Geschrieben am 8. Oktober 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (17)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige tatsächlich ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen, und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu einer Übersicht aller bisherigen Teile geht es hier

Liebe Diez-Negritos-Fans, Sie haben es alle bemerkt – uns ist in der letzten Ausgabe ein böser Produktionsfehler unterlaufen: Wir haben am letzten Samstag statt dem 17. Kapitel, das von Jorge Moch stammt, das 18. Kapitel von Sébastien Rutés geboostet (auch wenn die Zahl 17 davor stand). Das ist unverzeihlich und wir bitten in alle Richtungen um Verzeihung.

Deswegen springen Sie bitte  heute gedanklich zum Kapitel 16 von Lorenzo Lunar zurück und lesen Sie dann hier weiter:

XVII

Schweine-Massaker oder keiner stirbt zweimal

Jorge Moch

Übersetzt von Johanna Malcher

Lázaro Andrés hatte sein bestes Gastgeberlächeln aufgesetzt. Caronte wie auch Toledo waren seltsam erstaunt. Sie hatten die undeutliche Gewissheit, dass soeben etwas mit ihnen passiert war, ohne dass sie selbst dabei gewesen wären. Toledo rieb sich die Augen. Vor einem Moment hatte Lázaro Andrés noch fast schlank ausgesehen, jetzt war er wieder der ihm vertraute, schwitzende Fettsack. Wie zufällig ließ er seinen Blick schweifen. Er bückte sich, um sich die Schnürsenkel zu binden, hustete. Caronte sah ihn aus geschwollenen Augen an, eine alte Angewohnheit. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht um endlich komplett wach zu werden. Es fühlte sich komisch an, so aus einem Traum nach dem anderen aufzuwachen, als tauche er langsam durch die übereinander liegenden dichten Schichten seines Bewusstseins bis an die Oberfläche von etwas. Aber von was?

Der Plan ging auf. Unbeholfen zu erscheinen, war Caronte noch nie schwer gefallen, doch er musste wissen, wo er sich befand. Während er den Verwirrten mimte, hatte er sich ein vorläufiges Bild des Raumes gemacht. Zwei Schreibtische. Ein Glaskasten mit Feuerlöschset. Eine dunkle, aber offenbar kahle Ecke. Hier war niemand sonst. Spinde, Schränke. Alles verschlossen. Unter einem Stapel mit Akten lag, wie er glaubte, ein schwarzes Kästchen. Ein Ähnliches hatte sein Vater jahrelang mit sich herumgeschleppt. Waren es medizinische Instrumente? Er tat so, als blicke er ins Leere. Er fühlte sich beobachtet.

„Rum“, grunzte er.

„Ich glaube, wir haben da was Besseres.“

„Was?” Bill Toledo und Lázaro Andrés sahen ihn an, der eine mit ungeduldig verzerrter Miene, der andere mit einem beinahe mitleidigen Ausdruck in der Visage. Der Koloss saß an der Seite, die Augen auf den Bildschirm fixiert und durch seine Finger mit dem Klackern der Tasten verbunden. Ein für diese Geschichte schwer vorstellbarer schwülstiger Erzähler hätte jetzt vermutlich gesagt: „Auch wenn sich im Laufe seines Lebens bereits viel Salz in seine spröde Haut gegraben hatte, wusste Caronte García in diesem Moment nicht, in welchem Teil des Alptraums er sich gerade befand.“

„Etwas wirklich Köstliches“, sagte der Riese ohne den Blick vom Monitor zu heben. Seine derbe Stimme bildete einen krassen Widerspruch zu dem koketten Tonfall. Feine Schminkreste in dem kantigen Gesicht mit ausgeprägtem Kiefer weckten in Caronte einen bitteren und diffusen Nachgeschmack von etwas, das erst kürzlich passiert sein musste. „Diese beschissene Müdigkeit“, dachte er.

„Ich will Rum“, sagte nun auch Bill Toledo mit einer Stimme, die verriet, dass er stundenlang getrunken hatte.

