Geschrieben am 22. Januar 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (9)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur aber auch über viele angrenzende Themen und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu den Teilen 1 2, 3, 4, 5, 6, 7 und 8

IX
In Ninguna haben Pathologen niemals frei

Antonio Lozano

übersetzt von Jenny Merling

„Ich habe diesem Idioten Lázaro gesagt, dass wir an einem Roman schreiben.“ Bill Toledo ließ die Eiswürfel, die vom Boden seines Glases aus nach mehr Cagüey-Rum verlangten, Runde um Runde drehen.

Ich hatte ihn in seinem Büro aufgesucht. „Wir müssen reden“, hatte ich gesagt, „setz dich“, war seine Antwort gewesen, während er auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch zeigte. „Nicht hier – für das, was ich dir sagen will, brauchen wir einen Drink und Wände, die keine Ohren haben.“

„Also, ich hätte ja nie gedacht, mit was für Figuren du mir hier ankommst.“ Mit einem Blick über meine Schulter bedeutete Toledo dem Kellner, dass er uns eine Flasche bringen solle. „Ein ehemaliger Abgeordneter und ein ehemaliger Minister. Mal sehen, in welches Kapitel wir die beiden einbauen. Das mit Noletti haben wir schon geklärt; warum sonst hat es wohl diesen Riesenaufruhr gegeben, als die Nichte da so rumgeschrien hat? Aber das mit deinem Cousin, dem Sohn dieses Vaterlandsretters, kriegen wir beim besten Willen nicht in der Geschichte unter.“

„Den müssen wir aber irgendwie einbauen, er gehört da einfach rein.“

Während der Kellner uns nachschenkte, fiel mir auf, dass Toledo und ich etwas gemeinsam hatten: Wir wandten den Blick keine Sekunde lang von unseren Gläsern ab, um sicherzugehen, dass uns auch ja kein Tropfen Rum vorenthalten wurde. Wir hatten auch noch etwas anderes gemeinsam – ich erinnerte mich, dass er genau diesen Satz gesagt hatte, und ich klaute ihn nun, um ihn davon zu überzeugen, dass der ekelhafte Leichnam zu meiner Familie gehörte und ich ihn vielleicht deshalb vom ersten Moment an so ekelhaft fand:

„Vergiss nicht, wir sind beide verdammt clever.“ Ich duzte ihn nun auch, weil wir uns schon zum zweiten Mal sahen, während jeder ein Glas vor sich hatte, und betrunken waren wir schnell zu Vertrauten geworden.

„Und?“

„Und diesen Finanzministerheini müssen wir einfach auf jeden Fall im Roman unterbringen. Den haben sie nämlich geändert, um ihn rauszuhaben. Damit er in der Geschichte nicht vorkommt.“

„Dir hätte ja auch mal früher auffallen können, wer er wirklich …“

„Der Rum nimmt mir meine Erinnerungen. Die Bomben bringen sie wieder zurück.“

Sein Roman komme mir vor wie eine Geschichte, die von vierundzwanzig Händen geschrieben wird, meinte ich zu Toledo. Es wurde höchste Zeit, endlich für etwas Ordnung in dieser Sache zu sorgen, die einzelnen Teile, die sie uns hingestreut hatten, in eine Reihenfolge zu bringen. Die zu behalten, mit denen wir etwas anfangen konnten, und die anderen auf den Müll zu schmeißen – eben aufzuräumen. Also fingen wir an.

„Zwei mal zwei Leichen“, begann Toledo seine Zusammenfassung. „Ein Gerichtsmediziner, der für diesen Beruf prädestiniert ist aufgrund seines Namens und aufgrund der Leidenschaft, mit der er schon die Leichen verschönert hat, die seine Mutter hinter sich zurückließ – ich rede von dir“, stellte er sicherheitshalber klar. „Ein Assistent, der ziemlich nutzlos ist, aber den wir erst mal noch drin lassen, vielleicht ist er ja noch für eine Überraschung gut. Diese Ärztin, die dir bekannt vorkommt, dir will und will nur nicht einfallen, woher; dieselbe, die du auch auf dem Foto wiedererkannt hast, das ich dir gezeigt habe. Ach übrigens, weißt du nun mittlerweile, woher du sie kennst, oder haben die Bomben deine Erinnerung noch nicht vollständig zurückkehren lassen?“

„Mir wird schon alles wieder einfallen, eins nach dem anderen. Eine Bombe für jedes ungeklärte Rätsel.

