Geschrieben am 22. Oktober 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (19)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige tatsächlich ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen, und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu einer Übersicht aller bisherigen Teile geht es hier

XIX

Die blutbefleckte Familie

Rebeca Mugra

Übersetzt von Frauke Reiminger

Ihr Glückseligen! Fliegt, ihr freien Vögel des Waldes, ihr habt genug zu essen! Wir haben gesiegt! Futura ist ein Schutzschild. Futura ist eine Lanze. Futura für alle. Herzlich willkommen im Wohlstand!

Niemand soll als Opfer von Lieblosigkeit sterben. Der Zorn soll die guten Absichten nicht mindern und wir singen wie die Kinder: „Reich mir die Hand und du wirst mich lieben.“ Völlig unbekümmert. Wir sagen „Lebewohl“ zum Trübsinn.

Lebewohl!

Lebewohl!

Lebewohl!

In Futura werden die Ersten die Letzten sein, in der Leichenhalle wird es nach Rosen duften, weiße Laken, Ferien für den Gerichtsmediziner und ein angemessenes Gehalt geben.

Das Leben muss zu einem glücklichen Ende kommen. Die Toten werden in wahrem Frieden ruhen. Mit vollständigen Körpern und strotzend vor Geist werden sie alle in den Himmel aufsteigen: Politiker und Arbeiter, Jungfrauen und Schwangere, Anwälte, Erben, Menschen und Werwölfe. Alle sind Brüder und Schwestern. Meine Brüder und Schwestern!

In Futura wird es keinen Nicolás Noletti geben, der das Gesicht eines Landstreichers hatte und an Herzschwäche starb. Habe ich Herz gesagt? Nein! In Futura wird das Herz der Nächstenliebe dienen und nicht dem Tod.

Lebewohl dem Gerede und der Angst, sich zu verplappern.

Lebewohl dem Gedanken, dass Lächerlichkeit nicht weh tut.

Lebewohl!

Caronte, Fährmann, Schattenführer, Münzdieb, Dämon mit dem großen Hammer … Welch ein Glück! All diese Worte werden in Futura diesen guten Mann ehren, der nur dafür lebt, Leichen hübsch herzurichten.

Eine Stadt ohne Gassen für einen zehnjährigen Jungen, der in der Obhut seiner Mutter nie den Beruf des Gerichtmediziners erlernen wird. Eine Stadt am Meer, damit die Jugendlichen sich keinen Kai in ihren Träumen erfinden müssen.

Futura. Ohne Jugendliche wie Amandita de Revuelta, die einem alten Kurpfuscher und Familienvater den Kopf verdrehen.

Stadt der Liebe!

„ Die letzte Nacht“ wird das Bestattungsunternehmen heißen, wo man vertrauensvoll seinen frühmorgendlichen Kaffee trinken kann.

Auf der Polizeiwache werden gute Manieren herrschen. Lebewohl den arroganten und analphabetischen Offizieren! Futura soll eine Stadt ohne fettleibige und schlecht rasierte Tenientes sein, denen der Tod an die Kehle springt.

Und es wird das Pantheon und die Hemerothek geben.

Und Rum. Oh, Rum!

Die glückseligen Wälder von Futura, ohne Mütter, die erklären, dass „die Schwarzen zu nichts taugen“. Nein! Futura ist eine Stadt für alle.

Futura, eine Festung der Erinnerung und der Identität. So wird es sein.

Ohne Cuidad Juarez, Cañada Real oder den dreitausend Wohnungen, die im Kontrast zum Gebäude des Grupo Zócalo stehen.

Dort wird „Der Tod Zertuche“ nur ein Spiel für Kinder sein, in dem das Böse besiegt wird. Hurra! Schluss mit den Tyrannen! In Futura wird es keinen Platz mehr für Angst geben!

Ohne geschwätzige Schriftsteller und Romane, in denen ein beschissener Rabe mir die ganze Zeit kluge Lektionen erteilen will.

Ohne fast bartlose, verschwundene Minister.

Und vor allem ohne diesen Kater, der gerade heute meinen Kopf zum Platzen bringt, wenn ich der Überbringer der schlechten Nachricht sein soll.

„Das … das kann nicht sein“, sind Onkel Maximilianos Worte, als Caronte ihm die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbringt. Der Tod des jüngsten Ministers des Heimatlandes. Des geliebten Cousins, wenn Maximiliano nicht gesagt hätte, dass „Eulogio in der Guerilla  Bäuerinnen vergewaltigt hat“.