„Oder was schlagen Sie vor? Offensichtlich geben Sie ja hier den Ton an“, widersprach er sich plötzlich mit seiner üblichen Stimme, als habe er die schläfrige Langeweile mit einem Mal abgeschüttelt, und kaum wahrnehmbar, in einem Anflug von Gerissenheit, zwinkerte er Caronte flüchtig zu. Der alte Gerichtsmediziner hatte auf einmal den Eindruck, eine Wolfsfratze vor sich zu sehen: Scharfe Reißzähne, die wie ein Skalpell glänzten, Bill Toledos Augen, die plötzlich wieder denen eines Werwolfes glichen. Er lächelte unschuldig, fast schon freundlich. „Der Bill, der Bill, der macht was er will. Du hinterlistiger Trottel“, dachte Caronte, „du willst es tatsächlich tun.“ Er spürte, wie der altbekannte Tropfen kalten Schweißes an ihm hinunterkroch, den Rücken hinab bis zu den Hinterbacken. Instinktiv kniff er den Arsch zusammen, um sein Schaudern zu verbergen, kauerte sich zusammen und merkte, wie sich ihm die Haare auf den Armen und im Nacken aufstellten.

„Teufelspuder für die Herren?“, bot Lázaro Andrés an und wirkte plötzlich aufmerksam, zuvorkommend und arschkriecherisch. Ein falscher fetter Schwachkopf, gefährlicher noch als eine herumwirbelnde Schlange. Blitzschnell hatte er einen kleinen Spiegel auf den Schreibtisch gezaubert und kramte nun in seinen Taschen. Boris lächelte abwesend, verfolgte aus den Augenwinkeln das Spektakel und mit dem Blick das Gekrakel auf dem monochromen, langweilig grünen Bildschirm. Allmählich erschien in schwarz und grün das Emblem des Grupo Zócalo. „Ich bin drin“, sagte er mit ruhiger Stimme, so wie er es von diesen Computer-Helden im Film kannte.

Die Zeit kriecht mit gelegentlichen Aussetzern dahin. Caronte sieht alles durch eine veraltete geistige Stroboskopscheibe. Er ist unruhig. Ist es Angst, die ihn aufwühlt, oder doch nur ein ganz normaler Brechreiz?

„Das muss gefeiert werden!“, fährt Lázaro Andrés mit seinem breiten Grinsen fort und schaut, sagen wir liebevoll, zu Boris hinüber, der wie wild auf die Tasten einhämmert, um etwas auf dem schwarzgrünen Monitor zu bewirken. Caronte beobachtet die beiden aus dem tiefen Loch, das die Müdigkeit gegraben hat. Er ist sich sicher, dass etwas Schreckliches geschehen wird und er unwillentlich Teil des Ganzen sein muss, obwohl er sich am liebsten ganz still verhalten würde, um sein Gift an einem anderen Ort aufzusaugen, zu einer anderen Zeit, in einem anderen Körper. Der arme Lázaro – dieses Arschloch; armer Boris – diabolische Schwuchtel. Andrés hebt die Hand und acht Augen folgen ihr. Zwischen Zeigefinger und Daumen ein winziges Fläschchen. Es sieht aus, als sei es mundgeblasen. Der gleiche Stil, den man aus Tlaquepaque in Jalisco kennt, drüben in Mexiko. Früher war die mexikanische Härte eine Sache, die das Land nicht verließ, brutal, exotisch, weit weg. Ninguna wurde nun aber anscheinend immer mexikanischer. Als lese er seine Gedanken, erklärte Lázaro Andrés vertraulich:

„Diese Kostbarkeit hat mir ein Freund aus Mexiko mitgebracht. Da wo er herkommt nennt man ihn Die Klapperschlange. Ein giftiger Typ, guckt euch sein Gift bloß mal an“, und mit diesen Worten streut er für jeden einen Streifen weißes, glänzendes Pulver. Zur allgemeinen Verblüffung schnalzt Toledo mit der Zunge. „Wenn Sie gestatten“, sagt er feierlich, während er gleichzeitig unter dem Tisch dreimal leicht gegen Carontes Schuh tritt. „Wolf, bist du es?“, denkt dieser beinahe gleichgültig. Einen Moment lang ist nur das angestrengte Klappern von Boris Fingern und das Klirren von Glas in der Hand des ach so freigiebigen Lázaro zu hören. Flinke Finger. Fähige Finger. Gefährliche Finger.

