
„Was andere in der Kunst fanden, fand ich in der Natur,
was andere in der menschlichen Liebe fanden, fand ich in der Natur“

Zwei wegweisende Gedichtbände der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück in der vorzüglichen Übertragung der deutschen Lyrikerin Ulrike Draesner
Es ist eine Lyrikerin, der im Oktober letzten Jahres der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, und diese Verleihung an eine Dichterin ist hochaktuell – ein Signal, dass es etwas Dringlicheres, Fundamentaleres zu bedenken gibt als die Corona-Pandemie, so bedrohlich und verstörend sie für uns auch ist: den Schutz des Klimas und der Umwelt vor der inzwischen schier unaufhaltsam fortschreitenden Zerstörung der Erde, die uns Menschen wie alles Leben trägt, durch uns selber. Diese hohe Ehrung einer Lyrikerin ist ein Erinnerungs-, Mahn- und Weckruf, denn es sind Lyriker gewesen, die die elementare Bedeutung dieses Themas als erste wahrnahmen und artikulierten. Es waren Gedichte, die die Not des ökologischen Naturbewusstseins zum öffentlichen Thema machten. Und in diesem Zusammenhang ist Louise Glück eine der maßgeblichen Dichterinnen unserer Zeit .
Louis Glück – als Enkelin von ungarisch jüdischen Einwanderern 1943 in New York City geboren – ist in einer spezifisch amerikanischen, insbesondere mit den Namen Walt Whitman und Emily Dickinson verbundenen Tradition amerikanischer Dichtung verankert, die um die Erhabenheit der in sich ruhenden Natur und um die (Un-)Natürlichkeit des notvoll ex-zentrisch lebenden Menschen kreist.
Louise Glück führt aus diesem Dualismus heraus. Sie hat die hymnische Naturverklärung der „Grashalme“ – des einflussreichsten Werks von Whitman – ebenso aufgegeben wie seinen Gegenpol, die nahezu autistische Isolation des in sich verfangenen Individuums bei Emily Dickinson. Ihre Verse unterscheiden sich auch von der europäischen, insbesondere der deutschen Naturlyrik mit ihrer metaphysischen bzw. ästhetischen Voraussetzung einer unberührten reinen Naturwelt und der ihr gegenüber kläglichen, ausweglos entfremdeten Kultur und Zivilisation. Sie führt in und mit ihrer Lyrik auf einen Kommunikationsweg mit der Natur und zu einem natürlichen Denken und Handeln. Sie hat eine neuartige Naturlyrik geschaffen, welche die Natur als Leitmedium zu einem freien existenziellen und sozialen Leben sichtbar, sie als Quelle der Erleuchtung einer neuen Leichtigkeit des Seins zugänglich macht.

Das ist eine überraschende neue lyrische Botschaft. Sie korreliert mit neuen wissenschaftlichen Forschungen über die Intelligenz der Pflanzen, die der auf diesem Forschungsgebiet führende Neurobiologe Stefano Mancuso in seinem gleichnamigen Buch dargestellt hat. So verfügen Pflanzen beispielsweise über fünfzehn Sinne mehr als der Mensch, es ist eine Schwarmintelligenz mit Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten, die ihr das Überleben sichern und in den Wurzelspitzen über ein Datenverarbeitungszentrum verfügen, das als beispielhaftes Modell für eine vom Menschen entwickelte Künstliche Intelligenz dienen könnte. Für Mancuso bieten Pflanzen dem Menschen sozusagen den Schlüssel zu einer grünen Zukunft.
Louise Glück „abstrahiert“ freilich nicht von der Natur, die sie auch nie und nimmer – technisch, touristisch. wirtschaftlich – instrumentalisieren würde oder optisch zu Unterhaltungszwecken zu kopieren, zu digitalisieren bzw. fern- und fremdzusteuern gedächte. Die „Naturfilme“ des Fernsehens laufen substanziell in irren Distanzen am Zuschauer vorbei. Für die Dichterin zählen nur unmittelbare, persönliche, echte Erfahrungen in und mit der Natur – so wie es für den großen deutschen Biologen und Dokumentarfilmer Jan Haft ganz konkret und blütenecht bunt und möglichst gleich – egal wie groß oder klein – nebenan „die Wiese“ braucht, damit wir Natur zu sehen und zu verstehen mögen. Sein gleichnamiges Buch exemplifiziert, ganz „down to earth“, wie unersetzlich der reale Kontakt mit der echten Natur für uns ist.
In der Lyrik Louise Glücks sind, um eine Wendung des großen deutschen Naturdichters Wilhelm Lehmann aus den 1950er Jahren abzuwandeln, die Blumen „die Krisis des Menschen“. Als Einstieg würde ich ihr Buch „Wilde Iris“ empfehlen. Es ist wahrscheinlich der in sich rundum geschlossenste Gedichtband seit langem. Als Zentrum hat er einen Garten, in dem wir mit denen, die ihn – wie ein Gärtner – gestalten und pflegen, einander wie die Liebenden begegnen oder allein zu sich finden, an seinen Blumen dem Wechsel der Jahreszeiten beiwohnen und zu einem befreiend neuen Verständnis der bis heute belastenden jüdisch-christlichen Urvorstellungen vom Garten Eden und vom Sündenfall finden.
Gerhard Beckmann
Louise Glück: Wilde Iris (The Wild Iris, 1992). Aus dem Amerikanischen von Ulrike Draesner. Sammlung Luchterhand, München 2008. Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Euro. Lieferbar.
Louise Glück: Averno (Averno, 2006). Aus dem Amerikanischen von Ulrike Draesner. Luchterhand Verlag, München 2007. Hardcover, 174 Seiten, 16 Euro.
Am 9. November 2021 erscheint bei Luchterhand:
Louise Glück: Winter Rezepte aus dem Kollektiv. Gedichte. Aus dem Englischen von Uta Gosmann. Das neueste Werk der gefeierten amerikanischen Lyrikerin.
Jan Haft: Die Wiese. Lockruf in eine geheimnisvolle Welt. Mit Farbfotographien. Penguin, München 2020. 253 Seiten, 20 Euro. CulturMag-Besprechung hier.
Stefano Mancuso und Alessandra Viola: Die Intelligenz der Pflanzen. Aus dem Italienischen von Christine Ammann. Kunstmann, München 2015. 172 Seiten, 19,95 Euro.
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