Geschrieben am 1. August 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2021

Geschichte, im Bild

Mobilmachung des Auges

Elin Fredsted und Alf Mayer über zwei Bücher von Gerhard Paul

Erin Fredsted: Er lehrte und forschte in Kiel, hatte von 1994 bis 2016 die Professur für Geschichte und ihre Didaktik an der Europa-Universität Flensburg inne, versteht die Moderne als visuelles Zeitalter, als eine Geschichte von Bildern wie auch visueller Praktiken. In seinem Opus Magnum „Das visuelle Zeitalter“ analysiert er knapp tausend Bilder aus so unterschiedlichen Bereichen wie Werbung und Propaganda, Wissenschaft und Publizistik, Polizeipraxis und Kriegsführung. In „Bilder einer Diktatur“ fokussiert er sich auf auf 42 Schlüsselbilder zu einer Visual History des »Dritten Reiches«. Teils sind sie ein Ausflug in das persönliche Bildgedächtnis des Autors, teils revidiert er darin Legenden, denen er selbst aufgesessen war.  Offizielle Aufnahmen des Nazis-Regimes stellt er neben weniger bekannte, entschlüsselt Produktions- und Rezeptionsbedingungen und die Zonen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zeigt ikonografische und mediale Regeln auf, setzt immer auch den Bezug zur außerbildlichen Realität und zur Nachwirkung bis in die heutige Zeit. – Beide Bücher finden Sie hier besprochen.

Gerhard Paul: Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des »Dritten Reiches«. Reihe: Visual History. Bilder und Bildpraxen in der Geschichte; Bd. 6. Wallstein Verlag, Göttingen 2020 (2. Auflage). 528 S., 219 zum Teil farbige Abbildungen, 38 Euro.

Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel. Visual History. Bilder und Bildpraxen in der Geschichte; Bd. 1. Wallstein Verlag, Göttingen 2016.Wallstein Verlag Göttingen 2016. 949 überwiegend farbige Abb., Format 19,2 x 25,8 cm. 760 Seiten, 39 Euro. – Verlagsinformationen hier.

Bilder einer Diktatur

Der Historiker Gerhard Paul hat ein beeindruckendes und hervorragend recherchiertes Buch zur Bildgeschichte des ‚Dritten Reichs‘ publiziert. Das Werk verdient Aufmerksamkeit, weil es einerseits neue, bislang kaum beachtete Fotos präsentiert. Andererseits hinterfragt es kritisch die Rezeptionsgeschichte bekannter Bilder und Fotos aus dieser barbarischen Epoche.

Das Buch präsentiert 42 Bilder in chronologischer Reihenfolge von 1932 bis 1945. „Dadurch ‚lesen‘ sich die Texte und Bilder auch als Geschichte des ‚Dritten Reichs‘ und seiner Radikalisierung“ (Paul: 15). Besonders die Bilder aus dem Jahr 1944 mit Schwerpunkten wie Todeszelle und Vernichtungslager gehen unter die Haut. Etwa ein Drittel der Bilder und Aufsätze sind der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung gewidmet (Paul: 15). Der Aufbau der einzelnen Aufsätze folgt einem relativ festen Muster: zuerst eine Bildbeschreibung, danach die erste persönliche Begegnung des Autors mit dem jeweiligen Bild, eine Kurzbiographie des Urhebers (falls bekannt), die Rezeptionsgeschichte, der historische Hintergrund und eine historische Kontextualisierung des Bildes. Besonders die Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte und zur historischen Kontextualisierung bieten oft neue Informationen und eröffnen ungewohnte Perspektiven.

Es handelt sich um ein Werk, das zumindest ich nicht in einem Rutsch lesen konnte. Die Bilder und die Texte regen zum Nachdenken an und lassen sich nicht unreflektiert konsumieren. 

