele mit Bildern in Bildern, etwa in Jacob Jordaens „Versuchung der Magdalena“.  Einmal steht über einem Gebäudetor „MacGuffin-Portal“.

Monster - 3monstr FaveMonster1Die Schrecken der Kindheit und die Freuden des Grusels

Daneben, durch den ganzen Comic verstreut, gibt es  Monster aus Trash-Horrorfilmen und ganzseitige, nachgezeichnete Titelbilder von Horrorheftchen aus den 1960ern, Zeugnisse der Popkultur: etwa „Ghastly“ mit „Fluch der Zigeunergruft“, „Kuss des Hexers“, „Zwillingsmord im Kinderhort“, „Höllenweiber des Infernos“, „Lynch’s True Terror Tales“ mit „Heimsuchung vom Himmel“, „Labor des Todes“, „Kaufhaus des Schreckens“, „Angriff der Aalwesen“ oder „Creatures of Movieville“ mit „Des Teufels Picknick“ oder „Das Jahr im Rückblick“.

Es wimmelt von Monstern. Aller Couleur. Auch das Kaninchen von Alice schaut vorbei.

Monster - 395Emil Ferris verbindet die Schrecken der eigenen Kindheit, die Lebensschicksale von Familienmitgliedern und Freunden, die eigenen Entfremdungsgefühle als junges Mädchen, die Schrecken des ersten Grundschultages und des Erwachsenwerdens mit denen des Reichstagsbrands und des Holocaust, sinniert über die menschliche Existenz. Muss der Mensch des Menschen Wolf sein? Muss er das? Wäre es dann nicht besser, gleich ein Werwolf zu sein und die bösen Emotionen in sich zuzulassen und zu akzeptieren? „Wenn ich ein Heiliger sein kann, dann kannst du auch eine Detektivin werden“, sagt ein mit allerlei Reliquien ausgestatteter Werwolf zu Karen. Monster sind die besseren, weil bewussteren Menschen, lernen wir.

Emil Ferris’ Mutter war eine Schönheit, und die Tochter erlebte, wie eben das sie zum Objekt und zum Ziel männlicher Gewalt machte. Sie selbst wollte nie Frau werden, aber auch kein Mann. „Ein Monster zu sein, schien da die beste Möglichkeit“, sagt sie heute. 

Als sie acht Jahre alt war, bekam sie von ihrer Großmutter in New Mexico die illustrierten Dickens-Romane von Colliers, voller alter Stahlstiche. Das wollte sie nachempfinden, als sie an die Arbeit ging: Geschichten und Zeichnungen mit Atmosphäre, mit ihr selbst als Werwolf-Mädchen in der Hauptrolle.

Erzählerisch ist das Buch sprunghaft und frei, anspruchsvoll. Coming-of-Age-Story, Zeitgeschichte, Kriminalroman, Seelen- und Kulturforschung. Familientragödie und Monsterwelten überschneiden und verschränken sich. Wenn man sich die Kandidaten auf die Great American Novel auch als Comics vorstellen kann, dann ist „Am liebsten mag ich Monster“ ein Anwärter. Großes Buch.

Alf Mayer

Emil Ferris: Am liebsten mag ich Monster (My Favorite Thing Is Monsters, Volume One, 2017). Aus dem Amerikanischen von Torsten Hempelt, Lettering von Alessio Ravazzani. Panini Comics, Stuttgart 2018. Softcover, 420 Seiten, 39 Euro.

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