Langsam holt Bill Toledo sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Er öffnet es und zieht einen Ein-Dollar-Schein heraus. Seine Augen glänzen einfach grauenhaft, denkt Caronte und stellt sich vor, dass der Mond dort draußen ein Silberdollar sei.

„Nicht ohne diese Froschhaut“, feixt Toledo. Er überreicht den Schein Lázaro, der die weißen Spuren auf dem Spiegel fertig stellt. Vier fette Raupen.

„Erweisen Sie uns die Ehre und rollen Sie ihn gut auf.“ Toledos Stimme flötet beinahe, aber Caronte erkennt darunter das kehlige Knurren der Bestie. Fast kann er sein Hecheln und Zähnefletschen hören, sein hungriges Heulen. Er schluckt angstvoll und schaut lieber zur anderen Seite. Drei weitere Tritte gegen den Schuh und ein flüchtiger Blick auf die glühenden Kohlen in Bill Toledos Gesicht, lenken seinen Blick auf die Wand hinter Boris. „Im Falle eines Brandes benutzen“, steht da. Buchstaben so rot wie die Augen dieses verdammten Toledos, der nicht aufhört, beim Lächeln seine Zähne zu zeigen, Buchstaben so rot wie Blut, das er in seinem Leben schon so oft fließen und gerinnen sehen hat. Buchstaben, die eigentlich lauten sollten: „Im Falle eines Todes benutzen“.

„Ich tu’s“, verkündet Caronte und steht langsam auf. Andrés sieht ihn erstaunt, aber erwartungsvoll an. Was für ein verdorbener Mistkerl. All diese Gerüchte, die sich schon seit Jahren halten – am Ende stimmen sie doch. Dieser alte Drecksack.

„Nur die Ruhe, alter Knabe. Seien Sie nicht so gierig”, meint Toledo. Er holt ein Plastikkärtchen aus seinem Portemonnaie. „Lassen Sie mich Ihnen helfen…“

„Gesell dich zu unseren Gästen, Boris, was für eine Fr…“, beginnt Lázaro Andrés.

Behutsam, auf eine gewisse Art sogar elegant, streckt Bill Toledo den Arm zu einer einzigen gekonnten Bewegung. Nur Caronte sieht die Regung des Daumens an der Karte. Das Rasiermesser schnellt an einer Seite hinaus und durchtrennt sauber die Halsschlagader. Andrés weicht noch immer lächelnd zurück, doch das Lächeln gefriert auf seinem Gesicht, während sich sein kostbares Blut wie eine Fontäne über den Spiegel ergießt, über die Tastatur, den Schreibtisch und die perversen Finger von Boris, der sich an seiner Seite ungläubig hin- und herwiegt. Der Koloss sagt kein Wort und lässt seine weit geöffneten Augen von seinen blutüberströmten Fingern zu der unnatürlichen Öffnung in Lázaro Andrés’ Hals wandern, dann über Bill Toledos Hand weiter zu dessen Gesicht, das mit der zähflüssigen karmesinroten Flüssigkeit besprenkelt ist, die aus der Kehle seines Chefs quillt, zu diesem Killerhundgrinsen, diesen von rotglühendem Hass erleuchteten Augen und aus reinem Überlebensinstinkt unternimmt er den Versuch, sich zu dem Pistolenhalfter über der Lehne des Stuhls umzudrehen, wendet sich um und vernimmt ein nicht zu identifizierendes Geräusch, spürt wie ihm Splitter auf die Schultern und in den Nacken fallen, die er als Glasscherben erkennt, sieht noch wie Toledo seine Hand erneut über Lázaros Hals fahren lässt und wie dieser sich mit beiden Händen an die Gurgel fasst, als ob er sich außerdem noch erwürgen wolle, wobei er ein seltsames Geräusch von sich gibt, das einem Gurgeln gleicht; doch da hat er sich schon komplett umgedreht, bekommt den Griff der SIG zu fassen, sieht dann aber nach oben, zu seiner Linken, um festzustellen, dass Caronte, der alte Nichtsnutz Caronte, aufgestanden ist und seine Hände unerwartet und plötzlich, schnell und mit großer Wucht hinabschnellen lässt und da spürt er schon nichts anderes mehr als eisige Kälte, vollkommene Trägheit und eine unbestimmte Gewissheit.

