
Welch ein großartiges Vergnügen
Hier und heute muss nun ein welthistorisches Ereignis in Erinnerung gerufen werden, das bisher von niemand gebührend aufgegriffen worden ist: nämlich dass vor anderthalb Jahrhunderten ein neues Tourismus-Zeitalter angefangen hat. Und dieser Event, der – genau gesagt, am 8. Juni 1867 – im Hafen von New York City stattfand, als das erste für Übersee-Fahrten ausgerüstete Kreuzfahrtschiff der Welt lzur ersten Luxus-Vergnügungsreise über einen Ozean auslief – wäre vermutlich komplett untergangen, wenn da nicht ein bemerkenswerter junger amerikanischer Journalist gewesen wäre, der an der denkwürdigen Kreuzfahrt teilgenommen hätte.
Seine aufmerksamen, unkonventionellen Zeitungsberichte erregten Aufsehen und wurden dann in einem Buch zusammengefasst, das heute noch zu den interessantesten und meist gelesenen Reiseberichten aller Zeiten zählt. Der dazumal noch ziemlich unbekannte junge Journalist wurde ein weltberühmter Schriftsteller. Er heißt Mark Twain. Und der Hamburger mare Verlag hat dem hiesigen Lesepublikum mit diesem Buch nun obendrein eines der schönsten Buchereignisse des Jahres präsentiert. Er hat erstmals die Urfassung dieser Reportagen in einer (vorzüglichen) deutschen Übersetzung veröffentlicht – so, wie sie in den Zeitungen ursprünglich herauskamen. Hier sind manche Dinge so frank und frei beim Namen genannt dass es (auch heute noch) bis an die Grenzen der Pressefreiheit geht, oder sie sind so höllisch heiter ironisch an den Mast gehängt worden, dass die Lektüre wie ein Freibeuter-Erlebnis wirkt. Noch dazu ist diese Publikation ein ganz besonderes Geschenk an alle Freunde Mark Twains. Denn so ungeschützt, so offen und ehrlich aneckend, so aufrüttelnd hat Mark Twain dann nie mehr wieder geschrieben (nachdem wohlmeinende Freundinnen und Freunde ihm erklärten, dass ein bedachtsamerer Umgang mit gewissen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten literarisch empfehlenswert sein könnte).

Mark Twain war von Hause aus durch und durch Reporter. Er hatte genau den richtigen Blick, um gleich zu kapieren, dass da im Hafen von New York City etwas Sensationelles vor sich ging, etwas völlig Neues, eigentlich etwas Verrücktes. Bis dahin hatten Fahrgastschiffe ja immer als bloße Verkehrsvehikel gegolten. Sie waren dazu dagewesen, Menschen aus wichtigem Anlass schnellstmöglich von einem Hafen zum anderen zu befördern. Hier aber war ausgerechnet einer der populärsten Erweckungsprediger des Landes … der wortgewaltige presbyterianische Geistliche Henry Ward Beecher, ein Bruder Harriet Beecher-Stowes, der noch berühmteren Autorin des Sklavenbefreiungs-Romans „Onkel Toms Hütte“ – auf die revolutionäre Idee einer fünfmonatigen Vergnügungsreise für prominente Persönlichkeiten verfallen. Zur Teilnahme an dieser erste Pauschalreise nach Übersee gab es nur eine einzige Vorbedingung: einen hinreichend gefüllten Geldbeutel. Die Sache wuchs sich zu einer PR-Aktion mit gewaltigen Echo-Wellen für den Prediger aus. Weiß Gott, wie viel Prominenz schließlich kund und zu wissen getan hat, mit dabei sein zu wollen.

