Geschrieben am 15. Oktober 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (18)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige tatsächlich ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen, und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu einer Übersicht aller bisherigen Teile geht es hier

Es geht weiter, endlich, heute mit Sébastien Rutés, übersetzt von Alexandra Hölscher. Das ganze Projekt wurde initiiert, koordiniert und lektoriert von Doris Wieser.

Nachdem wir, mea maxima culpa, ein wenig aus dem Tritt gekommen sind, wiederholen wir heute die richtige 18. Folge ….

XVIII

Sébastien Rutés Der Fährmann des Lethe

Übersetzt von Alexandra Hölscher

„Und was ist dann passiert?“

„ Tja, sie haben uns umgebracht …“

Caronte zog seine Stiefel über dem schäbigen Schreibtisch im Leichenschauhaus aus. Das Attentat hatte die melancholische Landkarte des Gedächtnisses ausgelöscht, welche die Hügel von gestapelten Gutachten, Seen aus verschüttetem Rum, sterile Aschelandschaften mit Wäldern aus verglommenen Zigarettenkippen sowie dekadente Städte aus blutbefleckten chirurgischen Instrumenten seit Jahren zeichneten. Caronte hielt nichts von Akten. Sie können verfälscht und geklaut werden. Rotweinflecken, Brandlöcher von Zigarren, Essensreste, zu Aschenbecher umfunktionierte Plastikbecher und sogar die hektischen Kritzeleien auf vergilbtem Papier waren ein vertrauensvolleres Archiv. Sie alle zeugten von einem bestimmten Tag, einer Autopsie, einem Toten, einem Schmerz. Eine atomare Explosion hatte das Land des Gedächtnisses dem Erdboden gleich gemacht, Caronte schien es, als wäre er, wie die unendliche Oberfläche seines Schreibtisches, diesem Unglück zum Opfer gefallen. Er schüttelte sich die Stiefel ab, getrockneter Schlamm bröckelte runter und formte so etwas wie ein Relief in der leeren Ebene des Vergessens, Erleichterung erfüllte Caronte. Er schmiss die von Boris ausgedruckte Liste auf den Schreibtisch. Das gleiche machte er mit dem Kokainbeutelchen der Klapperschlange und mit Lázaro Andrés’ Handy. Aus einer Schublade holte er auch Gunthers Handy heraus sowie eine Flasche Rum. Der Schreibtisch erwachte wieder zum Leben …

Vom Fensterbrett aus krächzte der Rabe:

„Die Schusswunden haben dich hübscher gemacht! Das wurde aber auch Zeit …“

„Schon wieder gestorben, Caronte?“, fragte der Uhu. „Wie oft schon? Pass auf, dass du nicht wie die Katzen nur neun Leben hast …“

„Einmal war ich bei meiner eigenen Beerdigung und ich war allein. Es ist niemand gekommen …“, seufzte Caronte.

„Katzen haben keine neun Leben“, tönte der Fuchs. „Ich habe so einige in den glückseligen Wäldern von ‚Los bienaventuradosʻ gefressen, bevor mich, mit Verlaub, dieses Arschloch von deinem Großvater geschossen hat, damit du es weißt …“

„Soll der Fuchs sich jetzt über seine Kindheit auslassen, oder erzählst du uns, wie du dich gerettet hast?“

„Warum gebt ihr euch nicht mit der Version meiner Wiederauferstehung zufrieden? Ihr solltet eigentlich alt genug sein, um zu wissen, dass Erklärungen immer enttäuschend sind. Na gut, ihr habt es nicht anders gewollt: Sonia war gekommen, um zu verhandeln. Könnt ihr euch das vorstellen? Nach den gestohlenen Leichnamen, den Morden, den Bombenexplosionen, den Karate-Tritten und all dem. Um zu verhandeln? Bestimmt hat dieser durchgeknallte Lázaro Andrés es geschafft, sie zu überreden, wozu auch immer. Ich glaube ja, diese Obertunte wollte sich heil aus der Sache mit Toledo rausziehen, und genauso wollte er ihn ficken. Was meint ihr, der hat es doch verdient, wegen Blödheit enthauptet worden zu sein, oder? Mit Toledo verhandeln? Wer, der auch nur annähernd bei Verstand ist, würde das für möglich halten? Sonias Leibwächter waren nicht auf einen Kampf mit dem Todesengel von Ninguna vorbereitet gewesen. Toledo brauchte sein Quoten-Blut, es setzte einen Kugelhagel unsererseits, und wir haben es raus geschafft. Sonia konnte wieder fliehen, wenn, dann wird sie wird wohl die Katze mit den neun Leben sein. Nebenbei bemerkt, für sie würde ich sofort eines meiner Leben lassen.“