Des Rätsel, dass ihm den Verstand zu rauben drohte.

Einige Stunden zuvor, als der Gerichtsmediziner sagte: „Na klar, Toledo, da war ein Zeta Boy und ich rannte wie ein Verrückter“, wussten beide, dass sie um Hilfe bitten mussten. Also setzten sie wegen dem Chef des Geheimdienstes und auch wegen einer alten Familiengeschichte auf Carontes Besuch beim künftigen Führer des nationalen Heeres.

Caronte weiß nicht, was er von seinem Onkel halten soll. Als Kind hielt er ihn heimlich für einen König, als Jugendlicher fand er sich damit ab, dass er einen hohen Rang beim Militär hatte und jetzt – verdammter Kater! – will er sich lieber gar nichts vorstellen.

„Helfen Sie uns, Maximiliano“, sagt er mit gespielter Routine.

„Das kann nicht sein!“

„Sie haben den Schmerz und die Macht. Helfen Sie uns.“

Caronte kennt weder Gefühle noch Verbindlichkeiten. Es ist schwierig, in Maximiliano die verlorene Hälfte seines Vaters wiederzuerkennen, aber diese Stimme, die nichts anderes tut, als über ihr Schicksal zu jammern, kennt er nur zu gut. Nur die Stimme erinnert ihn daran, dass er als Kind eine Familie hatte.

„Finden Sie es nicht merkwürdig, dass Ihr Sohn nicht da ist?“

„Warum? Er ist Minister … oder war es zumindest.“

„Die Ehefrau hat die Polizei benachrichtigt.“

„Noch ein Grund mehr für mich, mir keine Sorgen zu machen.“

„Erklären Sie mir das?“

„Diese Frau ist ein Alptraum. Er hat sie nicht mal mehr geliebt. Reisen, Besprechungen, jeder Vorwand war ihm Recht, um von zu Hause fern zu bleiben. Verschwunden: ja, aber tot …“

„Dieses Mal hatte sie recht.“

„Ja, diese verdammte Frau.“

Seitdem sein Vater das erste Mal „hundert mal verdammt“ gesagt hatte, waren Flüche zu einem täglichen Werkzeug in Carontes Leben geworden. Tagsüber lästern. Im Traum schimpfen. Fluchen konnte die Lösung für das Versagen sein; Vorwand und Almosen der Verlierer. Aber als der Onkel „verdammte Frau“ sagt, merkt Caronte, dass gewisse Dinge vererbbar sind. Einfach so.

„Haben Sie vom Futura-Projekt gehört?“

„Wenig.“

„Sie haben vielleicht gehört, dass versucht wurde, die Arbeiten wiederaufzunehmen.“

„Futura. Die Stadt für alle.“

„Wissen Sie, was ich denke? Dass Ihr Sohn umgebracht wurde, weil er Futura verteidigen wollte.“

„Nein.“

„Maximiliano, Ihr Sohn ist ein Held.“

„Sei ruhig. Du weißt gar nichts. Dieser Wald ist nichts anderes als die Brutzelle des Abschaums.“

„Dieser Wald gehörte Ihnen. Und Ihrem Vater.“

„Und später dem Abschaum. Und den Toten.“

„Dort bringen sich alle um. Wissen Sie, warum?“

„Irgendwie sind wir doch alle verrückt geworden. Sehen Sie mich an, sehen Sie meinen Sohn an, folgern Sie selbst.“

„Welches Verhältnis hatte Ihr Sohn zu Nicolás Noletti?“

„Keines, soweit ich weiß.“

„Und zum Grupo Zócalo?“

„Ich kenne keine Antworten. Nur Schmerzen.“

Caronte erkennt die Stimme seines Vaters wieder, die darin geübt ist, um Verzeihung zu bitten. Um Verzeihung für seine Sünden. Um Verzeihung für seine Tölpelhaftigkeit. Um Verzeihung für seinen schlechten Charakter. Mit manchmal dermaßen vor Alkohol strotzenden Worten, dass die Stimme feige und melancholisch klang.

