Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Gerhard Beckmann: Offener Brief in Sachen Nina Gladitz

Offener Brief an WDR-Intendant Tom Buhrow

Betr.: Film von Nina Gladitz: Zeit des Schweigens und der Dunkelheit, WDR, 1982

Sehr geehrter Herr Intendant, verehrter Tom Buhrow,

ich möchte Sie ersuchen, den Dokumentarfilm über Leni Riefenstahl freizugeben, den Nina Gladitz im Auftrag des WDR gemacht hat und der – nach ein oder zwei Ausstrahlungen im WDR – in Reaktion auf das Urteil in einem von Leni Riefenstahl angestrengten Gerichtsprozess vom WDR seit 1982 nicht mehr gezeigt, sondern sekretiert worden ist.

Darf ich Sie bitten, von diesem Dokumentarfilm der jetzt im April 2021 in Schwäbisch Gmünd verstorbenen Nina Gladitz Kopien herzustellen und sie der Öffentlichkeit und wie auch Archiven zur Ansicht und Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Dafür besteht hohes öffentliches Interesse, da der Film heute als wichtige filmische Leistung und als bedeutsames zeithistorisches Dokument angesehen wird.   

Das gilt umso mehr, als der Film ein bedeutendes Beispiel darstellt, dem Andenken der Sinti und Roma, die in deutschen KZ zu Hundertausenden ermordet worden sind, gerecht zu werden. Das würde auch dem erst jüngst seitens der Vertretungen der Sinti und Roma und seitens der Bundesregierung anlässlich von Gedenktagen immer wieder hervorgehobenen Anliegen entsprechen.

Das Urteil des OLG Karlsruhe im Prozess Riefenstahl vs. Gladitz (1984-1988) enthielt einen Ausspruch, dass der Film mit einer strittigen Sequenz nicht mehr vorgeführt werden dürfe. In dieser Sequenz wird – sinngemäß – angeführt, Leni Riefenstahl habe in Kenntnis, dass Sinti und Roma, die in ihrem Film „Tiefland“ als Komparsen mitspielten, nach Auschwitz deportiert würden, zwar versprochen, sich für sie einzusetzen, damit sie nicht deportiert würden. Sie habe aber dafür nichts getan, so dass die Mehrzahl dieser Komparsen in Auschwitz ermordet worden seien.     

Gegen das Urteil ist aus einem Grund keine Revision eingelegt worden  – wegen einer höchstrichterlichen Bewertung: dass dann, wenn ein(e) Filmer(in) sich die Aussage eines Protagonisten im Film „zu eigen“ mache, diese Aussage dann als ihre eigene Aussage zu bewerten sei, und dass dem Filmer damit auch die „Beweislast“ für die Richtigkeit der Aussage obliege. Da diese Sinti- und Roma-Komparsen aus Maxglan jedoch vor der Existenz des KZs Auschwitz zwangsverpflichtet wurden, sei die Aussage im Film objektiv unscharf, missverständlich  oder so nicht zutreffend. Insofern wäre das Argument der Filmerin Nina Gladitz, dass Joseph Reinhardt, genannt „Seppl“, als dokumentarischer Zeuge zu gelten habe, subjektiv.

Wie auch immer man diese schon damals auch in vielen Medien kritisch gesehene Entscheidung sehen mag: Aus heutiger Perspektive ist diese damals vom Gericht als problematisch angesehene Passage ohnehin nicht mehr justitiabel. Als Aussage des Joseph Reinhardt, Opfer des Nationalsozialismus und von Leni Riefenstahl zwangsverpflichteter Komparse, ist sie ohnehin ein historisches Dokument  – Ausdruck eines Zeugen, für den der Begriff Ausschwitz als Synonym für Vernichtungslager stand und der mit Recht geltend machen durfte, dass sich „Tante Leni“, wie er sie nennen durfte, weder für ihn noch für andere Komparsen – mit einer einzigen Ausnahme – eingesetzt habe, um sie vor der Deportation zu bewahren.

Nina Gladitz hat übrigens meines Wissens vom WDR keine Kopie des Films bekommen – obwohl ein Autor nach §25 UrhG Anspruch darauf hat, eine Kopie des Films zu erhalten.

Die Rechtskraft des Urteils endet  – § 197 BGB – nach dreißig Jahren, ist – also spätestens 2018  erloschen. Im Zuge des üblichen Austausches müsste folglich jede Anstalt innerhalb der ARD, eventuell auch das ZDF, die Möglichkeit haben, sich eine Kopie des Films zu beschaffen. Die Erben von Nina Gladitz oder der Nachlassverwalter – vermutlichdie  AG Schwäbisch-Gmünd –  könnten gleichfalls eine Kopie des Films verlangen (auf eigene Kosten, die heute aber gering sein dürften, sofern der WDR noch eigene Rechte an dem Film hat, die aus dem mir unbekannten Vertrag herrühren mögen).