„Du hast Recht, es ist viel schöner zu glauben, dass du wie eine Katze neun Leben hast.“

„Katzen haben keine neun Leben!“

Sie schwiegen. Caronte nahm einen großen Schluck Rum, schob in Erinnerung an den unheilvollen Ruhm der Klapperschlange und an die rotweiße Masse aus Lázaros Blut das Kokain-Beutelchen zur Seite, faltete das von Boris ausgedruckte Blatt auseinander und räkelte sich im Stuhl, um zu lesen. Es standen Namen darauf, ohne Daten, ohne irgendetwas. Namen. Einige von ihnen kamen Caronte bekannt vor. Sein Gedächtnis war immer schon sehr schlecht gewesen. Er sah darin einen Vorteil: Das Elend, die familiären Probleme, die Schande, die Einsamkeit und der Fluch der Leichname waren keine erfreulichen Erinnerungen. Wie soll man in ständiger Erinnerung an die vielen toten Augen leben, die das Skalpell vergebens um Erbarmen anflehten? Nach so vielen Jahren war das kleine kalte Messer zu einem zusätzlichen Körperteil Carontes geworden. Besser gesagt, Caronte war die Verlängerung des spitzen Stahls. Weder der eine, noch der andere erinnerten sich an das viele zerfetzte Fleisch, die Gesichter mit ihrem verwesenden Lächeln, an die Blähungen der aufgerissenen Organe, das Wehklagen der Familien, die genießerische Treue der Würmer sowie an die Angst vor dem täglichen Untergang in Ninguna. Jede Nacht wurden sie sauber gemacht, in ihrem Etui aufbewahrt und am nächsten Tag wieder benutzt. Aber auch der treueste Stahl wird stumpf …

„Erinnert ihr euch an den nordischen Gott Odin?“, ärgerte sich Caronte. „Odin wurde immer von zwei Raben begleitet, Hugin und Munin. Der eine war sein Geist und der andere seine Erinnerung. Sie waren seine Boten, und ihnen verdankte er sein Wissen über alles, was in der Welt geschah oder geschehen war. Ich verstehe ja, dass Odin ein Gott war und ich kein Gott bin, aber warum musste ich so viel Pech haben? Ein ironischer Rabe, ein melancholischer Fuchs und ein arschkriecherischer Uhu? Ein unnützer Haufen, was soll mir das bringen?“

„Sag mal, warum hörst du nicht endlich mit dem Höflichkeitsgeplänkel auf und fragst uns, was du wissen willst?“

„Seht ihr? Pure Ironie … Ich werde euch wieder in den Keller bringen.“

„Caronte, jetzt reicht’s aber. Glaubst du, dass wir dich nicht kennen? Wir haben dich zig Mal dabei beobachtet, wie du einen auf böse gemacht hast, als du noch ein Kind warst. Weil sie dir ein Pistazien-Eis kaufen sollten oder ein Feuerwehrauto oder damit sie dir erlaubten, einen Fisch auszunehmen und mit den Hühnerknochen zu spielen. Was willst du jetzt?“

„Carlos Fernández. Gabriel Mendoza. Otilia Vasquez … Wer sind diese Leute?“

„Sieh dir mal den Schreibtisch an.“

Caronte sah. Die Handys, das Beutelchen, den Rum. Die Liste hielt er in der Hand. Das verwüstete Land des Gedächtnisses. Was gab es dort zu sehen?