„Entschuldigen Sie.“

„Du bist wie dein Vater. Ich liebte ihn, weißt du?“

„Warum haben Sie ihn dann verraten?“

„Das habe ich nicht.“

„Sagten Sie nicht, er hätte Bauersfrauen vergewaltigt?“

„Nein.“

„Nicht? Wollen Sie mir also erzählen, dass er auch nicht nach Ninguna geschickt wurde und ich kein Gerichtsmediziner bin?“

„Liefern Sie mir einen Beweis. Einen einzigen, der zeigt, dass ich Eulogio verraten habe.“

„Was wollen Sie mir damit sagen?“

„Ich sage dir, mein Sohn, dass ich deinen Vater nicht verraten habe. Und dass dein Vater vom Zorn besiegt wurde. Dass er sich von denen mitreißen ließ, die uns gerne aus dem Weg gehabt hätten, als der Krieg zu Ende war. Den Rest kennst du ja: Er erlaubte mir kein einziges Wort, solange er lebte.“

Jetzt nennt ihn also Onkel Maximiliano „mein Sohn“! Noch nie hatte Caronte so wenig getrunken und schlimmere Kopfschmerzen gehabt. Einer, der aus seinem Vater einen so elenden Menschen machte, nennt ihn nun Sohn. Sohn, einer, der ihn zum Gerichtsmediziner in der Leichenhalle von Ninguna verdammt hatte.

„Du willst mir helfen, und dafür danke ich dir, aber es ist zu spät.“

Es stimmt, dass Eulogio seinem Bruder kein Wort der Entschuldigung oder Unschuldsbekundung gestattete. Es stimmt auch, dass im Krieg alles erlaubt ist. Und es wäre schon möglich, dass andere durch Scharfzüngigkeiten die Brüder um ihre Ehre bringen wollten.

„Wir treffen die Ärztin mit den neun Leben schon bald“, beharrt Caronte.

„Eine Ärztin?“

„Ja. Sie heißt Sonia. Sie ist hübsch und schlau.“

„Und du, bist du verheiratet?“

„Mit dem Alkohol.“

„Keine schlechte Wahl.“

Caronte nickt. Trotz der Kopfschmerzen würde er sich nie den Genuss am Alkohol verweigern. Weder die Übelkeit noch der schwere Stein im Magen könnten ihn davon abhalten.

„Stark, wie dein Vater. Ein Fels in der Brandung. Er wäre stolz auf dich, wenn er dich sehen könnte.“

Aber er kann es nicht, und Caronte schafft es auch nicht, in Maximilianos Blick den Vater zu sehen. Nur in der Stimme scheint Eulogios Anwesenheit zum Vorschein zu kommen, unschuldig wie in alten Zeiten: „Reich mir die Hand, ich habe einen Bruder.“

„Schon merkwürdig, dass wir beide allein geblieben sind“, fügt der Onkel hinzu, und die alten Erinnerungen pochen gegen Carontes Schläfen.

„Und wer ist daran Schuld, Onkel?“

„Die Drogendealer.“

„Die Drogendealer?“

„Solche Leute sind zu allem fähig. Sie kennen keine Gesetze. Sie fürchten nichts im Leben und noch weniger den Tisch in deiner Leichenhalle. Die sind gefährlich.“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll.“

„Jetzt vergiss endlich diesen Vorfall, Caronte“, sagt die Stimme von früher.

„Auf keinen Fall. Das ist eine Frage der Ehre. Familiensache.“

„Dann erlaube mir endlich, dir zu helfen, mein Sohn.“

Rebeca Murga, 1973 in Havanna geboren, ist Schriftstellerin und Literaturkritikerin. Sie studierte Fremdsprachendidaktik, koordiniert eine Schreibwerkstatt und ist Mitglied der kubanischen Schriftstellervereinigung. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Romane, Erzählbände und Kinderbücher: „La enfermedad del beso y otras dolencias de amor“ (2008), „El esclavo y la palabra“ (2008); „La enfermedad del beso“ (2006); „Historias al margen“ (2005); „Desnudo de mujer“ (1998); und in Koautorschaft mit Lorenzo Lunar „Un hombre de vasos capilares“ (2005). Ihre Erzählungen erscheinen in Antholgien in Kuba und im Ausland. Verschiedene Literaturzeitschriften publizierten ihre Erzählungen, Artikel und Rezensionen. Für ihre Werke erhielt sie mehrere Preise.

Frauke Reimringer, Jahrgang 1986, studiert seit 2006 Literaturübersetzen (Französisch/Spanisch) in Düsseldorf. Sie verbrachte ein Semester in Madrid. Zusammen mit  Kerstin Hörmann übersetzte sie die Kurzgeschichte Una mañana con el Hombre del Casco Azul des argentinischen Autors Washington Cucurto. Zuletzt übersetzte sie einen Teil des Dokumentarfilms Die Welt gehört uns! von Anne Bürger. Zur Zeit bereitet sie sich auf ihr Diplom vor.