Dann gibt’s noch diesen Spinner Lázaro, den du als Assistenten hast“, führte ich die Personenliste fort, „auch wenn du vorhast, im Roman auf ihn zu zählen, wird er dir das Ende versauen. Und dann sind da noch du …“

„Ich bereue den verdammten Tag, an dem ich in diese Scheißstadt zurückgekommen bin.“

„… und die Bundespolizei und der Minister, den man ‚Den Falken‘ nennt, und ‚Der Tod‘ Zertuche, falls du es ein bisschen gruseliger haben möchtest.“

„Und zwei Hände …“

„Die hätte ich ja fast vergessen. Was ist aus denen eigentlich geworden?“

„Die suchen immer noch ihren Besitzer. Wer weiß, vielleicht ist ja eine der beiden deinem lieben Cousin abgefallen, an den du dich auf einmal erinnert hast? Was weißt du über ihn?“

„In dieser Hölle von einem Zuhause, in der ich aufgewachsen bin, war das Erwähnen des Namens Maximiliano García genauso gefährlich, wie eine zu rauchen, während man auf einem Pulverfass sitzt. Weder Maximiliano noch seine beschissene Brut durften erwähnt werden, davor hat mich meine Mutter immer gewarnt. Einen Teil habe ich von der Alten selbst erfahren. Den Rest bekam ich immer zu hören, wenn mein Vater besoffen war, wenn er im Rausch Selbstgespräche führte und sich über sein Scheißleben auskotzte, während ich versuchte, mich unsichtbar zu machen, damit er mich nicht mit seinem Kumpel verwechselte.“

„Hast du ihn denn mal gesehen, diesen Finanzheini?“

„Das erste und das letzte Mal auf meinem Stahltisch. Mir wurde so sehr eingebläut, mich vor diesem Teil meiner Herkunft zu ekeln, dass mir noch nie eine Leiche so ekelhaft vorgekommen ist. Noch bevor es mir wirklich bewusst war, hatte aber der Hass, den sie mir eingepflanzt hatten, schon längst alles begriffen. Wie ein Tier, das seinen Feind erkennt, ohne ihn jemals zuvor gesehen zu haben. Sogar besoffen hätte ich gemerkt, dass die Leiche ausgetauscht worden war. Er sah ihm ähnlich, aber er war es eben nicht. Ich fand ihn einfach nicht mehr ekelhaft – es war nicht mehr mein Cousin.“

Ich betrachtete wehmütig mein Glas. Der Rum hatte sich verflüchtigt, und ich vermisste ihn jetzt schon. Meine Niedergeschlagenheit war nicht unbemerkt an Toledo vorübergegangen. Er ließ sich von ihr anstecken und hob die Hand in Richtung des Kellners. Die Bar war immer noch in ein Halbdunkel getaucht. Besser so. Dadurch ersparten wir einander wenigstens den Anblick unserer Visagen, die von jahrelangem Rumgenuss, Langeweile und Überdruss verwüstet worden waren, während wir uns über das einzig Interessante unterhielten, das mir bis jetzt in meinem verdammten Leben passiert war: Eine Explosion, die mir fast das bisschen Leben genommen hätte, das ich noch besaß, und die Entdeckung eines Verwandten auf meinem Leichenverschönerungstisch.

„Seit wie vielen Tagen ist mein Cousin, der Minister, denn schon verschwunden?“ Es wurde Zeit, die Puzzleteile zusammenzufügen, und das war meine Art, Bill Toledo das klarzumachen.

„Das Frauchen dieses Ex-Finanzministers-der-keine-Zeit-verloren-hat hat vor einer Woche von ihrer Gattinenvilla aus Alarm geschlagen. Da waren aber schon drei Tage vergangen ohne ein Lebens- oder auch Sterbenszeichen von ihm. Das ist wohl das längste, was die Witwe gewohnt war. Darin ähnelte dieser Typ anscheinend seinem Onkel väterlicherseits: ein Herumtreiber durch und durch.“

Ich unterdrückte den Anflug von Wut, der auf die Erwähnung meines Erzeugers folgte. Zum Glück war dieses Gefühl auch so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war – Protest  hätte jetzt in diesem Horrorfilm von Leben lächerlich pathetisch gewirkt. Ich ließ den Mayor fortfahren:

„Er ist dir vier Tage nach seinem Verschwinden in die Hände gefallen; deiner Meinung nach war die Leiche noch frisch.“

„Zwischen fünf und acht Stunden alt … Das heißt, dass ihr jemand noch ein paar Tage lang Gesellschaft geleistet haben muss, bis alles aus ihr herausgeholt worden war, was herausgeholt werden musste. Deshalb sah die Leiche dann so nett aus, als sie bei mir ankam.“

„Und ab zu Noletti mit ihr.“

„Zu Noletti?“

„Schreiben wir nun einen Roman oder nicht? Also, Noletti stecke ich jedenfalls in dasselbe stinkende, schallisolierte Loch wie den ekelhaften Leichnam, und ich wette eine Flasche Zacapa, dass in Cualquiera, dem Drogenviertel schlechthin dieser Scheißstadt …“– und wie jedes Mal, wenn er Ninguna erwähnte, wurde Toledo wieder von seinen alten Ängsten eingeholt, trank sein Glas aus und goss sich sogleich einen weiteren ordentlichen Schluck ein, der gewisse Erinnerungen an eine Zeit betäuben sollte, in der er noch Billy war und alle Menschen Brüder.

„Aber die beiden sind doch an unterschiedlichen Orten in der Stadt aufgetaucht“, wandte ich ein.

„Weil sie Dealer und Hurensöhne sind, aber keine Idioten.“

„Und Noletti wurde zum Penner.“

„Nachdem er abgesetzt wurde, ja.“

„Richtig, sie haben ihn abgesägt, aber die Information, an der sie interessiert waren, besaß er ja immer noch, obdachlos oder nicht, und genauso wie aus der ekelhaften Leiche haben sie die auch aus ihm herausgeholt“, schlussfolgerten wir. Und feierten diese Entdeckung mit einer weiteren Runde Rum. Einfach die Tatsache, dass Noletti schlau genug war, mit dem herauszurücken, was sie wissen wollten, bevor sie ihm die Fresse polieren konnten. Und so landete er dann bei mir, dreckig wie ein Penner, aber mit nur einem einzigen Kratzer – nämlich dem, der ihn ins Jenseits beförderte, dem von der Kugel, die sie ihm durch die Brust geschossen hatten.

„Oder vielleicht war er doch keiner, und sie wollten nur dafür sorgen, dass ihn nicht mal seine eigene Mutter mehr erkennt“, bemerkte Toledo leise, und es wirkte, als spräche er in diesem Moment mehr mit sich selbst als mit mir.

„Vielleicht war er doch kein was?”

„Kein Penner. Vielleicht war er gar keiner. Den einen verstümmeln sie halb, und den anderen verkleiden sie als Penner. So langsam verstehen wir, was da vor sich geht, was, Caronte?“ Toledos Finger flatterten wie Schmetterlinge in der Luft. Der Typ ist richtig zufrieden, dachte ich, der fühlt sich wirklich wohl in seiner Rolle als Polizist in diesem Roman, den wir inmitten vieler Drinks zu schreiben begonnen hatten.

Und scheiße, mir gings genauso. Weil ich – um meinem beschissenen Leben ein Schnippchen zu schlagen – meine Zeit bis jetzt immer nur damit verbracht hatte, Leichen zu verschönern und mich solange mit Rum volllaufen zu lassen, bis ich dort liegenblieb, wo mich mein Rausch hingestreckt hatte. So spannen wir also weiter vor uns hin und auf einmal kam uns die Idee, dass die Killer von irgendjemanden einen gehörigen Anpfiff bekommen haben müssten, weil sie die Leichen so ungeschickt verkleidet hatten hatten, und dieser jemand hätte sie dann gefragt, ob sie schon mal etwas von DNS gehört hätten, diesem unbestechlichen Miststück, das niemand täuschen kann, und ihnen dann befohlen, ihren Fehler auszubügeln, indem sie die Leichen gegen andere austauschten. ‚Wo ihr die herbekommen sollt? Ihr nutzlosen Idioten, es gibt genug traurige Gestalten in Ninguna, die nur darauf warten, dass ihnen jemand den Gefallen tut und ihnen das bisschen Leben erspart, das sie noch vor sich haben!‛, so redete der Boss in meinem Kopf, und seine Killer bettelten wegen ihrer dummen Frage um Verzeihung.

