Geschrieben am 27. April 2013 von für Crimemag, Kolumnen und Themen, Porträts / Interviews

Frank Göhre: Marrakesch (Teil 2)

Marrakesch war ein Paradies der paradis artificiels – folgen Sie Frank Göhre im zweiten Teil (zu Teil 1) seiner Zitatmontage/Reportage auf den Spuren von Jean Genet, William S. Burroughs, Friedrich Glauser und anderen …

Riad Johenna
Das von uns gemietete Riad Johenna hat einen Empfangsraum mit Kochzeile, drei Schlafzimmer auf zwei Ebenen und eine Dachterrasse.

Auf der Dachterrasse serviert morgens um 9 Uhr eine stundenweise angestellte Marokkanerin das Frühstück. Den von uns zusätzlich gekauften Käse fasst sie nicht an. Ist er „unrein“?

Elias Canetti

Elias Canetti

Elias Canetti begleitet uns durch die Souks: „Alle Gelasse und Läden … sind dicht beieinander, zwanzig oder dreißig oder mehr von ihnen. Da gibt es einen Bazar für Gewürze und einen für Lederwaren. Die Seiler haben ihre Stelle und die Korbflechter die ihre. Von den Teppichhändlern haben manche große, geräumige Gewölbe; man schreitet an ihnen vorbei wie an einer eigenen Stadt … Die Juwelieren sind um einen besonderen Hof angeordnet, in vielen von ihren schmalen Läden sieht man Männer bei der Arbeit … Das geht vielleicht hundert Meter so weiter, zu beiden Seiten der gedeckten Passage. Es wird sozusagen alles auf einmal angeboten.“

Hubert Fichte geht Elias Canetti aus dem Weg. Er mag seine Schreibe nicht, nicht die „wehleidige Anhäufung von Adjektiven“.

Männer und Burkatragende Frauen auf Mopeds knattern durch die engen Gassen, hupen und bremsen notfalls kurz ab. Fahrradfahrer schlängeln sich durch den Strom der Passanten. Verkehrsstau auf dem Stück Straße vor dem Platz. Ein Schauspiel der besonderen Art. Ein Schauspiel von allgemeinen Interesse. Wie dicht die Wagen aneinander vorbeimanövriert werden.

Ein Friseurladen. Der Barbier seift Kinn und Wangen dreimal ein, schabt Zentimeter für Zentimeter und prüft mit dem Daumen nach.

Harvey KeitelHarvey Keitel kommt aus dem Hammam. Er hat sein Porträtfoto signiert. Es hängt im Empfangsraum. Harvey Keitel schlendert durch die Souks zurück zum Grand Hotel Tazi. Auf dem Djemma el Fna hört er einem der Geschichtenerzähler zu: „Natürlich gibt es da einen kulturellen Unterschied. Aber wenn Sie zum Mark des Ganzen vorstoßen, dann gibt es keinen essentiellen Unterschied. Hingabe ist Hingabe. Mythologie ist Mythologie, es ist mir egal wo sie herkommt. Die Stories sind andere, aber der Kern ist derselbe.“

Nur ein paar Meter hinter ihm stoppt ein Bus aus Casablanca. Ein neunjähriger, europäisch gekleideter Junge springt heraus: „Marrakesch! Das hört sich an wie ein Getränk!“

Ein dicker Mann in einem schwarzen Anzug folgt ihm. Es ist Alfred Hitchcock. Er ist mit James Stewart und Doris Day angereist. Hitchcock mag keine Kinder. Aber diesmal geht es nicht anders. Nur gut, dass der Junge schon bald entführt werden wird und ihn dann nicht mehr nerven kann.

