Geschrieben am 3. Oktober 2022 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2022

Gaetano Biccari: Pasolini lesen

Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag hier das Vorwort von Herausgeber Gaetano Biccari zum Band Pasolini „in persona“.

Pier Paolo Pasolini: in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse. Wagenbach, Berlin 2022. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Gaetano Biccari. Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker u. a. Klappenbroschur, 208 Seiten, viele Fotos, 22 Euro.  

»Wer es so weit schafft, interviewt zu werden, ist kein normaler Mensch mehr: Er ist objektiv und subjektiv gesehen ein Dissoziierter und im eigentlichen Sinne des Wortes auch schizoid. Er ist objektiv und subjektiv lächerlich.«

Dieses Zitat Pier Paolo Pasolinis entstammt dem »Vorwort des Interviewten (absolut zu lesen)«, das Pasolinis Gesprächsbuch mit Jean Duflot eröffnet. Sein Unbehagen ist nicht ohne Koketterie. Denn Pasolini hat im Laufe seines Lebens als Dichter, Romancier, Filmregisseur, Kulturkritiker, Dramatiker, Zeichner und öffentlicher Intellektueller sowohl traditionellen Printmedien als auch Rundfunk und Fernsehen mindestens dreihundert Interviews gegeben – »Aber nur aus reiner Schwäche, weil ich nicht nein sagen kann, weil ich denke, es wird dem Interviewer von Nutzen sein.« 

Warum aber klagt Pasolini so sehr darüber, interviewt zu werden? Sind solche Gespräche für ihn wirklich nur ein notwendiges Übel? Und was könnte ihr Nutzen sein? Diese Fragen gaben Anlass zu vorliegendem Band: einer möglichst repräsentativen Auswahl von Interviews, die Pasolini zwischen 1958 und 1975 den unterschiedlichsten Medien gewährt hat – und die hier zu einem Großteil erstmals auf Deutsch erscheinen. Abgesehen von den wenigen ausführlichen Ge­ sprächen (die bemerkenswerterweise stets von Nicht­Italienern wie Oswald Stack alias Jon Halliday, Jean Duflot und Gideon Bachmann angeregt wurden)2 haben Pasolinis Interviews bisher kaum Beachtung gefunden. Das mag nicht nur angesichts ihrer Vielzahl und bekannten Gesprächspartnern wie Oriana Fallaci, Dacia Maraini oder Ferdinando Camon verwundern. Denn ist der Blick erst einmal dafür geschärft, tauchen Interviews an vielen Stellen in Pasolinis Gesamtwerk auf: Er tritt selbst als Interviewer in Erscheinung – von Menschen an italienischen Stränden, unter anderem des von ihm verehrten Dichters Giuseppe Ungaretti, für seinen Dokumentarfilm Gastmahl der Liebe,3 oder des von ihm ebenfalls hochgeschätzten Lyrikers Ezra Pound. Fiktive Interviews sind Teil von Pasolinis autobiografischem Gedicht Eine verzweifelte Vitalität, des Romans Teorema und des Films La ricotta. Man denke auch an die ständige Befragung der zwei naiven Protagonisten durch den marxistischen Raben (eine Maskierung des Interviewers Pasolini) in seinem Film Große Vögel, kleine Vögel. Sogar ein Selbstinterview zu seinem letzten Film Salò hat Pasolini veröffentlicht – mit erkennbarer Freude an der polemischen Selbstinszenierung als Skandalfigur.4 

Das Interview als Genre an der Schwelle zwischen Literatur und Journalismus, Fiktion und Realität, Inszenierung und Dokument, Performance und Chronik, Intimität und Öffentlichkeit ist im Fall Pasolinis zweierlei. Als Nebensache eröffnen die Interviews einen anderen Zugang zu den Hauptsachen der literarischen, filmischen und kulturkritischen Produktion (an ihnen orientieren sich die Kapitel dieses Buchs lose). Darüber hinaus aber werden sie formal wie inhaltlich selbst zur Hauptsache: Denn Pasolini gestaltet Interviews, Gespräche und das gesamte Spektrum des Autobiografischen (ob in Form von Langgedichten, auf sich selbst verfassten Nachrufen oder quasi­testamentarischen »Wörterbüchern«) immer ganz bewusst. 