Und wie bei all solch modernem Hype kam auch dabei ein Novum an Technik und Technologie mit ins Spiel. Im Schiffsbau hatte bis dahin kein Konzept für einen im Sinne solcher Reisen geeigneten Passagierdampfer existiert. Und die „MSS Quaker City“, die im Juni 1867 auslaufen sollte, war nicht mal ein Passagierschiff gewesen. Der Seitenrad-Dampfer war als Transportschiff entworfen, gebaut und genutzt worden, bis zum amerikanischen Bürgerkrieg, als Abraham Lincoln ihn charterte, mit mächtigem 20-Pfünder-Geschütz ausrüstete und als Kriegsschiff mobilisierte – zur Handelsblockade gegen Häfen der Südstaaten an der Atlantik-Küste. Nach Kriegsende wurde er von der US-Navy versteigert. Ein Reeder war als Investor mit dem Plan aufgetreten, es zu einem Komfortschiff mit großem Speisesaal und 35 Kabinen umzubauen, und dieser Investor hatte Henry Ward Beecher dann zur Verwirklichung eines lang gehegten Traums animiert, nämlichzu einer Reise ins Heilige Land und an bedeutende historische Kulturstätten am europäischen Mittelmeer. Die Schirmherrschaft übernahm seine Kirche. Mark Twain stellte auch hier wieder sein scharfes Gehör für ein Knistern im Gebälk zwischen Anspruch und Wirklichkeit unter Beweis und schloss sofort einen hochdotierten Vertrag mit großen Zeitungen ab.
Dabei lag er richtig. Denn da hatte wirklich eine ganze Menge überhaupt nicht zusammengepasst. Die Kreuzfahrt war, wie es im Abschlussbrief an seinen Redakteur beim „Herald“ hieß, als „Vergnügungsreise“ beworben worden, doch auf hoher See waren Bequemlichkeit nd Lebenslust an Bord des Seitenrad-Dampfers vorne bis hinten Mangelware – weil „wir fünf Monate lang ständig“ so unter der Heimsuchung von „Stürmen und Gegenwind“ zu leiden hatten, dass es bei den Glaubensschwächeren außer der Seekrankheit offenbar gar zu sinkendem Gottvertrauen auslöste. Für eine genussvolle Kreuzfahrt brauchte es eben doch mehr als die 75 Meter-Längen-Technik eines ursprünglichen Anderthalb-Tonnen-Transporters. Und der komplette Storno von Buchungen aus dem prominenten Bildungsbürgertum mit all seinen gesellschaftlichen Fähigkeiten hatte außerdem einen akuten Stimmungsabfall zur Folge. Die mitreisenden Landeier waren gesetzte Herrschaften zwischen fünfzig und siebzig Jahren sowie eingerostete ältere Junggesellen, so dass der „Vergnügungsdampfer“ zu einer Friedhofskirche und die „Vergnügungsreise zu einer Beerdigungsprozession ohne Leiche“ verkamen.

Die Landgänge wiederum brachten ans Licht, dass seitens der Passagiere keinerlei kulturelle, mitmenschliche oder religiöse Aufgeschlossenheit und ehrliche Interessiertheit gegeben waren. Zum Vorschein kam ein typischer triumphaler touristischer Imperialismus, wie er auch heute, und nicht nur bei US-Weltreisenden, gang und gäbe ist. „Überall starrten uns die Menschen an, und wir starrten zurück. Wir gaben ihnen auch meist das Gefühl, unbedeutend zu sein, ehe wir mit ihnen fertig waren, denn wir blickten mit amerikanischer Größe auf sie herab, bis wir sie zurechtgestutzt hatten. Wir alle stammten aus dem Landesinnern und Reisen war etwas absolut Neues für uns, wir benahmen entsprechend unseres angeborenen Instinktes und ließen uns weder von Förmlichkeiten noch von Konventionen zügeln. Wir sorgten dafür, allen klarzumachen, dass wir Amerikaner waren – Amerikaner!“
Mark Twain hebt dabei allerdings keinen von oben herab belehrend moralischen Zeigefinger. Er findet vielmehr einen Weg, um die Leser wirklich mitzunehmen. Er schreibt keine professionell gedrechselten „Reportagen“. Er spricht einfach zu ihnen, von Herz zu Herz sozusagen, er zieht sie ins Vertrauen, indem er ihnen quasi formlos „Briefe“ schreibt, in denen er gleichsam direkt zu Papier bringt, was ihm vor Augen und zu Ohren und dabei in den Sinn gekommen ist, inklusive mancher persönlicher Marotten. Das alles wirkt so, als mache er intime persönliche Mittelungen, wie wenn sie auf der Reise neben ihm herliefen. Es ist diese Entwicklung einer hohen Kunst des Informellen, welche, wie ich behaupten möchte, Mark Twain zu einem herausragend glaubwürdigen, intuitiv überzeugenden authentischen Schriftsteller gemacht hat. Er hat es hinbekommen, dem Leser daheim klar und anschaulich zu machen, dass er selbst, so wie er als Amerikaner nun mal ist, als Tourist „ins Ausland“ reisen müsste, um erfahren zu können, „zu welch ausgewachsenem Esel er werden kann“.

