Geschrieben am 5. März 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (14)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen, und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu einer Übersicht aller bisherigen Teile geht es hier

Ein weiterer argentinischer Freund der Diez Negritos, Ehrennegerlein Raúl Argemí, präsentiert uns Kapitel XIV.

XIV

Raúl Argemí

übersetzt von Doris Wieser

Toledo und Caronte wissen nicht, dass ihnen derselbe Gedanke durch den Kopf geht: Das Spiel ist gelaufen und Betitos Waffe hat gewonnen. Seine Waffe und seine Augen, die immer wieder zu den Händen des Polizisten gleiten, um deren Bewegungen genau zu beobachten. Deswegen lässt sie Toledo schön weit über dem Kopf, Kilometer von dem keineswegs vorschriftsmäßigen Eisen entfernt, das er hinten im Gürtel trägt.

„Verschwendet bloß nicht unsere Zeit“, sagt Betito ironisch. „Gebt mir das, was Verónica gehört hat, und wir vergessen dieses zufällige nächtliche Treffen mit euch zwei Amateurdieben.“

„Es kam mir schon so vor, als wären wir allzu leicht reingekommen“, murmelt Caronte und kramt in seinen Hosentaschen herum. „Haben Sie es, Toledo?“

„Alter, geben Sie denen gar nichts. Soll er uns doch kaltmachen, wenn er Eier in der Hose hat.“

Doch der Pathologe begehrt auf, als wolle er um jeden Preis seinen Arsch retten.

„Das passiert mir nur, weil ich mich darauf eingelassen habe, mit einem Vollpfosten James Bond zu spielen! Wie konnten Sie nur glauben, dass es im Zócalo-Konzern kein Wachpersonal gibt? Kapieren Sie denn nicht, dass sie uns nur reingelassen haben, damit wir den Abfall durchwühlen und sie uns dann an den Eiern packen können?“

„Lecken Sie mich doch am Arsch.“

„Wir sind schon am Arsch, Toledo! Geben Sie dem Jungen, was er will, und lassen Sie mich in Ruhe. Betito ist wie ein Sohn für mich und wenn er da steht, wo er steht, dann weil er dazu gezwungen wurde.“

„Sie verrückter Dreckskerl! Dieses Arschloch hat Sie die ganze Zeit schon beobachtet!“ jault Toledo. Er geht einen Schritt auf Caronte zu und setzt zum Schlag an, muss aber einhalten, da Betito die Pistole auf ihn richtet, die Magnum, die einem ein hungriges, schwarzes Auge in den Magen reißen kann.

„Keine Bewegung!“, droht er. „Wenn Sie wieder mit Ihren rosaroten Kärtchen spielen wollen, dann lassen Sie die Hände schön oben. Sie brauchen gar nicht so erstaunt zu gucken, Herr Polizist. Sie werden nämlich auch überwacht und zwar ganz aus der Nähe.“

Diese Neuigkeit scheint Toledo in Stein zu verwandeln. Er bleibt mit offenem Mund stehen; sein Kopf arbeitet auf Hochtouren. Aber das reicht Caronte nicht, der kurz vor dem Zusammenbruch noch einen draufsetzt:

„Ich weiß, dass du ein guter Junge bist, Betito … Toledo hat Verónicas Tagebuch! Ich will damit nichts zu tun haben. Gib mir eine Chance. Soll ich ihn durchsuchen? In irgendeiner Tasche muss es …“

„Halten Sie endlich das Maul, alter Scheißkerl, und kommen Sie ihm nur nicht zu nahe! Hände in den Nacken und keine weitere Bewegung!“

„Betito, tu mir das nicht an!“

„Ich habe gesagt, Sie sollen still sein!“

„Aber ich seh doch, dass du Hilfe brauchst, und ich will …“

„Ich bekomme schon genug Hilfe“, sagt Betito mit einem erleichterten Lächeln.