Hier versucht er seine widersprüchliche Persona und die sich wandelnden Selbstbilder in Szene zu setzen, verfolgt mit seinen Gesprächspartnern aber auch das Ideal eines demokratischen Diskurses. Dieser verläuft und endet »a canone sospeso«,5 das heißt im radikalen Verzicht auf jedwede dogmatische Setzung. Er sucht im Dialog mit dem anderen die gleichberechtigte Kommunikation offenen Ausgangs, zum Beispiel in den langen geduldigen Gesprächen mit Gideon Bachmann. Das typische, am Schreibtisch durchgeplante Interview als kurzangebundener Frage­Antwort­Schlagabtausch lehnt er ab und tendiert zum Gespräch als work in progress, in dem auch Selbstkor­ rekturen und ­widersprüche seinen Platz finden. In persona zeichnet deswegen die notwendigerweise unscharfen Konturen eines facettenreichen Künstlers und Intellektuellen vor und hinter der Schauspielermaske (der persona aus dem von ihm geliebten antiken Theater). 

In seinem Kampf gegen die Uniformität der Massen­ und Konsumgesellschaft nutzt Pasolini gerade die beliebtesten Formate und Medien jenes Kulturbetriebs, der den gesellschaftspolitischen Diskurs in die Nähe von Unterhaltung und Lifestyle rückt. So kommt es, dass der Freibeuter und Ketzer Pasolini sich im von ihm so verachteten wie immer häufiger besuchten Fernsehen über die Kommunikations­ und Skandalisierungsformen des Mediums auslässt – und sie zugleich bedient. Die Interviews zeigen Pasolini als Medienintellektuellen daher auch in permanenter Auseinandersetzung mit der eigenen Eingebundenheit in eine Öffentlichkeit, die er unerbittlich kritisiert, ja ablehnt, ohne die er aber nicht mehr auskommt. Seine Strategie ist dabei die eines fortwährenden aktiven Widerstandes, für den die physische Präsenz der Autoren­Persona zur notwendigen Bedingung wird: »Ich möchte mich durch Beispiele ausdrücken. / Meinen Körper in den Kampf werfen.«6 Die Mini­Dramen seiner Interviews sind dafür wie gemacht. 

Auch darüber hinaus korrespondiert das Mischgenre Interview mit Pasolinis unverwechselbarer Autorschaft: »Stilistisch bin ich ein pasticheur: Ich verwende das unterschiedlichste stilistische Material (…) Meine Arbeiten sind alle stilistisch unrein, ich habe keinen wirklich persönlich entwickelten eigenen Stil, auch wenn man meinen Stil recht einfach erkennt. Aber man erkennt mich (…) aufgrund der Intensität der ›Verunreinigung‹ und der Vermischung unterschiedlicher Stile.«7 Der »Verunreiniger« Pasolini ist zugleich eine Bestia da stile (so der Titel seiner letzten »bürgerlichen Tragödie«). Die Wendung Stil- bestie ist passend für Pasolinis Hang zur Vermischung von high und low, von Gattungen, Genres, Stilen und Medien. Mit dieser Ästhetik amalgamiert Pasolini seine heterogenen formalen wie inhaltlichen Impulse zu einem Gesamtkunstwerk, das vor allem von ihm selbst und seiner Performance zusammengehalten wird. In den Interviews und Selbstzeugnissen, in denen er sein künstlerisch­publizistisches Wirken authentifiziert, verteidigt oder widerruft, wird dies besonders deutlich. 

Ganz im Sinne der Verunreinigungsarbeit vermischen sich die Hauptsachen von Literatur, Kino, politischen Interventionen und Autobiografischem in Pasolinis Interviews laufend. Die Kapitelzuordnung in diesem Band spiegelt diesen Umstand wider, innerhalb der Abschnitte sind die Texte jedoch chronologisch angeordnet. Eine kurze Einleitung erhellt jeweils den Kontext. 