Wer ein famoses Beispiel für solch exzellente Art des Erzählen sucht, möge die Briefe dieses Bandes lesen, in denen Mark Twain die unglaubliche amerikanische Borniertheit seiner Mitreisenden bei einem Besuch der russischen Zarenfamilie in deren Sommerresidenz am Schwarzen Meer ins Visier nimmt. Seine Darstellung wird zu einem nahezu surrealistischen Meisterstück. Er schildert, wie die US-Bürger in ihrem Selbstbewusstsein, die Krone der Schöpfung der Schöpfung auf Erden zu sein, dem geschichtsträchtigen, machtvoll inthronisierten Herrscher nebst Großfürsten und First Ladies aller Reußen gegenübertreten als seien sie mit ihnen in Augenhöhe aufgewachsen und seit Jahren auf Du und Du. Und die auf ihrem isolierten Sommersitz weltfremde Zarenfamilie gewinnt den Eindruck, als ob diese spießbürgerlichen Normaltypen die hochoffizielle diplomatische Legation des Weißen Hauses sei, die mit Ehrerbietung und Kusshand zu würdigen wäre.
So stellt Mark Twain alles bloß und klar– die Schönfärberei der Reiseführer, die Heucheleien der frömmelnden Fetischisten an heiligen Stäten, die morschen Kartenhäuser der in den USA seiner Zeit angehimmelten europäischen Kulturwelt, das Elend und Hungerleid ihrer Armen, den horrenden Zerfall von Macht und Ordnung im Reich des kranken Mannes am Bosporus, unter dem das Heilige Land zu einer unfruchtbaren, menschenleeren Wüstenei verkommen ist. Er ist wie ein Augenöffner, der die wahren Zustände Europas und des Nahen Ostens mitsamt dem Hype zu Beginn des Massentourismus vor rund anderthalb Jahrhunderten ins Tageslicht rückt.
Dieses Buch hebt jedoch noch viel mehr ins Bewusstsein. Insbesondere dreierlei. Zum einen, wie insbesondere mit dem Pauschaltourismus jedes Bewusstsein von Geschichte als einer lebendigen Geschichte von Menschen in die Binsen geht und die Geschichte damit ihren Sinn verliert. Zum anderen, wie die historisch gewachsene Welt musealisiert und in kleine Teile zerstückelt wird. Und drittens macht Mark Twain hier immer wieder eine problematische Realität zum Thema, die uns heute des Bodens unter den Füßen beraubt. Es ist das problematische Verhältnis unserer Moderne zur Geschichte überhaupt. Wir sehen und wissen nicht mehr, woher wir kommen.
Gerhard Beckmann
Mark Twain: Unterwegs mit den Arglosen. Die Originalreportagen aus Europa und dem Heiligen Land (Traveling with the Innocents Abroad: Mark Twain’s Original Reports from Europe and the Holy Land, 1869). Übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Mare Verlag, Hamburg 2021. 528 Seiten, Leinen im Schuber, 44 Euro.
Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier.