Geschrieben am 1. April 2020 von für Crimemag, CrimeMag April 2020

Frank Schorneck zu Deepa Anappara: Die Detektive vom Bhoot-Basar

Drei Freunde auf Dschinn-Patrouille

„Wie soll ich von einer Frau ein Geschenk annehmen?“, fragt der Polizist. Eine verzweifelte Mutter fleht ihn an, nach ihrem verschwundenen Sohn zu suchen und reicht ihm ihren einzigen Besitz von Wert, eine Goldkette. Mit Anstand und Ehre hat diese Antwort wenig zu tun, denn aus den Händen des Vaters nimmt der Polizist das Schmuckstück allzu gerne entgegen. Diese Szene, die der neunjährige Jai aus einem Versteck heraus beobachtet, verunsichert den Jungen, denn „die Polizisten in Live Crime lassen sich nie bestechen, nicht einmal von Männern.“ Dabei ist die Szene symptomatisch für die Welt in der Jai lebt, eine Welt in der von der Polizei keine Hilfe zu erwarten ist, in der von einem Tag auf den anderen die Bagger anrollen können, um die einfachen Häuser dem Erdboden gleich zu machen.

Die in Kerala geborene und in Großbritannien lebende Autorin Deepa Anappara zeigt uns in ihrem Roman ein anderes Indien als das des folkloristisch-bunten Touristenziels: Leben im Slum zwischen Müllhalden und den Hochhäusern der Mittelschicht, Anstehen in Schlangen vor den öffentlichen Toiletten, die Angst davor, von einem Tag auf den anderen ohne Vorwarnung seine eigenen vier Wände zu verlieren – die Welt ihres neunjährigen Protagonisten Jai erscheint uns fremd und vor allem schrecklich. Doch Anappara findet auch die leuchtenden Farben inmitten von Staub und Dreck, entdeckt die betörenden Gerüche der indischen Küche, die durch den allgegenwärtigen Smog wehen.

Seine Eltern schlagen ihn nicht, sind besorgt um sein Wohlergehen und seine Bildung: Das ist nicht selbstverständlich in einem Basti, einer illegalen Siedlung, in der Jai am Rand einer nordindischen Stadt ein relativ unbeschwertes Leben führt. Als Kinder in der Nachbarschaft spurlos verschwinden, träumt Jai davon, als Detektiv den Fall aufzuklären – wozu schaut er sonst regelmäßig Police Patrol im Fernsehen? Die Methoden der Polizeiarbeit sind ihm jedenfalls bestens vertraut. Aber es ist gar nicht so einfach, seine Freunde dazu zu bewegen, ernsthafte Ermittlungsarbeit zu leisten: Das sind sein bester Freund Faiz, ein Muslim, der bereits auf dem Bhoot-Basar arbeiten geht, und die selbstbewusste Pari, die Klassenbeste, die mit einem Stipendium auf eine bessere Schule gehen könnte. Und weil ein Detektivteam erst mit Spürhund so richtig funktioniert, versucht Jai noch, einen Streuner vom Basar für sich zu gewinnen, den er nach dem Fundort am Essensstand „Samosa“ nennt.

Diese Konstellation des Kinder-Trios irgendwo zwischen Kalle Blomquist, den fünf Freunden oder auch Harry Potter (Pari hat viel von Hermine Granger) lässt den Leser eine eher konventionelle Detektivgeschichte aus Kindersicht vermuten, in der pfiffige Nachwuchsermittler der Polizei bei der Aufklärung eines Verbrechens helfen. Doch die Autorin erfüllt diese Erwartungen nicht. Die „Ermittlungen“ der Kinder geraten schnell zu einem relativ ziellosen Tappen durch den nordindischen Smog. Hier sind keine kleinen Hilfspolizisten am Werk, sondern ganz normale Kinder, die in ihrem naiven Detektivspiel den wahren Dimensionen des Falls nicht gewachsen und sich der Gefahren, in die sie sich begeben, zu keiner Zeit bewusst sind. Zwar halten sie Augen und Ohren offen, stoßen aber dabei kaum auf brauchbare Aussagen oder Spuren, gewinnen dafür jedoch Einblicke in Mechanismen des Slumlebens, ohne sie aus ihrer kindlichen Perspektive wirklich verstehen zu können. Sie sind Beobachter – die Einordnung übernehmen wir als Leser: Der Lehrer kümmert sich herzlich wenig um Anwesenheitslisten in der Klasse. Die Polizei ist alles andere als interessiert an der Aufklärung der Kindesentführungen. Uniformträger kassieren Schmiergelder und drohen damit, die Abrissbagger ins Basti kommen zu lassen. Und Hindu-Prediger versprechen den Armen das Blaue vom Himmel. Nicht nur die kleinen Detektive sind hilflos in ihrem Handeln – auch die Eltern der verschwundenen Kinder werden zu Spielbällen in den Händen korrupter Beamter. Und was ist, wenn hinter den Entführungen gar kein Täter aus Fleisch und Blut, sondern ein böser Dschinn steckt?