Als Produzent hat der WDR zwar noch ein Leistungsschutzrecht, mit dem er über den Film verfügen kann. Es gibt jedoch heute jedenfalls  keinen überzeugenden  Grund mehr, ihn weiterhin  zu sperren.

Und als öffentlich-rechtliche Anstalt hätte der WDR zumindest eine hohe moralische Verpflichtung, ihn wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Abgesehen von seiner Funktion als historisches Dokument ist er auch ein frühes Beispiel für die notwendige Entlarvung der von Leni Riefenstahl produzierten Lügen, Legenden und des von ihr gepflegten Mythos. Als der historischen Forschung, der Geschichte und Zeitgeschichte und Aufarbeitung von Vergangenheit und der öffentlichen Diskussion verpflichteter Sender würde dieser seiner von ihm selbst vertretenen Aufgabe der Aufklärung und Aufarbeitung gerecht werden, statt sich ungewollt noch postum den langjährigen Interessen Riefenstahls an der Vertuschung ihrer Vergangenheit dienstbar zu erweisen.

Leni Riefenstahl hat, wie man heute weiß, wiederholt öffentlich gelogen. Noch in einem Interview zu ihrem 100. Geburtstag im August 2002 behauptete sie sogar, alle ihre „Tiefland“-Statisten aus Maxglan hätten den Nazismus doch überlebt. In Wirklichkeit waren es nur achtzehn der 53 Sinti und Roma, wie Nina Gladitz  in ihrem 2020 erschienenen grundlegenden Buch „Leni Riefenstahl – Karriere einer Täterin, Zürich 2020“ belegt hat. Wie fälschlich Riefenstahl im eigenen Interesse mit der Wahrheit umging, konnte man auch dem Arte/Spiegel-TV-Film von Michael Kloft entnehmen.

 Der – formal begründete – Einwand des Karlsruher OLG-Urteils hat sich sachlich als falsch und unhaltbar erwiesen. Im Lichte des öffentlichen Interesses an dem Film kann dem damaligen Einwand des Gerichts heute ohnehin keine relevante oder rechtliche Rolle mehr zukommen.

An der Freigabe des Films besteht auch deswegen ein  nachhaltiges Interesse, weil Nina Gladitz dort auch mit Josef Reinhardt, Offenburg, gen. “Seppl“ – einem Musiker aus der Reinhard-Sippe, mit anderen Sinti und Roma aus der näheren Verwandtschaft sowie weiteren Überlebenden Interviews über deren Schicksal namentlich in den KZs Maxglan bei Salzburg und Marzahn-Berlin geführt und verfilmt hat. Eine Archivierung und Vorführung dieser Aufnahmen ist – auch im Rahmen der  Antiziganismus-Forschung relevant –  und das  Interesse an ihnen weiterhin sehr hoch, zumal in Heidelberg, Marburg, Dachau und an vielen anderen Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen solche filmischen Zeitzeugen-Berichte essentiell  sind. Davon gibt es, wie z. B. ein jüngstes historisches Werk aus dem Wallstein-Verlag zeigt, ja nicht so viele.

Das erscheint als umso wichtiger, als Leni Riefenstahl selbst aus der Urfassung des Films „Tiefland“ vor der Uraufführung 1954 die Mehrzahl der Aufnahmen von Sinti und Roma-Statisten getilgt hat.

Der WDR täte gut daran, sehr geehrter Herr Intendant, er würde seiner Pflicht als öffentlich- rechtlicher Sender nachkommen, den Film von Nina Gladitz, der meines Wissens seit 1982 nicht mehr gezeigt wurde, jetzt öffentlich zugänglich zu machen. Ein mit öffentlichen Mitteln produzierter, historisch, filmwissenschaftlich, biografisch wie zeitgeschichtlich wichtiger Film darf nicht weitere 39 Jahre unzugänglich in einem öffentlich-rechtlich geführten und dank öffentlicher Mittel unterhaltenen Archiv verwahrt und der interessierten Öffentlichkeit vorenthalten bleiben.

Mit freundlichen Grüßen

Gerhard Beckmann  

 Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier.

Siehe auch besonders seine Rezension: Nina Gladitz gegen Leni Riefenstahl, in CulturMag April 2021.

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