Zwei Sicherheitsbeauftragte des Zócalo nähern sich gemächlich, da sie wissen, dass alles unter Kontrolle ist. Aber vielleicht beschleicht sie Zweifel, denn auf einmal ändern sie ihre Laufrichtung und nähern sich dem Auto, an dessen Steuer immer noch die Frau sitzt.

Verunsichert schaut Betito einen kurzen Moment zum Auto hinüber, nicht lange genug, um die Kontrolle über die Situation zu verlieren, aber immerhin so lange, dass Toledo einen fragenden Blick mit Caronte wechseln kann. Der Gerichtsmediziner hat gesagt, dass der Polizist Verónicas Tagebuch bei sich trägt. Entweder weiß er also, was auf der Diskette ist, oder er wollte nur Zeit gewinnen, um eine Gelegenheit abzupassen, sich aus dieser Zwickmühle zu befreien.

„Lass mich dir helfen, Betito! Ich hab gesehen, wie er es in seine Unterhose geschoben hat!“, sagt Caronte in weinerlichem Ton, während er gleichzeitig einen Schritt auf den Polizisten zugeht.

„Still, hab ich gesagt!“, befiehlt Betito und hebt seine Magnum wieder an. „Seh ich etwa aus wie ein Idiot? Glauben Sie, dass ich nicht weiß, dass dieser Typ irgendwo einen Revolver stecken hat? Nee, Sie alter Knacker, Sie werden mich nicht mehr wie einen Trottel behandeln, nie mehr. Ich bin nicht dieser Scheißdeutsche, dem Sie das Skalpell in den Kopf gerammt haben: Ich denke. Ich denke nach und weiß genau, auf welcher Seite die Gewinner stehen.“

Da verbarg Caronte García sein Gesicht hinter den Händen und ein Schluchzer ließ seine Schultern erbeben.

Als sich die zwei Wachmänner vom Auto entfernen und auf die Gruppe zukommen, scheint es so, als gäbe es keinen Ausweg mehr. Drei bewaffnete Männer gegen zwei, deren Hände gen Himmel ragen. Das sieht nach einem triumphalen Sieg aus.

Aber zum Erstaunen aller verlangte die Szene nach mehr Schauspielern und zwar solchen, die nicht im Programmheft aufgeführt waren.

Das Auto bog mit ausgeschalteten Scheinwerfern und quietschenden Reifen um die Ecke, bis es die letzten Meter mit einem sanften Seufzer zurücklegte.

„Welcher Scheiß…?“, konnte Betito gerade noch sagen, bevor das gespenstische Auto das Blaulicht einschaltete, das wie das Gebrüll von Dinosauriern klang.

Eine Tür ging auf, ein Mann stieg aus und befahl:

„Hände hoch! Polizei! Ergebt euch!“

Auf einmal ging alles ganz schnell. Zuerst erloschen die Lichter am Auto der Frau und stürzten alle in die Finsternis der Geblendeten. Dann zwei, drei, vier Schüsse. Sie schlugen wahllos in die erste Gruppe und das gerade angekommene Auto ein und stellten klar, dass die Frau zu allem bereit war.

Als die dritte Kugel pfiff, hatte sich Toledo schon auf den Gerichtsmediziner geworfen. Beide duckten sich gegen den Boden wie Maulwürfe, die einen Fluchtgang graben wollen.

Betitos Reaktion ließ auf sich warten.

Schließlich schrie er: „Sonia …!“, und einer ihrer Schüsse schlug ein Loch in seinen Bauchnabel.

Dann wurden Sonias Schüsse vom Knattern einer Kalaschnikow übertönt. Der Mann aus dem Geisterauto feuerte eine Salve nach der anderen ab, schoss die Männer von der Security nieder und gab schließlich dem verwirrten Betito den Rest. Mit einem Körper, der von den Kugeln der AK-47 in der Mitte fast durchtrennt wurde, begann er seine Reise in die andere Welt, ohne zu verstehen, was da genau passierte.

Das letzte Geräusch, nach der letzten Salve, verursachte Sonia mit ihrem Auto, als sie auf der Flucht den falschen Gang einlegte.