„In der Ecke, neben der Flasche. Siehst du die Schramme? Erinnert sie dich an etwas?“

„Na klar. Die hab ich vor vielen Jahren mit dem Skalpell gemacht. Nachdem ich einen Selbstmörder obduziert hatte. Ein Ingenieur. Er sah gut aus, war reich, hatte eine wunderhübsche Frau und zwei Bedienstete. Ihr Weinen hallte immer noch im Leichenschauhaus nach, als ich vor lauter Wut den Schreibtisch eingeritzt habe …“

„Erinnerst du dich, wie er starb?“

„Er hat sich erhängt.“

„Wo?“

„An einem Ast eines Baumes im alten Wald, an dessen Stelle heute Ciuadad Juárez liegt, dort, wo der Fuchs gejagt wurde.“

„Und ich“, krächzte der Rabe. „Und auch der Uhu. Ein Teil des Waldes hat deinem Großvater gehört. Später hat er ‚Los bienaventuradosʻ verkauft und der Wald ist zu einem Versteck für Junkies und Nutten geworden.“

„Und?“

„Nichts. Der Erhängte hieß Gabriel Mendoza. Jetzt der nächste Name. Carlos Fernández. Erinnerst du dich an einen kleinen, runden, schwarzen Fleck? In der Nähe deines Ellbogens. Heute sieht man ihn kaum noch. Was war das?“

„Dort hat viele Jahre eine blutbefleckte Kugel gesteckt, die ich aus dem Kopf eines anderen Selbstmörders geholt hatte. Er hatte sich in den Mund geschossen. War das Carlos Fernández?“

„Erinnerst du dich daran, wie du ein Mal die obere Schublade mit Blut beschrieben hast: ‚Hier ruht Caronte García, gestorben zwischen den Verstorbenenʻ?“

„Ich erinnere mich auf jeden Fall an den Kater am nächsten Tag. Ich war noch nie so betrunken gewesen. Diese Toten, an die du mich erinnerst, sind meine ersten Kunden gewesen, meine ersten Überfahrten über den Acheron, meine ersten Eindrücke beider Ufer vom Fluss der Unterwelten, meine ersten Passagiere zu den Reißzähnen des Zerberus, meine ersten milden Gaben und der Beginn meines langen, blinden Todes.“

„Erinnerst du dich, warum du dich betrunken hast?“

„Da waren zwei Nutten. Ein gemeinsamer Suizid. Eine Überdosis Heroin. Man hat sie in einer Schlucht gefunden …“

„Nahe bei Ciudad Juárez.“

„Die auch? Daran erinnere ich mich nicht … Wer waren die zwei?“

„Nummer drei und fünf auf deiner Liste.“

„Otilia Vásquez und Juanita Delgado. Und was soll ich jetzt daraus schließen?“

„Hugin und Munin waren nur die Boten und Odin war der Gott. Du bist Gerichtsmediziner – und betrunken. Du bekommst das, was du verdienst …“

*

Ninguna erinnert sich nicht gern. Wenn sie es täte, wäre es, wie wenn sie in einem Fluss aus Schlamm versänke, eine Horde wilder Bestien die Straßen überfiele, der Wald sich der Stadt bemächtigte und die Wurzeln den Bürgersteig zerstörten, wie wenn die Barbarei ihr dunkles Versteck verließe, um ihren Hass bei helllichtem Tage hinaus zu heulen. Es wäre wie ein Rückschritt zur Vorgeschichte, zum Kannibalismus, zum Gründungsinzest. Zum Glück hat die Hölle des Gedächtnisses in Ninguna ihre Höllenhunde. Es gibt niemanden, der sich traut, den tödlichen Acheron zu überqueren, um an seine Tür zu klopfen. Niemand außer Caronte, dem höllischen Fährmann, dem Führer der Schatten, dem gespenstischen Beschauer der selbstmörderischen Gedanken.