„Aber nachdem der Austausch stattgefunden hatte, warum haben sie dann auch noch das Leichenschauhaus dem Erdboden gleichgemacht? Wollte vielleicht jemand den Abgeordneten und den Minister vor dem Blutbad wegschaffen?“

„Das ist die Angelegenheit von ‚Der Tod‘ Zertuche, das geht uns nichts an“, wich der Mayor meiner Frage aus.

Vielleicht würde die Wirklichkeit uns und unserem Roman irgendwann ins Gesicht lachen, vielleicht ergab nichts von dem, was wir in dieser Kneipe gemeinsam zusammengetragen hatten, einen Sinn, aber zumindest unterhielten uns unsere Spekulationen erst einmal. Ich sagte dem Mayor nichts von meinen Zweifeln, um ihm nicht den Spaß an der Sache zu verderben; ich wusste, dass er genauso wie ich nicht gerade viele fröhliche Abende verbrachte, und, wer hätte das gedacht, ich brachte diesem Polizisten fast so etwas wie Sympathie entgegen. Wer weiß, ob es daran lag, dass wir uns beide mit den Auswüchsen dieser blutigen und unglaublichen Geschichte beschäftigten, oder – wie mir am Tag zuvor, zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, beim gleichen Rum, aufgegangen war – auch daran, dass, wenn aus Liebe Hass werden konnte, es vielleicht auch anders herum funktionierte.

Ich sprach ihn also aus diesem Grund nicht darauf an, und auch deshalb, weil mir mein Bauchgefühl sagte, dass es unterm Strich womöglich doch gar nicht so abwegig war, was wir zusammengetragen hatten.

Unterdessen hatte sich die Frau mit dem verächtlichen Blick wieder in meine Gedanken geschlichen:

„Woher haben die eigentlich das Foto von der Ärztin?“, legte ich ein weiteres Puzzleteil auf den Tisch.

„Sie wurde von mehreren Überwachungskameras dabei gefilmt, wie sie einige Minuten vor dem Feuerwerk das Leichenschauhaus verlassen hat. Alle Befragten haben dasselbe geantwortet wie du: Sie hat dort seit ein paar Wochen gearbeitet. Kurz bevor alles in die Luft fliegt, verschwindet sie zufällig vom Schirm und seitdem gab es kein Lebenszeichen mehr von ihr.“

„Wird sie gesucht?“

„Der Fall wurde Lázaro Andrés übertragen.“ Ein gehässiges Grinsen spielte um die Mundwinkel des Polizisten, der dadurch einige Sekunden lang fast zu menschlichen Emotionen fähig schien. „Solange er damit beschäftigt ist, mischt er sich nicht in andere Sachen ein.“

Ich erwiderte das Lächeln und wir kamen überein, dass es vernünftiger wäre, morgen am Roman weiterzuarbeiten, damit uns das Trinken nicht noch alles durcheinander brachte; außerdem hatte ich schon nicht mehr genug Finger und Zehen, an denen ich die Stunden hätte abzählen können, seitdem ich das letzte Mal geschlafen hatte. Es gelang uns, das Lokal zumindest mit dem Anschein von Würde zu verlassen, was sowieso die einzig mögliche Art ist, seine Würde überhaupt zu erhalten.

Lang anhaltendes Klingeln riss mich gegen neun Uhr morgens aus dem Schlaf. Ich hatte Schiss, dass es Betito sein könnte, mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung, dass es wirklich dieser Hurensohn war, der mich gerade aus dem Bett holte. Er war es nicht, sondern irgendein Arschloch, das versuchte, mich dazu zu bewegen, mein Trauma von der Explosion zu überwinden indem ich wieder zur Arbeit kam. Bei uns sammeln sich die Toten an, und Ihre Kollegen beschweren sich, dass sie nicht alles allein schaffen, Sie wissen ja, dass es in Ninguna nur von einer Sache immer genug gibt, nämlich Leichen … wir haben Ihnen im Krankenhaus einen kleinen Raum nach Ihrem Geschmack eingerichtet, ja, wirklich, im Untergeschoss, es gibt auch schon einige Kunden, die Schlange stehen, lassen Sie mir die ja nicht warten, Sie wissen doch, wie ungeduldig unsere Toten sind … Dieser Idiot wollte hier wirklich noch Witze reißen.