Caronte sieht zu, wie Lázaro Andrés allmählich auf dem Stuhl zergeht, ein geschlagener Fettsack, dem die Luft abgelassen wird und der das rote, dunkle Rinnsal seines Lebens vergießt; er sieht zu, wie er diese Welt verlässt, erst die eine blutleere Hand fallen lässt, dann die andere, wie er versucht, etwas zu flüstern, wie zwischen seinen Lippen zunächst winzige rosafarbene Bläschen erscheinen, die einem intensiven Rot in den Mundwinkeln weichen, während sein Kopf nach hinten kippt. Er hört, wie Toledo sein Opfer durch die Zähne ankläfft: „Stirb endlich, du verdammtes Arschloch, das hast du nun davon, mich in diese beschissene Stadt zurückzuholen, du Schwuchtel.“ Caronte sieht Andrés an der falschen Stelle keuchen, dann still werden und sterben. Er sieht, dass er seine Uniform schändlich mit dem Blut besudelt hat, welches immer noch aus dem unfreiwilligen Lächeln seines Halses strömt. Sein Blick wandert zu dem vollgebluteten Kokain, nun ein rotweißer klebriger Teig. Dann schaut er seine eigenen Arme an, sein Hemd, die Hose, die Schuhe – alles vollgespritzt, getränkt von schleimigem Blut, das glücklicherweise nicht von ihm stammt. Für einen Rum würde er jetzt über Leichen gehen.

Bill Toledo schaut erst Caronte und dann dessen gerade vollendetes Werk an. Die Axt steckt verkrustet in etwas, das noch vor wenigen Sekunden ein menschlicher Kopf gewesen war, nun aber sorgfältig und fast genau in der Mitte geteilt ist, wobei der Spalt bis zum Nasenrücken reicht und die Hemisphären voneinander trennt. Der rosarote Brei läuft bereits langsam aus beiden Hälften des gespaltenen Schädels, ein Auge blickt nach links, das andere nach rechts. Boris’ Finger sind am Griff der Pistole erstarrt und sein Gesicht wirkt auf einmal erschreckend asymmetrisch, ist nur noch eine blutige Maske, die geisterhafte angstvolle Grimasse eines Mannes, der sich durch einen einzigen Hieb in eine Demoiselle d’Avignon verwandelt hat, welche geradewegs der Hölle entstiegen ist. Der Alte hat gute Arbeit geleistet. Er hat ein Händchen dafür.

„Saubere Arbeit, alter Haudegen.“

Caronte beugt sich in aller Ruhe nach vorne. Er unterdrückt den Brechreiz, schafft es, nicht zu kotzen. Dann richtet er sich wieder auf, räuspert sich und schaut Toledo mit einer Mischung aus Verachtung und Erschöpfung an.

„Und Sie sollten Chirurg werden, so wie Sie mit Plastikkarten operieren können…“

„Die sollte man immer dabei haben“, lächelt Toledo verschmitzt, als habe er nicht gerade den Mann enthauptet, der vor ihm liegt und das letzte Röcheln mit einem immer noch zuckenden Fuß begleitet. Sein Blick trifft Carontes. Immer noch dasselbe Lächeln, die Grimasse, die Bedrohung:

„Sie hingegen scheinen ja, wie es aussieht, geradezu in Ihrem Element zu sein, sehen Sie doch nur, was für einen präzisen Haarschnitt Sie dem Burschen verpasst haben… Zum Glück müssen Sie ihn nicht wieder zusammennähen, nicht wahr, denn wir haben ja keinen Draht dabei…“