Es wird wohl immer so sein, dass Einzelschicksale tiefer bewegen als die unvorstellbaren Zahlen von Verfolgten und Todesopfern des ‚Dritten Reichs‘; Zahlen werden immer abstrakt bleiben. Die Stärke des Buches liegt darin, dass Einzelschicksale durch Fotos und Zeichnungen ein Gesicht bekommen, aber gleichzeitig für bestimmte Aspekte des Terrorregimes repräsentativ sind. Am meisten bewegt hat mich das Schicksal des 1944 hingerichteten U-Bootkommandanten Oskar Kusch (Paul: 433 ff.), der in seiner Todeszelle seine eigene unmittelbar bevorstehende Hinrichtung durch Erschießen in einer Zeichnung vorausnimmt (in meiner Bildinterpretation auch eine Kreuzigungsszene). Der Prozess, der zu seiner Hinrichtung führte, zeigt viele abscheuliche Charakteristika des Nazi-Regimes: Denunziert wurde Oskar Kusch von einem Oberstleutnant, der (nach Aussage Pauls) die Position als Kommandant des U-Boots von Kursch übernehmen wollte. Von einer „Marinejustiz im Blutrausch“ wurde Kusch wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ verurteilt (Paul: 434-435). Der Fall Kusch ist auch ein Beispiel dafür, wie sich der Terror gegen Ende des Krieges immer mehr gegen die eigene Bevölkerung wendet.

Dieses Buch kann eine gute Ergänzung zum Geschichtsunterricht in der 10. Klasse, der Oberstufe und im Geschichtsstudium sein, da Bilder oft gute Anlässe zu Diskussionen im Unterricht abgeben. Aber ich muss hier auch einige kritische Anmerkungen formulieren. Wenige Ungenauigkeiten sind mir aufgefallen (z.B. eine Verwechselung in den Bildbeschreibungen zu Sophie Scholl, S. 385 bzw. 387). Aber das perfekte Buch gibt es nicht! Problematischer ist in meinen Augen der sprachliche Stil, der einer breiteren Rezeption der Aufsätze im Wege stehen könnte. Dies gilt besonders dann, wenn z.B. ein Name als unmarkiertes Dativobjekt einen Satz einleitet (S. 365) oder pronominale Referenzen uneindeutig bleiben (S. 395, 405, 474). Das unnötige Erschweren der Lesbarkeit hätte durch eine gründlichere Lektoratsarbeit vermieden werden können.

Jedoch schmälert dieser Vorbehalt nicht meinen Respekt vor den wissenschaftlichen und bildanalytischen Leistungen des Autors. Das Buch ist zu wichtig, um nicht gelesen und nicht diskutiert zu werden. 

Prof. Dr. Elin Fredsted war 2000-2019 Professor für dänische Sprachwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg. Neben zahlreichen Publikationen zu sprachwissenschaftlichen Themen hat EF auch sprachliche und kulturwissenschaftliche Analysen zur Ideologie und Propaganda des Faschismus publiziert, auf Deutsch u.a. „Die politische Lyrik des deutschen Faschismus.“ In: Text & Kontext 8, H.2. Kopenhagen, München 1980 (S.353-377). (Ausschnitt hiervon nachgedruckt in: Kohrs, Peter: Deutsch in der Oberstufe. Paderborn 1998 (S. 360-362)) und „Bürgerliche Antibürgerlichkeit.“ In: Jörg Thunecke (Hg.): Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Bonn 1987, S.3-27.

Alf Mayer: Das Sichtbare und das Unsichtbare – und alles dazwischen

Gerhard Pauls „Das visuelle Zeitalter – Punkt & Pixel“ ist sein „opus magnum“ und versammelt 949 kommentierte Abbildungen aus so unterschiedlichen Bereichen wie Werbung und Propaganda, Wissenschaft und Publizistik, Polizeipraxis und Kriegsführung. Die Bilder, die wir von historischen Ereignissen in unserem Kopf tragen, sind eine Melange von medialen Repräsentationen, die eine Zeit von sich selbst gemacht hat, und den Deutungen der Nachgeborenen. Jedes Bild enthält eine abwesende und eine anwesende Erzählung, betont Paul. Sein Buch leitet er ein mit einem Satz des Ausstellungsmachers und Fototheoretikers Karl Pawek (1963): „Das optische Zeitalter ist ein Abenteuer, das kaum begonnen hat.“ 