Alfred_HitchcockAlfred Hitchcock dreht im Juni/Juli 1955 in Marrakesch die ersten Szenen des Films „Der Mann, der zuviel wusste“. Doris Day erinnert sich: „Die Armut und Unterernährung in diesem Land störten mich noch erheblich mehr, als so weit von zu Hause weg zu sein. Ich liebte Mr. Hitchcocks Humor, und natürlich war er immer sehr höflich zu mir, obwohl er, glaube ich, nicht verstand, warum ich nicht so wild auf das Essen in diesem Land war. Er war sehr großzügig und freigebig im Restaurant des Hotels. Er ließ Essen aus Paris und London kommen und bestand darauf, zu jedem Gang den passenden Wein zu bestellen – aber als wir dann die Außenaufnahmen in Afrika zu drehen begannen, fühlte ich mich sehr unglücklich.“

Juan Goytisolo in seiner 19-seitigen Hymne auf den Platz der Gaukler und Fabulierer, der Händler und Enthemmten: „Pyramiden aus Mandeln und Nüssen, getrocknete Hennablätter, Fleischspieße, dampfende Kessel voll Harira [traditionelle Suppe], Bohnensäcke, klebrig glänzende Dattelberge, Teppiche, Handbecken, Spiegel, Teekannen, Nippes, Plastiksandalen, Wollmützen, knallbunte Stoffe, bestickte Gürtel, Ringe, Uhren mit farbigen Zifferblättern, vergilbte Postkarten, Zeitschriften, Kalender, antiquarische Bücher, Merguez-Würste [Lammfleisch], nachdenkliche Hammelköpfe, Olivenbüchsen, Minzebündel, Zuckerbrot, kreischende Kofferradios, Küchengeräte, irdene Tiegel, Kuskustöpfe, geflochtene Körbe, Lederwesten, Saharauitaschen, Flechtarbeiten, Berberkunst, Steinfigürchen, Pfeifenköpfe, Sandrosen, getüpfeltes Gebäck, grell gefärbte Süßigkeiten, Lupinenkerne, Samen, Eier, Obstkisten, Gewürze, Krüge mit saurer Milch, einzelne Zigaretten, gesalzene Erdnüsse, hölzerne Löffel und Kellen, Miniradios, Kassetten von Djil Djilala und Nass el-Ghiwan, Touristenprospekte, Ausweishüllen, Fotos von Pelé, Umm Kalsum, Farid et-Atrasch, von Seiner Majestät dem König, ein Stadtplan von Paris, ein skurriler Eifelturm – “

Man muss tagelang über den Platz spazieren, um all das (und noch mehr) zu registrieren. Und es ändert sich ständig etwas.

Eine Frau liegt schreiend am Boden, schlägt um sich.

Eine Verletzte? Eine Besessene?

Nach und nach treten Leute an sie heran. Es wird beruhigend auf sie eingeredet.

Garküchen

Ab 17 Uhr werden auf dem Djemma el Fna die Garküchen aufgebaut. Holzkohlefeuer werden entfacht. Es wird gegrillt und frittiert. Insider wissen, wo es das beste Essen gibt. Das beste Auberginenmus, den besten Fisch. Kleine Schollen und Calamari. Für 3 bis maximal 5 Euro ist man absolut gesättigt.

Auf dem Rückweg ins Riad ein Stopp bei den Schlangenbeschwörern, den Musikern und Tänzern in farbiger Tracht: „… der Platz der Wunder dürfte sich inzwischen unmerklich zu einer Touristenfalle gemausert haben. Aber für den, der Augen hat zu sehen, besitzt er gegen 6 Uhr abends immer noch eine magische Aura. Marrakesch wird, ins Rot der Dämmerung getaucht, zur Hauptstadt des Bizarren.“

Hans Werner Geerdts

Hans Werner Geerdts

Der in Kiel geborene Maler Hans Werner Geerdts lebt seit 50 Jahren in Marrakesch. Er wohnt nicht weit vom Djemma el Fna entfernt.

Sein Riad mit offenen Innenhof aber ist ausgeräumt. Der 88-jährige „Gee“, wie er von seinen Freunden genannt wird, hat seinen gesamten Nachlass André Heller überlassen. „Gee“ ist bettlägerig. Ein weißes Tuch bedeckt seinen Kopf. Er wird von einem marokkanischen Ehepaar versorgt.

Hans Werner Geerdts schwärmt: „Marokko ist phantastisch. Es hat zwei Meere, ein Gebirge, eine Wüste und fruchtbare Landstriche.“

Riad mit offenen Innenhof

Im Morgengrauen verlassen der Legionär Friedrich Glauser und der Junkie William S. Burroughs auf Kamelen die Stadt. William S. Burroughs ist mit einem Jagdgewehr und mehreren Revolvern bewaffnet. Er will im Atlas Gebirge Schießübungen absolvieren. Dos Passos schließt sich als Berichterstatter an.