„Fahren Sie zur Hölle, Toledo.“

„Ah, und schon ist er wieder ganz der Alte. Ganz ehrlich, ich hab nicht gedacht, dass Sie die Axt überhaupt anheben könnten. Wir haben echt einiges riskiert, Meister. Übrigens gefällt es mir besser, wenn wir uns siezen.“

„Sie haben ja keine Ahnung, was ich alles kann, Toledo. Was machen wir jetzt?“

Beide spitzen die Ohren und werden sich gleichzeitig darüber bewusst, dass sie im Flüsterton geredet haben. Toledo steht auf, wischt sich ein wenig Blut vom Hosenbein. Sein Blick schweift umher und erfasst alles, was ihnen nützlich sein könnte. In einer Ecke entdeckt er einen Schrank. Er betrachtet das Schloss und so als wolle er seine nächsten Schritte abwägen, wendet er sich den Leichen zu, die weiterhin Lymphflüssigkeit absondern.

„Ich glaube, wir sollten uns umzuziehen und uns dann gebührend rüsten, für den Fall, dass meine Vermutung zutrifft.“

Caronte geht zur Seite, während Toledo geschickt die Kleidung der Leichen durchsucht. In ihren Taschen findet er drei Schlüsselbunde mit denen er das Dämmerlicht des halbeingerichteten Büros durchquert, um den Schrank zu erreichen. Er untersucht die Schlösser und probiert auf seiner Suche einen Schlüssel nach dem anderen aus. Die Tür des Schrankes ist schwer, gepanzert. Eine ebenfalls gesicherte Glasvitrine hält der Bearbeitung durch Toledo nicht stand und er dreht sich mit zwei Sturmgewehren in der Hand wieder um.

„Was für Schönheiten“, sagt er. Behutsam legt er die Waffen auf den Schreibtisch und Caronte schiebt sie vorsichtig beiseite, damit sie ja nicht vom Blut des abgestochenen Polizisten beschmutzt werden. Der plötzliche Ekel vor dieser Vorstellung überrascht ihn selbst. Toledo läuft zwischen Schrank und Tisch hin und her und legt Patronengurte, Magazine und Munition bereit – es ist alles da. Er beugt sich vor und hält plötzlich triumphierend ein paar Kleidungsstücke in der Hand. Alles in schwarz.

„Na los, Schlachter. Ziehen Sie sich um.“ Er selbst beginnt bereits mit dem Entkleiden, indem er die Knöpfe seines Hemdes abreißt.

„Ich will ein Glas Rum”, gibt der Gerichtsmediziner zurück, doch diesmal hört er sich nicht schwächlich an. Toledo beobachtet, wie er blitzschnell die Kleidung wechselt. Man könnte fast meinen, der alte Totengräber genießt dieses Abenteuer. Toledo reicht ihm einen Gürtel mit drei bis zum Rand mit Patronen gefüllten Ladestreifen. Dann überprüft er eine Selbstladepistole, nimmt sie beim Lauf und reicht sie seinem Kollegen.

„Ich nehme an… Nein, ich hoffe einfach mal, dass Sie schießen können, Caronte.“ Während Toledo sich eine kugelsichere Weste überzieht und Caronte beobachtet, will dieser ekelhafte Spott einfach nicht aus seiner Hundevisage weichen. Unter den finsteren Blicken des Gerichtsmediziners kehrt er zum Schrank zurück und überreicht auch ihm eine Weste.

„Nehmen Sie die hier. Die Kugeln werden Sie wohl kaum mit ihrem Mundwerk stoppen können. Soll ich Ihnen die ArmaLite laden?“

„Vergessen Sie’s. Behalten Sie die Karabiner und geben Sie mir noch eine Pistole.“

Toledo sieht ihn mit einem riesigen Fragezeichen im Gesicht an.