Die ersten Annäherungen erfolgen über den Blick von außen, Oriana Fallacis Reportage über die längst öffentliche Persona auf New­York­Reise, sowie über die eigene Kindheit, von der Pasolini seiner Freundin Dacia Maraini erzählt. Der zweite Abschnitt widmet sich der »Wunde Italien«: Sie prägt Pasolinis Gesamtwerk und zwingt den Autor zur konstanten Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und anthropologischen Veränderung des Landes durch die Politisierung der Sexualität, die von ihm kritisch betrachtete 68er­Bewegung und den totalitären Neokapitalismus. Schon 1958, kurz nach seinem literarischen Durchbruch mit Ragazzi di vita, zeichnet Pasolini ein düsteres Bild der Konsequenzen, die Konsum und das omnipräsente Fernsehen für Individuum und Gesellschaft mit sich bringen. Das Kapitel Stilbestie nimmt den Literaten in den Blick, dessen Leben »in meinen Büchern« steckt, der seine Autorschaft im Langgedicht Who Is Me. Dichter der Asche und um 1968 seinen Abschied von der Literatur inszeniert – um sich der Arbeit am Kino zu widmen. Pasolini entdeckt den Film als prägnante Sprache der Realität und konkrete Form der politischen Aktion; eine Auffassung, die sein Publikum nur bedingt teilt, wie eine Konfrontation mit Zuschauern beweist. In Verzweifelt lebendig erscheint Pasolini als unbeugsamer Kritiker bürgerlicher Doppelmoral und früher Fußballfeuilletonist. Eine erst postum ausgestrahlte Fernsehsendung, ein ausführliches Gespräch mit dem Journalisten Enzo Biagi und ehemaligen Mitschülern, zeigt schließlich Pasolinis Wunsch nach Verständigung, seine ungebrochene Lust an der Provokation, seinen Witz und seine Lebensbejahung ohne Hoffnung. 

In seinem letzten Interview Wir sind alle in Gefahr sagt Pasolini: »Ich verlange, dass du dich umschaust und dir die Tragödie, die sich gerade abspielt, vergegenwärtigst. Worin besteht diese Tragödie? Die besteht darin, dass es keine menschlichen Wesen mehr gibt, es gibt nur mehr komische Maschinen, die aufeinanderprallen.«8 Der Tragödienautor Pasolini sieht und erlebt am eigenen Leibe, dass die Entfremdung im neokapitalistischen System ein unermessliches Gewaltpotenzial freisetzt; wenige Stunden später wird er ermordet. 

Der Band endet jedoch nicht mit der pessimistischen Prophetie Pasolinis, der aus unorthodox­marxistischer Perspektive Klassenherrschaft und Rassismus, Gender, Migration und Umweltzerstörung analysierte, bevor sie zu zentralen Themen unserer Gegenwart wurden. Das letzte Kapitel des Bandes enthält vielmehr zwei Beiträge, in denen Pasolini sein Nachleben zu Lebzeiten genauso humorvoll und selbstironisch feiert, wie er seine Abneigung gegen Interviews und Gespräche als ein Stück absurden Theaters formuliert. 

  • 1  Pasolini, Der Traum des Centaur. Dialoge 1968–1975, hg. von Jean Duflot, Oberbaum Verlag: Berlin 2002, S. 7 

  • 2  Vgl. Pasolini über Pasolini. Im Gespräch mit Jon Halliday, Folio Verlag: Wien–Bozen 1995; Bachmann-Gespräche. Pasolini. Bachmann. Gespräche 1963–1975, hg. von Fabien Vitali/Gabriella Angheleddu, Galerie der abseitigen Künste: Hamburg 2022 

  • 3  Siehe S. 39 f. in diesem Band 

  • 4  Siehe S. 141–145 in diesem Band 

  • 5  »Manifesto per un nuovo teatro«, in: Pasolini, Il sogno del centauro, Editori 
Riuniti: Rom 1993, S. 134–150, hier S. 137 

  • 6  Die zitierten Verse stammen aus dem Gedicht Who is me. Dichter der Asche, 
S. 59–87 in diesem Band 

  • 7  Siehe S. 117 in diesem Band 

  • 8  Siehe S. 171 in diesem Band 


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