
Wie noch eigene Verantwortung übernehmen?
Hazel Rosenstrauch reist mit Gaspard König in die Welt der Künstlichen Intelligenz
Es führt kein Weg an der KI (AI) vorbei. Auf der Suche nach Aufklärung geriet ich an Gaspard Koenigs philosophische Reise zu “Wissenschaftlern, Politikern, Unternehmern, Investoren und Aktivisten” (und bin ein wenig befriedet, weil Texte über die technologische Zukunft nicht nur im Netz, sondern noch oft in Buchform erscheinen). Koenig ist Philosoph und Franzose, ebenso viel wie über Automatisierung und Superintelligenz erfährt man über philosophische Grundbegriffe und sehr viel ältere Auseinandersetzungen über den freien Willen. Er ist weder Gegner noch Befürworter von KI, das Buch ist der Versuch, “die eigene Epoche zu verstehen, ohne sie zu verfluchen”. Auf seiner Weltreise – physisch, ins Silicon Valley wie nach Peking, Tel Aviv oder Kopenhagen und in einer “kleinen Ortschaft von 6 Millionen Einwohnern” – ist er seinen Gesprächspartnern gegenüber gesessen. Er beschreibt die Kleidung, die Räume und die Situation, in der er sich findet und befindet, er lernt auch die Codes, an die man sich unbedingt zu halten hat, denn “die Etikette im Silicon Valley steht der Etikette an den Höfen von einst um nichts nach”. Erstaunlich, wen er alles trifft und wie viele Menschheitsthemen berührt werden. Es geht um Optimierung, um Ethik, um Effizienz und um den Respekt vor der Person, um User, die sich längst an automatisierte Empfehlungen angepasst haben oder sich wie Roboter verhalten und auch um “digitale Selbstverteidigung”, aber erst gegen Schluss des 360 Seiten dicken Buchs.
Man erfährt viel über die Logik der Algorithmen, über Glücksversprechen und Gefahren, Organisationsprinzipien chinesischer oder US-amerikanischer Firmen, und über die Phantasien von einer perfekten Gesellschaft, aber Koenig räumt auch mit Vor-Urteilen auf: Technologie zerstört nicht nur, sie schafft auch neue Arbeitsplätze. Er erklärt, wie die Verführung mittels “nudge” [Stups] funktioniert, das Dilemma zwischen Überwachung und wirtschaftlichem Wohlstand, und wie die Zahl der likes oder retweets auch ihn “in einem Zustand künstlicher Überreiztheit” hielt . Immerhin hatte er es auf 20 000 Follower gebracht, der “Gott” genannte Chinese, von dem er hundert Seiten später berichtet, hat 50 Millionen Follower.
Die Sammlung von Fragen, Themen, Belegen und auch Zweifeln ist imponierend, der Weltrasende findet Hoffnungsträger in Israel, wo eine “kreativen Elite” mit eigenem Urteilsvermögen kultiviert wird, buddhistisch inspirierte Wege, um Willensfreiheit und KI miteinander zu verbinden und Vorschläge wie “eine digitale UNO” und einen anderen Umgang mit der Nutzung unserer ganzen Datenernte im Tausch gegen kostenlose Services von zweifelhaftem Wert”.
“Es ist erstaunlich, dass wir den digitalen Feudalismus so passiv erdulden”, heißt es nach 350 Seiten, danach werden wir mit Heldinnen wie Margrethe Vestager bekannt gemacht, die für ein europäisches Modell kämpft, das sowohl dem amerikanischen Utilitarismus wie dem chinesischen Kollektivismus etwas entgegensetzen soll. Ich staune, weil erst nach über 300 Seiten Strategien diskutiert werden, was die Maschinen können sollen und was nicht, wie man sein Privatleben schützen und die Verantwortung für die Verfügung über Daten übernehmen könnte, etc. – Fragen, die die Open Source Community seit Langem, um nicht zu sagen von Anfang an, auf dem Bildschirm hatten.
Zurück zum Thema Willensfreiheit und Determinismus, denn die Frage des Bruchs mit Aufklärung und Vorstellungen von Autonomie des Individuums zieht sich als roter Faden durch die vielen spannenden Gespräche und – bei aller Bereitschaft, die Entwicklung wissenschaftlich zu betrachten – auch durch die Sorge, dass Fortschritt von der gesammelten Datenmenge abhängt. Als Konsequenz daraus könnten “unweigerlich autoritäre Länder im Vorteil” sein. Er reflektiert immer auch seine eigene Prägung und Vorurteile: “Ich bin im Schatten der Fukuyama-Doktrin aufgewachsen, die wirtschaftlichen Wohlstand und individuelle Freiheit miteinander assoziiert. Mir wurde immer erklärt, dass das eine ohne das andere nicht geht …” , und rekurriert auf Michel Foucault, der bereits Ende der 1960er Jahre befand, “dass dem Individuum nach und nach die charakteristischen Eigenschaften” genommen werden, “die ihm die Moderne verliehen hatte: Einzigartigkeit, Autonomie, Verantwortung”.
Koenig hat das Buch geschrieben, bevor Unterbrechungen des Fortschrittsglaubens wie Krieg, Pandemie und brennende Landschaften nahe waren, die Frage, was passiert, wenn kein Strom fließt, wurde da noch nicht gestellt.
Hazel Rosenstrauch
Gaspard Koenig: Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz. Aus dem Französischen von Tobias Roth. Galiani Berlin, Berlin 2021. Gebunden, 400 Seiten, 24 Euro.
Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.