„Die Schulter, Sie wissen schon… der Rückschlag, den diese Dinger verursachen, renkt sie mir aus…“

„Scheiße, das sind wohl die Tücken des Alters. Ja, ich weiß schon, ich soll zur Hölle fahren.“

Toledo nähert sich, nimmt die SIG Sauer aus Boris’ Pistolenhalfter, überprüft die Munition und dann ist alles bereit. Er reicht sie Caronte, greift daraufhin nach einer Schachtel Zigaretten, die er neben der blutigen Tastatur entdeckt und wühlt ungeschickt darin herum, bis er eine saubere findet. Direkt daneben steht ein Anzünder, der wie durch ein Wunder trocken geblieben ist. Mit qualmender Zigarette geht er zu den Karabinern zurück und macht sich daran, Magazine aufzureihen. Dann dreht er sich nochmals zu Caronte um und grinst:

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Sie unbestrittener Vertreter der Hölle?“

„Es ist ja reizend, dass Sie mich so gut ausstatten, aber in was für einen Scheißkrieg ziehen wir bitte schön in diesem Aufzug?“

„Sagen wir, mein sechster Sinn lässt mich in dem Glauben, dass diese beiden Arschlöcher uns auf eine bessere Welt vorbereitet haben und wir hier gleich eine nette Party feiern werden.“

Die Toten liegen da wie versteinert. Caronte wirft einen langen Blick auf seinen, ja was ist er denn für ihn? Ein Freund? Ein Beschützer, Kumpel, Komplize? Eine Bestie oder ein gefeierter Draufgänger? Ein Seelenverwandter? Eigentlich würde er sich am liebsten darüber beschweren, dass er keinen Drink in der Hand hat, doch er verhält sich ruhig und betrachtet seine Füße, als hätte er sie noch nie gesehen.

„Sind da auch Stiefel? Diese dämliche Hose ist mir viel zu kurz. Dazu normale Schuhe zu tragen, ist doch reichlich lächerlich.“

„Macht hier einen auf feinen Pinkel. Nein, Sie haben ja Recht, ich guck mal nach… Da ist ein ganzer Haufen, nehmen Sie sich ein Pa…“

Stimmengewirr nähert sich und Caronte wirft sich instinktiv auf den Boden. Sein Kopf stößt gegen Lázaros Bein und das Blut des enthaupteten Polizisten ergießt sich über sein Haar. Scheiße, flucht er im Geiste, während er die Ärmel seines eigenen, gerade abgelegten Hemdes entdeckt, die vom nächsten Stuhl baumeln und mit einer Menge Blut getränkt sind, so als schlürften sie es gierig in sich hinein. Dieses elende Blut. Dieses beschissene Blut, immer muss es auch alle anderen treffen, wenn es hinter dieser dünnen, verletzlichen, verdammten Haut hervorquillt. Aber lass es bitte niemals mein Blut sein, denkt er, zumindest nicht heute. Von seiner Position am Fußboden sucht er Toledos Füße, erahnt jedoch gerade einmal einen schwarzen Fleck. Als er nach oben guckt, blendet ihn eine Leuchtstoffröhre, so weiß und rein, wie das Blut verdammt nochmal sein sollte, dann ist alles schwarz.

Die Stimmen werden von einem Klackern durchbrochen. Absätze. Die Absätze einer Frau. Frauenabsätze und Frauenstimmen und Männerstimmen und gedämpfte Schritte neben dem unverwechselbaren Klackern der Weiberschuhe.

Toledo hatte einen Sprung zum Lichtschalter gemacht und nun liegt alles im Halbdunkel. Obwohl die Dunkelheit einen vorübergehenden Vorteil verspricht, verfluchen beide das Fehlen von Fenstern im Raum. Das hier wird ganz schon übel ausgehen. Sie ahnen bereits, wer da draußen ist, als es im Flur plötzlich still wird. Ganz automatisch hat Caronte die Hand nach vorne gestreckt und auf den Boden gelegt, die Knarre bereit, den Finger am Abzug. Erst in die Knöchel, danach in Bauch und Schädel, so wie es halt am besten klappt. Eins ist aber klar: Er wird einen verdammten Mistkerl nach dem anderen umnieten. Irgendwo links von ihm hört er den Riegelverschluss eines automatischen Karabiners. Auch ohne ihn zu fragen, weiß Caronte, dass Bill Toledo in seinem Element ist, sich gerade froh und glücklich mit der Zunge über die Barthaare fährt. Die Zigarettenglut ist verschwunden.