Es dauert nicht lange, bis die rechtsnationale Hindu-Partei Hindu Samaj das Verschwinden der Kinder nutzt, um es der muslimischen Minderheit in die Schuhe zu schieben: Erst werden nur Gerüchte über verdächtige Muslime gestreut, dann kommt es zügig zu willkürlichen Verhaftungen und zu Ausschreitungen eines wütenden Mobs. Als sich herausstellt, dass die Verhafteten mit den verschwundenen Kindern in keinem Zusammenhang stehen, heißt das noch lange nicht, dass sie aus der Haft entlassen werden… All das wird sehr authentisch aus der unschuldig-naiven Sicht Jais erzählt, der die herrschenden Ungerechtigkeiten zu keinem Zeitpunkt hinterfragt, obwohl doch sein bester Freund und dessen Familie zu Opfern werden.

Bevor die Corona-Pandemie die Schlagzeilen beherrschte, gab es auch hier in den Nachrichten bisweilen Berichte über Krawalle zwischen Hindus und Muslimen in Indien und den Nationalismus, der in Indien seit Jahren stärker wird. Deepa Anapparas Roman, der nur auf den ersten Blick ein Krimi ist, bringt uns diese interreligiösen Spannungen ebenso unaufdringlich und lebensnah näher, wie die schwierige Stellung der Frauen in der indischen Gesellschaft: Anhand der intelligenten Pari und ihrer sportbegeisterten Schwester Jais werden die engen Schranken der Selbstbestimmung sichtbar.

Deepa Anappara (c) Liz Seabrook

Die Autorin arbeitete in Delhi und Mumbai als Journalistin. Sie erhielt bereits Preise und Auszeichnungen für ihre Arbeiten, in denen sie die Auswirkungen von Armut und religiöser Gewalt auf die kindliche Entwicklung thematisierte. Diese Vergangenheit als sozialkritische Journalistin kann Anappara nicht verbergen in ihrer Kriminalgeschichte aus Kindersicht. Der Blickwinkel ihrer Protagonisten aus Hüfthöhe der Erwachsenen, der in der Menschenmenge manchmal nur Ausschnitte eines Gesamtbildes erfassen kann, ermöglichen auch dem Leser eine neue Perspektive auf Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit: Details rücken in den Fokus, werden emotional greifbarer und weniger plakativ, als es bei einem Blick auf das Große Ganze der Fall wäre.

Doch die Autorin begnügt sich nicht allein mit dieser Perspektive, sie erzählt weitaus vielschichtiger. Mit Jais Geschichte verknüpft sie zwei weitere Erzählebenen: Jedes einzelne der Opfer begleiten wir in den letzten Momenten vor ihrem jeweiligen Verschwinden. Wir nehmen Teil an den Hoffnungen und Träumen des Ausreißers, an den Ängsten des Mädchens auf dem Heimweg – und wir suchen nach der Gemeinsamkeit, die sie alle zum Opfer eines namenlos und gesichtslos bleibenden Etwas macht. Eine weitere Ebene erzählt „Geschichten, die das Leben retten können“ und folgt den Spuren des magischen Realismus von Salman Rushdie: Kann der Geist eines Kinderbandenanführers den verlorenen Kindern zur Seite stehen? Hält der Geist einer Mutter, die Rache an den Vergewaltigern und Mördern ihrer Tochter geschworen hat, die schützenden Hände über Mädchen in Not?

Weil der Kriminalfall auf einer wahren Begebenheit beruht, ist die Auflösung nicht im Übernatürlichen zu finden, sondern verbirgt sich ganz handfest in der indischen Realität. Aber letztlich stehen die Slumbewohner als Opfer ebenso hilflos da, als wenn tatsächlich ein Dschinn ihnen die Kinder genommen hätte. Der Spannungsbogen des Krimis beschreibt eine eher gemächliche Kurve, dennoch bereitet es große Freude, Indien durch die Augen des kleinen, herzensguten, sich selbst aber maßlos überschätzenden Möchtegern-Detektivs kennen zu lernen. Wie sehr man die Helden ins Herz geschlossen hat, merkt man womöglich erst, wenn die Auflösung des Falls für alle Familien und die Freundschaft der Kinder Konsequenzen hat…

Viele indische Ausdrücke hat Deepa Vanappara im Original belassen, es braucht eine Weile, um sich in den Tonfall einzulesen,  wenn Begriffe wie „Didi“ (Schwester oder Frau), „Wallah“ (für Berufsbezeichnungen wie Bügel-Wallah oder Tee-Wallah) oder „Chachi / Chacha“ (was eigentlich Onkel oder Tante heißt, aber in der Nachbarschaft zumindest von den Kindern für so ziemlich jeden Erwachsenen verwendet wird) leicht für Verwirrung sorgen und den Lesefluss zunächst hemmen. Es gibt aber ein hilfreiches Glossar am Ende und natürlich tragen die exotisch anmutenden Begriffe auch mit zur Authentizität des Romans bei. Das einzige Wort, das nicht im Glossar benannt ist, ist der Begriff des „Hifi-Hochhaus“. Es wird zwar deutlich, dass es sich um Wohnblöcke handelt, die mit Sicherheitsdiensten von der armen Bevölkerung abgeschirmt werden – aber gerade, weil man diesen Begriff nicht einfach durch Suchmaschinen im Netz erklärt findet und diese Hochhäuser eine wichtige Rolle spielen, wäre hier für den europäischen Leser eine nähere Erläuterung wünschenswert gewesen.

  • Deepa Anappara: Die Detektive vom Bhoot-Basar. Aus dem Englischen von pociao und Roberto de Hollanda. Rowohlt 2020. 400 Seiten, 24 Euro.

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