Die Scheinwerfer des Polizeiautos gingen an, um den Hexenkessel auszuleuchten. Drei Tote lagen in einer Blutlache, die sich wie eine Flut ausbreitete. Der Mann mit der Kalaschnikow näherte sich den Massakrierten.

„Gehen wir, Mayor, drücken Sie auf die Tube. Wir müssen von hier verschwinden, bevor Zeugen auftauchen“, sagte Lázaro Andrés in aller Seelenruhe, während er ein neues Magazin ins Gewehr einlegte.

Sie waren schweigend, aber auf mögliche Ereignisse gefasst den Weg zu Caronte Garcías Wohnung gegangen. Toledo war ganz aufgewühlt, da er das Gesicht des Mannes, der das Auto gesteuert hatte, nicht hatte erkennen können.

Zu Hause angelangt, legte der Gerichtsmediziner zuallererst die vom noch frischen Blut der Erschossenen getränkte Jacke ab. Gleich danach öffnete er eine 2-Liter-Flasche geschmuggelten Cachaça und trank einen großen Schluck. Schließlich fischte er drei einigermaßen saubere Gläser aus der Spüle.

„Machen Sie sich meinetwegen keine Umstände. Ich muss gleich gehen“, sagte Lázaro Andrés.

„Einen Augenblick“, unterbrach ihn Toledo. „Wer ist der Typ mit dem Auto?“

„Ein Bankräuber, den ich aus dem Knast geholt habe. Mit ihm habe ich einen guten Deal vereinbart, weil ich mich auf niemanden aus der Kaserne verlassen wollte. Jetzt muss ich ihn zurückbringen, bevor jemand Wind von der Sache bekommt.“

„Ach ja? Und wie erklären Sie, dass er genau im richtigen Moment eintraf? Hatte er eine Eingebung?“

„Nein, Chef. Die Alarmanlage des Zócalo ist mit der Kaserne verbunden.“

„Pah! Als ob ich nicht wüsste, dass uns das Signal immer am Arsch vorbei geht!“

„Dieses Mal war es anders, denn als der Alarm losging, fielen mir die Kärtchen ein, die Sie säuberlich geordnet auf dem Boden Ihres Büros liegengelassen haben, und da wusste ich gleich, dass Sie der Eindringling waren.“

„Da schau her … Sie sind ja besser als Sherlock Holmes“, sagte Caronte García erstaunt.

„Sie sind besser ruhig, mucksmäuschenstill!“, röhrte Toledo, der immer noch glaubte, dass irgendwas an der Sache faul war. „Sie werden doch hoffentlich keine Dienstwaffe für dieses Desaster verwendet haben …“

„Natürlich nicht, Herr Mayor“, sagte Lázaro Andrés schmalzig. „Das ist eine Kalaschnikow von den Toten aus dem Angriff auf die Pathologie. Ich stell sie zurück in den Schrank und niemand wird es merken. Kann ich jetzt gehen oder werden Sie mich noch lange befragen, als wäre ich einer von denen?“

Toledo schaute ihn mit einer Grimasse an, sagte aber nichts und trank stattdessen in einem Zug sein Glas leer. Dann zündete er sich eine Zigarette an.

„Der Mann hat Recht. Er hat uns das Leben gerettet“, gab der Gerichtsmediziner zu bedenken und zog Verónicas Diskette aus der Tasche. „Das Problem ist aber immer noch, wo zum Teufel wir an die Information aus dieser Antiquität kommen.“

„Wenn es nur das ist. Ein Freund von mir ist Hacker und der kann alles lesbar machen“, sagte Lázaro Andrés und blieb an der Tür, die zur Straße hinausführt, stehen.

„Los, gehen Sie schon, und tun Sie, was Sie tun müssen. Wenn wir Sie brauchen, dann melde ich mich“, befahl Toledo.