Marokko ist seit März 1956 unabhängig und hat eine konstitutionelle Monarchie. 1963/64 führt die Regierung einen Grenzkrieg mit Algerien. 2002 wird Spanien provoziert.

Karte

Am 11. Juli besetzen marokkanische Soldaten die 200 Meter vor der Küste und nur 0,5 km Durchmesser große Isla del Perejil (die Petersilieninsel) „unter dem Vorwand, einen Posten zur besseren Überwachung illegaler Migranten und des Drogenschmuggels sowie zur Abwehr des Terrorismus zu errichten.“ Marokko erklärt zudem die Insel zu seinem Besitz. Das aber widerspricht einer stillschweigenden Vereinbarung aus den Sechziger Jahren. Danach sei geregt, dass die Insel von keinem der beiden Staaten militärisch besetzt werden dürfe. Die marokkanischen Soldaten aber bleiben. Spanien reagiert mit dem Einsatz einer Elitetruppe, sechs Hubschraubern, zwei U-Boten und mehreren Kriegsschiffen. Sechs marokkanische Soldaten werden gefangen genommen, weitere sechs von der Insel vertrieben. Es fällt kein einziger Schuss.

ParadiesgartenEine Fahrt in Richtung Atlas durch die Randgebiete der Stadt. Neubauten und brachliegendes Land. Nicht gefüllte Pools, Tankstellen, unter denen Dächern Eselkarren Halt machen.

Ein Berbermarkt.

Kakteen, Heckenpflanzen und auch Palmen zum Einpflanzen werden angeboten.

23 Kilometer außerhalb von Marrakesch hat André Heller am Fuße des Atlas-Gebirges ein 7,5 Hektar großes Grundstück gekauft, eine frühere Rosenfarm mit fruchtbarem Boden und guter Wasserversorgung. Dort soll ein „Paradiesgarten“ entstehen – und ein Hans Werner Geerdts-Museum.

Marokkos berühmtester Garten aber ist in Marrakesch:

Garten Marrakesch„Fast alle besuchen den Jardin Majorelle, den der französische Maler Jacques Majorelle in den zwanziger Jahren auf einem öden Grundstück angelegt und mit Springbrunnen und Wasserläufen, Seerosen, seltenen Kakteen, Palmen, Bambusbäumen und Bougainvilleen in einen subtropischen Park verwandelt hatte, der jedermann offen stand. Bis zu seinem Unfalltod 1962 arbeitete er in seinem kobaltblauen Atelier und wohnte nebenan in einer Villa. Danach verkam der Majorelle-Garten, bis Yves Saint Laurent und dessen Lebensgefährte Pierre Bergé den Garten 1980 kauften und restaurierten, im Atelier ein Museum für ihre Sammlung islamischer Kunst einrichteten und in Majorelles Haus einzogen.

Bis zu seinem Tod bewohnte Saint Laurent die Villa Oasis, und Bergé verstreute dort, im privaten Teil des Gartens, am 11. Juni 2008 die Asche seines Lebensgefährten.“

Saint LaurentDie Säule des Grabmals lässt an einen erigierten Penis denken. – Nun ja.

Der Supermarkt in der Nähe des Parks ist im Basement des Einkaufzentrums. Längst nicht alle Ladenflächen sind belegt. Zwei Jungs bauen an der Kasse eine Anlage auf und lassen volle Power arabische Musik hören.

Es ist Sonntagvormittag, aber das hat hier nichts zu bedeuten.