Ich quälte mich freiwillig mit einer eiskalten Dusche, und dabei fiel mir auf, dass ich den ganzen Abend über immer wieder an das Bild der Blondine mit dem verächtlichen Blick hatte denken müssen, es hatte mich bis in meine Träume verfolgt. Und ich wusste, ich würde das Bild solange nicht mehr aus dem Kopf bekommen, bis mir wieder einfiel, woher ich sie verdammt noch mal kannte;  mir war vollkommen klar, dass ich kein neues Kapitel in Toledos Roman beginnen könnte, ohne dass sie darin auftauchte.

Ich wäre jedoch nie darauf gekommen, dass sie sowieso geplant hatte, sich als Protagonistin vorzustellen, unaufgefordert und mit Gewalt. Und noch viel weniger, dass ich nur ein paar Stunden später persönlich auf sie stoßen würde, weil sie nämlich zu den Kunden gehörte, die bei uns Schlange standen, und sie mir bereits von den Assistenten des improvisierten Leichenschauhauses auf den Tisch gelegt worden war.

Ich hatte mit unanständigen Gedanken zu kämpfen angesichts ihres nackten Körpers, dessen  Schönheit diese Ärztin so gut unter ihrem weißen Kittel zu verstecken gewusst hatte. Und was gab es Besseres dafür, diese Gedanken loszuwerden, als Bill Toledo von meiner Entdeckung zu berichten.

„Sag Lázaro, dass er nicht weiter zu suchen braucht“, begrüßte ich ihn.

„Hast du sie gefunden?“

„Sie hat mich gefunden. Liegt hier vor mir, auf dem Tisch im Leichenschauhaus.“

„Bist du immer noch besoffen? Von was für einem Leichenschauhaus redest du denn?“

„In Ninguna haben Pathologen niemals frei.“

Es stellte sich heraus, dass die Ärztin gar keine Ärztin war, und Sandra hieß. Toledo und ich saßen am selben Tisch wie am Tag zuvor – es hätte ja sein können, dass dies der Schlüssel für unsere plötzliche Inspiration gewesen war. „Aus irgendeinem unerfindlichen Grund, und sicher mithilfe von wer weiß wievielen, hat man sie als Spionin in die Pathologie eingeschleust. Wonach haben die dort um alles in der Welt nur gesucht?“ Uns fielen tausend Antworten auf diese Frage ein; wir beschlossen, die Sache zu vertagen. Fest stand auf jeden Fall, dass wir uns noch einmal genauer mit den Explosionen beschäftigen mussten; dass es sich hierbei um einen Zufall gehandelt hatte, daran glaubten wir schon so lange nicht mehr wie an den Weihnachtsmann. Und wenn die Bomben etwas mit unseren zwei Leichen zu tun hatten, dann hatte diese Ärztin das sicher auch.

Sandra war tot im Treppenhaus eines Wolkenkratzers in der Stadt aufgefunden worden. Das Haus war Sitz des Grupo Central Zócalo, einem Tycoon in der Baubranche, unter dessen Dach sich die Crème de la Crème der gefürchtetsten Verbrecherorganisation des Landes zusammenfand, sogar einflussreiche Politiker gehörten dazu. Eine Putzfrau war auf Sandras verrenkten Leichnam gestoßen, der auf Stockwerk 50 liegengeblieben war. „Warum hat sie verdammt noch mal die Treppe genommen und nicht den Fahrstuhl? Rätsel Nummer Eins“, sagte ich zu Toledo. „Ist sie von selbst gestürzt, oder hat ihr jemand dabei geholfen die Treppen hinunter zu fallen? Rätsel Nummer Zwei“, antwortete der Mayor.

Es war nicht schwer, die Identität der falschen Ärztin zu ermittlen, sie hatte sie in ihrer Tasche mit sich herumgetragen. „Aber wir brauchen mehr Details.“

Toledo ging schon vollständig in der Rolle des verwegenen und kompetenten Polizisten auf, die er sich für seinen Roman ausgedacht hatte: „Und dafür brauche ich deine Hilfe. Den Leuten vom Grupo Zócalo wird es sicher nicht gefallen, wenn ein Polizist ihnen Fragen stellt. Ein einfaches Telefonat, und schon nehmen sie uns den Fall ab. Und tschüss, Roman …“

„Aber ich habe noch nie etwas anderes gemacht als Leichen zu schminken. Die Toten sind nun mal mein Ding.“

„Dann wirst du dich bei den Mitgliedern des Grupo ja wie zu Hause fühlen. Das sind schließlich deine Hauptzulieferer. Sieh es als eine Art Höflichkeitsbesuch.“

Toledo wusste, dass ich ihm das nicht abschlagen konnte. Ich hatte zu lange in der Wüste zugebracht, um die Chance auf eine Oase jetzt einfach an mir vorbeiziehen zu lassen. Er wusste das, ihm ging es schließlich genauso.