Caronte, warum quälst du dich so, gegen die Strömung des Lethe zu rudern? In den Tiefen seiner Gewässer des Vergessens verrotten nachtragende Knochen schändlicher Erinnerungen, die seit Jahrhunderten darauf warten, dass ein Verrückter oder ein Dichter seine Hand in das rötliche Wasser eintaucht. Wirst du es wagen? Misstraue der Vergangenheit, die unter den Steinen lauert wie ein schlüpfriger Zitteraal. Du willst gar nichts wissen über die uralten Ängste, die in den Unterwasserhöhlen des Gedächtnisses von ihrer Rache träumen. Rudere, rudere gegen den Strom, Caronte, Fährmann ohne Kurs, Archäologe aller Schiffbrüchiger, Historiker des fließenden Wassers. Du wirst der Suche nach den mythischen Quellen des Lethe überdrüssig werden: Es gibt sie nicht. Und der Fluss macht eine Kehrtwende zur Hölle, zur Welt, nach Ninguna, zum menschlichen Schmerz. Vielleicht, wenn du dich den Gewässern lange genug aufdrängst, wirst du am Ende den Leichnam deines Feindes vorbeiziehen sehen. Oder noch Schlimmeres …

Zwei Tage lang tauchte er ab, nicht in die Gewässer des Lethe, sondern in die Aktenschränke des Leichenschauhauses, in das Polizeiarchiv und in das Nationale Zeitungsarchiv. Es ist gefährlich, in den höllischen Flüssen zu navigieren: Manchmal nähert man sich zu sehr dem Ufer und den Monstern, die auf die Seelen lauern. In den Gängen des Quai des Orfèvres kreuzte Caronte Adrián Zertuche, der wie der Minotaurusseine Beute in den Gängen des Labyrinths jagte. Wieder die kalte Berührung der tödlichen Hand, der Austausch von Höflichkeiten, welche Befehlen ähnelten, Fragen in Form eines Verhörs, Abschiede, welche Drohungen waren. Als Zertuche sich entfernte, drehte er sich noch mal um und ein Hauch von Flammen und Schwefel ließ die Seele des armen Caronte gefrieren. Rudern, rudern, um dem höllischen Feuer zu entkommen …

Als Ninguna vor Menschengedenken gegründet wurde, huldigte sie ihren großen Persönlichkeiten im Panteón Nacional, einem Tempel nach griechischem Vorbild, in dem diese ehrenvoll beerdigt wurden. Jahre später drohte das Monument einzustürzen. Oder bestanden Hygienemängel? Auf jeden Fall wurden die Mausoleen geöffnet und die ruhmreichen Überreste vorsichtig in die umgebenden Friedhöfe gebracht, angeblich nur auf Zeit. Die Zeit verging und die Erinnerungen an die großen Persönlichkeiten gerieten in Vergessenheit sowie die winzigen Kästchen, in denen ihre Überreste aufbewahrt wurden, und das Gebäude des Panteón Nacional wurde durch die Renovierung dank privater Gelder zum Nationalen Zeitungsarchiv. Das Zelebrieren der Gegenwart hatte endgültig den Vergangenheitskult vertrieben. Ninguna erinnert sich nicht gern. Die Gegenwart jedoch, wird früher oder später zur Vergangenheit. Ninguna, Stadt ohne Erinnerungen: Niemand entkommt seiner Vergangenheit!

Im Zeitungsarchiv war Caronte zu folgender Schlussfolgerung gekommen: Er hatte nicht alle, die auf der Liste standen, obduziert. Einige waren von seinem Vorgänger, Don Radamantis obduziert worden, ein alter Gauner, der mit Goldzähnen ein Vermögen angehäuft hatte und dem kurz vor seiner Pensionierung in den Rücken geschossen worden war. Seine Untersuchung ergab, dass sich alle auf der Liste umgebracht hatten. Dem Anschein nach die einzige Gemeinsamkeit: Circa zehn Jahre lagen zwischen dem Tod des ersten und des letzten; es waren Frauen und Männer; Nutten, Junkies, Arbeiter, aber auch Ingenieure und Architekten; sie hatten sich erhängt, die Kugel gegeben, die Venen aufgeschlitzt, waren ertrunken, gesprungen. „Selbstmörder sind so einfallsreich!“, dachte Caronte, als er zurück nach Hause lief. Irgendetwas passte nicht zusammen. Die simple Tatsache, dass sie auf dieser Liste standen, welche aus den Büroräumen der Zócalo-Gruppe gestohlen worden war, bewies, dass es noch eine andere Verbindung zwischen den Toten gab.