Hubert Fichte notiert Gespräche auf der Café-Terrasse: „Unser Neger hat drei kleine Schnittwunden am Penis. Er sagt, es seien Schnittwunden von Grashalmen.“ – „Grashalme! So fängt die Syphilis hier an.“ – „Haben Sie das kleine Ekzem an seiner Lippe gesehen?“ – „Eigentlich altern wir Tunten doch ganz gut.“ – „Zweimal Syphilis, achtmal Tripper, mit 48, da kann man nichts sagen.“

Jean Genet

Jean Genet

Der schwule Dichter Jean Genet verachtet dieses schwule Geplapper: „Jean Genet steht allein. Er hat kein Gepäck. Sein Leben ist unbeschwert von Gegenständen. Die gibt es gar nicht. Er hat nur einen kleinen Koffer und lebt immer im Hotel. Oft in Hotels in der Nähe von Bahnhöfen. Das ist seine Art, immer zur Weiterreise bereit zu sein. Genet verabschiedet sich oft. Nie in den Urlaub. Er ist wie eine verrückte Wolke. Verrückt und frei … alleingelassen in einer Gesellschaft, die ihn verdammt, hat Jeans Genet dennoch Bindungen. Anderswo, in fremden Territorien. Oft in weiter Ferne. Oft bewohnt von Not und Elend. Denn Genet ist ein brüderlicher Mensch. Seine Verbündeten erkennt er; er weiß, wo sie sind, und er geht auf sie zu: in den Elendvierteln Nordafrikas, in den Ghettos Amerikas, in den besetzten Gebieten Palästina, in Japan, in Europa …“

Auf dem Rückflug lese ich in der Süddeutschen über den 52jährigen Ahmed S. Er ist in einem Dorf in Nordmarokko aufgewachsen. 2002 ist er nach Deutschland gekommen. Er ist von seiner marokkanischen Frau geschieden, hat mit ihr fünf Kinder. Eine zweite Ehe mit einer Deutschen endet 2006. Ahmed spricht nur wenig Deutsch und hat deshalb Mühe, Arbeit zu finden. Er lebt in zwei Welten – in seinem privaten Umfeld mit seiner alten Mutter und dem marokkanischen Café, in dem er sich mit Landsleuten trifft, und der deutschen Arbeitswirklichkeit, in der er nicht zurecht kommt. Im Jobcenter der Stadt Neuss kommt es zu einem Missverständnis. Er fürchtet, ein Foto von ihm könne zu Werbezwecken missbraucht werden. Die Arbeitsvermittlerin reagiert in einer Ahmed vermutlich kränkenden Art und Weise. Ahmed bewaffnet sich mit zwei Küchenmessern und ersticht die Frau. Er wird zu lebenslanger Haft verurteilt.

Ein letzter Blick vom Flieger aus auf die Stadt.

„Marrakesch“, schreibt Hubert Fichte. „Das Mittelalter, Die Bibel, Ödipus und Tausend und eine Nacht … zwei Djellabahs, eine Strohmatte auf der Erde. Diese Genügsamkeit hat der Islam geschaffen. So möchte ich leben.“

Marrakesch als Zwischen- oder Endstopp für Paul Bowles, William S. Burroughs, Elias Canetti, John Dos Passos, Hubert Fichte, Jean Genet, Allen Ginsberg, Juan Goytisolo und Cees Nooteboom auf der Suche nach dem anderen, dem anderen Zustand, der anderen Welt – die Sinne betörend allemal.

Frank Göhre

Hier gehts zu Teil 1. Zur Homepage von Frank Göhre.

Zitate aus: Robert Briatte, Paul Bowles. Ein Leben, Reinbek, 1991;
William S. Burroughs, Die alten Filme, Augsburg, 1979; Naked Lunch, Frankfurt am Main, 1978; Elias Canetti, Die Stimmen von Marrakesch, München, 1968; John Dos Passos, Orient-Express, München, 2013; Hubert Fichte, Der Platz der Gehenkten, Frankfurt am Main, 1989; Die alte Welt, Frankfurt am Main, 1992; Allen Ginsberg, Howl, Frankfurt am Main, 2004; Friedrich Glauser, Gourrama, Zürich, 1997; Juan Goytisolo, Engel und Paria, Frankfurt am Main, 1995; Tahar Ben Jelloun, Jean Genet, der herrliche Lügner, Gifkendorf, 2011; Cees Nooteboom, Nootebooms Hotel, Frankfurt am Main, 2000; Donald Spoto, Alfred Hitchcock, Hamburg, 1984

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