Die Bestie lieben
Wäre da nicht dieser kurze Absatz, der dem Roman voransteht, man könnte sich um den Finger gewickelt fühlen von der typisch irisch anmutenden Dorfidylle, die Edna O’Brien zu Beginn ihres aktuellen Romans entwirft: Da ist das verschlafene Örtchen Cloonoila an der Westküste der grünen Insel, wo die Grenzen zwischen dem angelegten Folk Park und dem moderneren Ortskern fließend sind. Und da sind die typischen Charaktere, die ein solcher Ort auch heute noch hervorbringt. Doch es bedarf nur des Auftauchens eines Fremden, um das Dorfleben in Aufruhr zu versetzen: Ein Mann, der sich mit einer Visitenkarte als Dr. Vladimir Dragan vorstellt und als Berufsbezeichnung „Heiler und Sexualtherapeut“ angibt, wird mit gewissem Argwohn, aber auch unverhohlener Neugier betrachtet. Und nach und nach erliegen alle dem Charme des geheimnisvollen Doktors. Selbst den Priester und den misstrauischen Polizisten wickelt er um den Finger – von den Frauen ganz zu schweigen. Mit feinem Humor schildert Edna O’Brien die Annäherung zwischen den beiden Welten, die über Lyriklesungen, ausgedehnte Wanderungen und selbstverständlich den Pub erfolgt. Selbst als Leser schmunzelt man gemeinsam mit dem Fremden über die Naivität der Dörfler und bemerkt erst spät, dass das abgrundtief Böse Einzug gehalten hat im Postkartenidyll. Da hatte man die erste Seite des Buches beinahe vergessen.
Diese erste Seite erklärt den Titel des Romans: Denn vorangestellt ist ein Hinweis, dass am 6. April 2012 in Sarajewo zum Gedenken an die Opfer von Heckenschützen und Artilleriefeuer rote Stühle an der Hauptstraße aufgestellt wurden. Ein leerer Stuhl für jeden Einwohner. 11.541 Stühle. 643 kleine Stühle für die getöteten Kinder.
Der angebliche Sexualtherapeut ist verantwortlich für die Massaker in Sarajewo. Er ist auf der Flucht vor dem Kriegsverbrechertribunal und der Rache seiner Feinde. Als seine Tarnung in Irland auffliegt, ist es für eine Frau bereits zu spät: Fidelma, die in dem charismatischen Heiler die letzte Möglichkeit sah, die Kinderlosigkeit ihrer Ehe zu beenden, trägt nun dessen Kind in sich. Es ist nicht die Polizei, die Fidelma zu fürchten hat, es sind drei Fremde, die eines Abends auftauchen und in dem ungeborenen Kind die Saat des Bösen sehen. Die Lektüre schmerzt beinahe physisch, so schonungslos schildert Edna O’Brien das nun folgende Martyrium der verzweifelten Frau. Mehr tot als lebendig überlebt Fidelma die Rache an Vlads ungeborenem Kind. Auch im Bild des verträumten irischen Dorfes offenbaren sich Risse: Von ihrem Ehemann und der Gesellschaft verstoßen versucht Fidelma, in der Anonymität Londons wieder in ein lebenswertes Leben zurückzufinden. Als Putzhilfe landet sie hier am Rande der Gesellschaft, unter Flüchtlingen und Illegalen, erfährt Unterdrückung am eigenen Leib – aber auch Solidarität. Schließlich nimmt Fidelma all ihren Mut zusammen und reist nach Den Haag, um dem Mann in die Augen zu sehen, den sie liebte und der Tausende Kriegstote zu verantworten hat.
Edna O’Brien gelingt es, die Schrecken des Krieges zu verdeutlichen, ohne explizit Gewalt zu schildern (von der Racheaktion einmal abgesehen). Es sind die inneren Konflikte Fidelmas, die hier im Vordergrund stehen: Wie kann es sein, dass sie eine solche Bestie geliebt hat, dass sie den Sadismus und Skrupellosigkeit unter der Maske des Charmeurs nicht erkannt hat? Und kann es sein, dass sie immer noch Gefühle hegt für einen Verbrecher? Auf der anderen Seite schildert O’Brien intensiv die abgebrühte Mitleidlosigkeit des Kriegsverbrechers, die selbstherrliche Arroganz, die ihn selbst im Gerichtssaal in Den Haag umgibt.
Als Vorbild für diese Figur diente ihr Radovan Karadžić, der wie Dragan seine Gewissenlosigkeit hinter der musischen Fassade des Feingeistes verbarg und nicht weniger als vier Lyrikbände veröffentlichte. Der Roman besitzt aber eine über den Jugoslavien-Krieg weit hinausgehende Allgemeingültigkeit, wenn es um die Mechanismen geht, die die Regeln der Zivilisation außer Kraft setzen, die Nachbarn zu Feinden machen und Liebe in Hass umwandeln.
Frank Schorneck
Edna O’Brien: Die kleinen roten Stühle (The Little Red Chairs, 2015). Aus dem Englischen von Kathrin Razum und Nikolaus Sting. Steidl Verlag, Göttingen 2017. 336 Seiten, 24 Euro.