Als er um die Ecke in seine Straße bog, sah er ihn: klein und stämmig, braun gebrannt, mexikanischer Schnurrbart, die Hände in den Taschen seines blauen Trenchcoats vergraben, lehnte er an einer voll gemalten und mit zerfetzten Plakaten beklebten Mauer. Der Trenchcoat und der Schnurrbart verrieten ihn: Die Einwohner von Ninguna nannten sie die „Zeta Boys“ und wünschten inständig, ihnen niemals über den Weg zu laufen – es handelte sich um Adrian Zertuches Killer, die Geheimpolizei der Regierung, Ningunas höllische Wächter.

Rudere, Caronte, rudere: Im Kielwasser deines Bootes verfolgt dich der Tod. Der Tod namens Zertuche!

Er drehte sich um und rannte um sein Leben, betete zu Hades, dass der andere ihn nicht gesehen haben möge. Die irrationale Angst, welche die Zeta Boys auslösten, raubte ihm, so wie der Gestank des Wahnsinns, jegliche Fähigkeit zu denken. Dennoch flimmerte wie ein rotes Neonlicht in der Nacht des Schreckens ein Name in seinem verwirrten Gehirn, ein Name, der auf dem zerfetzten Plakat zu lesen gewesen war, an dem der Killer gelehnt hatte, ein Name, der einer Offenbarung gleich kam: FUTURA.

Die Finca „Los bienaventurados“, die Wälder, Ciudad Juárez … Der Rabe hatte versucht, ihn auf die richtige Spur zu bringen. Wenn er auf ihn gehört hätte, wären die höllischen Wächter nicht auf ihn aufmerksam geworden. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig als zu fliehen, sich zu verstecken, zu trinken, bis er sich in den Wassern des Lethe ertränkt hatte. Ninguna erinnert sich nicht gern, und jetzt weißt du auch, warum, Caronte, schiffsbrüchiger Fährmann, jetzt, wo du dich an Futura erinnert hast, die ehemalige Stadt der Zukunft.

Sébastien Rutés
geboren 1976 in Annecy (Frankreich), hielt schon während der Studienzeit Vorträge zu den Themen Kriminalroman, Fantastische Literatur und Populärkultur. 2003 promovierte er in hispanoamerikanischer Literaturwissenschaft an der Sorbonne Nouvelle zum Werk von Paco Ignacio Taibo II. Derzeitig ist er Dozent (maître de conférence) der Universität Nancy 2 (Frankreich). Zwischen 2004 und 2008 gab er die spanische Krimi-Zeitschrift „Gangsterera“ heraus. Seine beiden Kriminalromane, „Le linceul du vieux monde“ (2008) und „La loi de l’ouest“ (2009) erschienen bei L’atinoir (dem Verlag der das blog der Diez Negritos beherbergt). Einige seiner Kurzgeschichten wurden in Zeitschriften und Anthologien in Frankreich, Spanien und Mexiko publiziert.

Alexandra Hölscher
Jahrgang 1971, seit 2009 Diplom-Literaturübersetzerin, übersetzt als in den Niederlanden aufgewachsene Deutsch-Französin aus dem Französischen, Englischen, Niederländischen und Spanischen. 2005 Übersetzung aus dem Niederländischen ins Deutsche und Französische von „Stochelo Rosenberg – Biographie“, Cento Productions, die Biographie eines Gipsy-Jazz-Gitarristen. 2007 Stipendiatin des Goldschmidt-Förderprogramms für junge Literaturübersetzer. Seit dem Studienabschluss arbeitend in der Welt unterwegs, wird sie ab Herbst 2011 in Berlin sesshaft sein. Zur Homepage.

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