Ich musste ja auch nur herausfinden, ob der Fahrstuhl an dem Tag, an dem Sandra die Treppe hinuntergefallen war, funktioniert hatte oder nicht, und ein paar unschuldige Fragen stellen, die mir der Mayor vorgab.

Das Gebäude des Grupo Zócalo ragte hoch und selbstgerecht über den Unglücklichen von Ninguna empor. In der riesigen Eingangshalle erhob sich ein beeindruckender Empfangsschalter, der von finster aussehenden und bewaffneten Sicherheitskräften flankiert wurde. Der Zócalo nahm die fünfundzwanzig oberen Stockwerke ein. Im restlichen Gebäude befanden sich die Büros anderer Firmen, Anwaltskanzleien, diverse Bars, und auf halbem Wege zwischen Himmel und Erde machte ein Café jeden Tag einen ziemlich guten Umsatz.

Wer Zugang zum Zócalo-Universum erhalten wollte, musste seinen Personalausweis am Empfangsschalter im Austausch gegen einen Besucherausweis abgeben, der gut sichtbar am Revers zu tragen war. Während ich darauf wartete, dass ich an die Reihe kam, beobachtete ich die anderen Kandidaten, die einen dieser Ausweise haben wollten, oder ihr abgegebenes Dokument gerade wieder abholten.

Mein Blick blieb an einem bekannten Gesicht hängen. Eine blonde, verbraucht aussehende Frau, vielleicht eine Russin, auf jeden Fall eine Osteuropäerin. Sie trug einen alten, abgetragenen  Kamelhaarmantel, der unverschämterweise auch noch schmutzig war.

An sie erinnerte ich mich auf jeden Fall. Ich wusste ganz genau, wo ich sie schon einmal gesehen hatte. Ich war ihr mehrmals auf den Fluren des Leichenschauhauses begegnet, wo sie ihren Putzwagen vor sich herschob und überall den Geruch von Tod hinterließ; hinterher hatte man immer das vage Gefühl, gerade einer Hexe begegnet zu sein.

Es dämmerte mir, dass sie genau wie Sandra kurz vor der Explosion angefangen hatte, bei uns zu arbeiten. Dass sie sich ebenfalls gerettet hatte. Und genau wie die Vertretungsärztin anscheinend irgendetwas im Zócalo-Wolkenkratzer zu suchen gehabt hatte.

Nachdem sie ihre Papiere zurückbekommen hatte, ging sie auf den Ausgang zu. Ich sah ihr nach; dabei fiel mein Pathologenblick auf eine Narbe an ihrem Fußknöchel. Sie verriet einen Schnitt, der vor nicht allzu langer Zeit gemacht worden sein musste.

Antonio Lozano, geboren 1956 in Tánger (Marokko), studierte Lehramt und arbeitete an den spanischen Schulen Uxda und Nador. 1984 zog er nach Agüimes (Gran Canaria) um und war dort bei der Stadverwaltung im kulturellen Bereich tätig. In Las Palmas absolvierte er außerdem ein Studium in Übersetzen und Dolmetschen und hat seitdem mehrere Romane aus dem Französischen übersetzt (z. B. Yasmina Khadra). Zu seinen schriftstellerischen Werken gehören folgende Romane, für die er meherer Auszeichnungen erhalten hat: „Harraga“ (2002), „Donde mueren los ríos“ (2003), „Preludio para una muerte“ (2006), „El caso Sankara“ (2006), „Las cenizas de Bagdad“ (2007).

Jenny Merling, Jahrgang 1983, studiert seit 2007 Literaturübersetzen (Englisch/Spanisch) in Düsseldorf. Sie absolvierte Auslandsaufenthalte in den USA und Spanien. Gemeinsam mit Carina Nehring übersetzte sie Ausschnitte aus dem Roman „Hotel Limbo“ der mexikanischen Autorin Mónica Lavín.