Ein leichtes Klopfen kündigt für wer weiß wie viele das Ende ihres Weges an. Es wirkt fast schüchtern. Gleichzeitig ist versteckt das Vibrieren eines Handys zu hören, aus einer Jacke oder dem Arsch eines Toten. Wieder klopft es an der Tür, diesmal energischer. Caronte denkt an weiße Knöchel, die allmählich erröten, an lange, korallenrote Fingernägel. Er stellt sich die Stimme der Frau vor. Ob sie wohl wie er die Luft anhält?

„Lázaro.“

Eine Männerstimme. Getuschel. Caronte sieht es förmlich vor sich, wie sie sich zu beiden Seiten der Tür aufstellen, ihre Waffen zücken und den Türspalt angucken wie jemand, der gerade zwei rammelnde Skorpione in einem Tabernakel gefunden hat. Verloren geglaubte Erinnerungen kehren zu ihm zurück. Hier drinnen riecht es nach Eisen und Schweiß, nach der Pisse der Toten. Etwas macht ein klingelndes Geräusch und Caronte meint ungläubig zu hören, dass Bill Toledo wie ein unartiges Kind freudig kichert. Gebt dem Kind seine Bonbons, ihr Penner, denkt er bei sich, während sich die Tür langsam öffnet und ein Fächer aus diffusem Licht nach und nach einige Konturen erkennen lässt.

„Lázaro!“, bekräftigt nun eine Frauenstimme, die das Befehlen gewohnt ist. Caronte ist nicht mehr Caronte. Gebt dem Kleinen seine Süßigkeiten, ihr Schweine. Gebt ihm sein Blut. Und dann hört er nichts mehr, nicht seine eigene Stimme, nicht Toledos, die in der Finsternis tobt, nicht die Schreie der anderen; er achtet nur noch auf die Lichtstrahlen, die weißen, hellgelben und zitronenfarbigen Mündungsfeuer, während die Luft von zügellosen Donnerschlägen zerrissen wird, die ihn wahnsinnig machen, ihn nach vorne stoßen und wieder aufstehen lassen, seine Faust einen Gummigriff fassen lassen und den Zeigefinger mit dem Abzug vereinigen; er hört nicht mal seine eigenen Schreie zwischen Leben und Tod, hat sich selbst vergessen, sich, den alten Fährmann Caronte, das wiedergeborene schlachtende Kind, das in jeder Hand eine Knarre hält und damit das ausspuckt, was ihm schon, seit es denken kann, so gut vertraut ist: den Tod.

Jorge Moch, geboren 1966 in Mexiko-Stadt, ist Journalist, Comicautor, Illustrator und Schriftsteller. Seine Artikel und Kolumnen veröffentlicht er in verschiedenen mexikanischen und ausländischen Zeitungen (z.B. in .La Jornada Semanal). Gelegentlich arbeitet er auch beim Radio und Fernsehen. Moch ist Autor zweier Romane, Sonrisa de gato (2006) und ¿Dónde estás, Alacrán? (2008) und des Erzählbands Hijos de la clepsidra (2007), mit dem er den Premio Nacional de Literatura Efraín Huerta gewonnen hat. Heute wohnt er in Xalapa, im mexikanischen Bundesstaat Veracruz.

Johanna Malcher, Jahrgang 1987, studiert seit 2006 Literaturübersetzen (Englisch/Spanisch) an der Universität Düsseldorf. Während ihrer Schulzeit verbrachte sie ein Jahr in den USA, 2009 absolvierte sie ein Auslandssemester an der Universidad Nacional de Córdoba, Argentinien. Sie arbeitete an Projekten in Argentinien, Kanada und Düsseldorf und untertitelte gemeinsam mit anderen Studierenden den Film „Los Golfos“ von Carlos Saura.