Bei der dritten Runde geschmuggeltem Cachaça fasste Caronte den Mut, alles, was ihm im Kopf herumging, auszupacken:

„Ich verstehe Sie nicht, Toledo. Dieser Mann tauchte auf wie die Kavallerie, um uns vor den Indianern zu retten, und Sie machen ihn nieder.“

„Erstens“, sagte der Mayor und erhob einen Finger, „hat er keinen einzigen Schuss gegen das Auto abgefeuert, keinen einzigen. Und von den anderen hat er keinen am Leben gelassen. Sonst hätten wir nämlich einen von ihnen ausquetschen können. Wenn ich einen zu fassen bekommen hätte, egal welchen, dann wüssten wir jetzt schon, welches Süppchen die kochen.“

„Schon gut… vielleicht waren die vielen Toten nicht nötig, aber in dem Augenblick …“

„Zweitens“, sagte er mit einem weiteren erhobenen Finger, „Betito hat uns gesteckt, dass ich aus nächster Nähe beobachtet werde, und das Arschloch, das am nächsten um mich herumschwirrt, ist er, Lázaro Andrés.“

„Auf mich hat er aufrichtig gewirkt.“

„Und auf mich wirkt er wie eine verdächtige Schwuchtel. Wir bleiben an ihm dran und zwar mit ganz weit geöffneten Augen. Gießen Sie mir noch ein Glas von diesem Gift ein.“

„Wie Sie wollen. Ah … da ist noch eine Sache. Sie glauben doch hoffentlich nicht, dass ich Ihnen schaden wollte mit der Nummer, die ich abgezogen habe. Ich meine, als ich behauptete, dass Sie die Diskette haben.“

„Ich war drauf und dran, Sie zu erwürgen, Caronte, auch wenn das bedeutet hätte, dass Betito mich in die Luft jagt.“

„Sie sind aber sehr impulsiv…“

„Und Sie hätten lieber zum Film gehen sollen. Sie haben ja geheult und gezittert wie einer, der vor Angst die Hosen voll hat. Als Sie von Verónicas Tagebuch sprachen, fiel bei mir der Groschen und ich kapierte, wie das gemeint war. Prost.“

„Toledo… ich nehme tagtäglich Toten ihre Eingeweide heraus. Ich musste mir Betito vorstellen, wie er mich mit dem Skalpell öffnet, und das jagte mir eine Höllenangst ein. Ich glaube, Mao hat gesagt, dass alles eine Waffe sein kann, sogar sich in die Hose zu scheißen.“

„Dieser Chinese war ein großer Denker. Männer dieses Kalibers gibt es heute nicht mehr“, sagte Toledo, während er die zwei Gläser bis zum Rand füllte. „Prost. Auf Mao“.

„Auf Mao. Prost“, antwortete Caronte.

Eine Stunde später war die 2-Liter-Flasche Cachaça leer und die zwei Männer lagen irgendwo ausgestreckt da und schnarchten. Sicher träumten sie, denn von Zeit zu Zeit fuchtelten sie mit den Händen in der Luft herum und brabbelten unzusammenhängendes Zeug.

—- Mit diesem Cliffhanger verabschieden sich die Diez Negritos für ein paar Monate, dann geht es hier fröhlich weiter mit der Geschichte um den ekelhaften Leichnan —-

Raúl Argemí, 1946 in La Plata geboren, kämpfte im ERP-22 de agosto gegen die argentinische Militärdiktatur. Von 1974 bis 1984 saß er als politischer Häftling im Gefängnis. Danach arbeitete er in Buenos Aires und General Roca (Patagonien) als Journalist. 1996 erschien sein erster Kriminalroman, „El Gordo, el Francés y el Ratón Pérez“. Es folgten „Los muertos siempre pierden los zapatos“ (2002), „Penúltimo nombre de guerra“ (2004; deutsch: „Chamäleon Cacho“, Unionsverlag metro 2008), „Patagonia Chu Chu“ (2005), „Siempre la misma música“ (2006; deutsch: „Und der Engel spielt dein Lied“, Unionsverlag metro 2010), „Retrato de familia con muerta“ (2008) und „La última caravana“ (2008). Heute lebt er in Barcelona.

Doris Wieser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Göttingen und promoviert über den zeitgenössischen lateinamerikanischen Kriminalroman.
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