Der Ausstellungsmacher Pawek (u.a. Weltausstellung der Photographie) verfolgte ein Konzept der ungeschönten „Life-Photographie“, welche, im Gegensatz zur künstlerischen Fotografie, die „Realität“ wie einen „Skandal“ wirken lasse. So verstanden sei die Fotografie „eine neue Kontaktstelle unseres Geistes zur Wirklichkeit“. In der Fotografie wirke „der Gegenstand nicht auf Grund seiner Perfektion, seiner Idealität, Moralität oder Ästhetik erbaulich auf den Geist. Der Gegenstand soll den Geist vielmehr in die Dialektik der Konfrontation verstricken und auf diese Weise in Bewegung bringen.“

Den Geist in Bewegung bringt auch Pauls Buch. Dies auf jeder Seite. Der Satzspiegel des überformatigen Bandes entspricht in etwa dem eines normalen Buches, die Randspalte fungiert als Bildleiste und Bildkommentar, das funktioniert verblüffend gut. Die sieben Großkapitel des Buches werden je von einem Schlüsselbild eingeleitet. Das erste ist das Plakat von Franz von Stuck für die „Ausstellung des Menschen“ im Darmstädter Residenzschloss 1912, ausgewählt aus der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Ein großes, stilisiertes Auge – ein Monoculus – schaut uns darauf an. Es wurde zur Medienikone, wurde multimedial verbreitet: als Logo, auf Litfaßsäulen und Postkarten, sogar auf Münzen, noch im frühen Logo des Deutschen Fernsehens schimmerte es durch. Gerhard Paul steht es für den Siegeszug und sich fortsetzenden Aufstieg des Auges zum Sinnesorgan des neuen visuellen Zeitalters. Kein Sinnesorgan war im 20. Jahrhundert bedeutsamer. „Es fokussierte“, so Paul, „die Welt, wie umgekehrt die Welt auf das Auge fokussierte.“ Andere Sinnesorgane verkümmerten, dem Aufstieg des Visuellen korrespondierte der Siegeszug des Sichtbaren, des Augenscheinlichen, der Evidenz.

„Nur das schien fortan wahr und bedeutsam zu sein, was sich dem Auge und seinen technischen Hilfen offenbarte. Erscheinung gerann zum Wesentlichen, das Sichtbare zum Authentischen. Das nicht Augenscheinliche und Verborgene geriet demgegenüber ins Abseits. In der modernen Mediengesellschaft wandelte Politik sich zur ‚Ordnung des Sichtbarkeitsverhältnisses’, der immer auch Unsichtbarkeitspraktiken des Verbergens, Täuschens und Tarnens entsprachen.“

Die Geschichte der visuellen Medien wie der bildenden Kunst ist deshalb für Paul immer auch eine Geschichte des beständigen Aushandelns des Verhältnisses von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. In diesem Spannungsfeld bewegt sich sein enzyklopädisches und kluges Buch. Er seziert uns die Bilddiskurse des Kalten Krieges, verdeutlicht die Mobilmachung des Auges im Ersten Weltkrieg, entschlüsselt die neuen Bildwelten der Kunst und die Großstadt als Wahrnehmungsraum, liest das Jahr 1932 als Kulminationspunkt der Bildpropaganda und des nationalsozialistischen Bildregimes. Er betont: „Ohne seine Bildwelten ist der Nationalsozialismus nicht zu begreifen.“
Es folgt der Exodus der Bildproduzenten, Bilder selbst werden zu Anklägern. Spannend finde ich auch die von Paul verhandelten Bildwelten der Nachkriegszeit, die Bilderlosigkeit der Atombombe, den kriegerisch nach unten gerichteten Blick aus Bomber-Flugzeugen, den Aufstieg des Fernsehens, Wahlplakate, die Mondlandung, Olympia, die Bilder des internationalen Terrorismus ebenso wie die Fahndungsplakate. Auch den Piktogramme meines verstorbenen Mentors Otl Aicher kann man (auf Seite 513) begegnen. Dazulernen kann man in diesem Buch andauernd, so war mir zum Beispiel nicht klar, dass Fritz Lang in „M“ mit seinem kreidegezeichneten Mantel-Mal die zeichenhafte Stigmatisierung zehn Jahre vorweggenommen hat.
Ein Buch, um wieder und wieder darin zu lesen. Und zu schauen.

Alf Mayer
Seine Texte bei uns hier.

Tags : , ,