Geschrieben am 29. Januar 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (10)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen, und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu den Teilen 1 2, 3, 4, 5, 6, 7 , 8 und 9

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Tier-Metaphern

Sébastien Rutés

Übersetzt von Katharina Meyer

Die Tür quietscht wie eine schlechte Erinnerung. Es gab Zeiten, in denen die Scharniere nicht rosteten, weil meine andauernden Besuche es nicht zuließen. Beim geringsten Anflug von seelischem Schmerz suchte ich Zuflucht in diesem Keller, zwischen den vermoderten Erinnerungen an das vermoderte Leben meiner Eltern. Nostalgie, Einsamkeit und Niedergeschlagenheit waren die Schlüssel zu der alten, wurmzerfressenen Holztür. In letzter Zeit gehe ich die alten Stufen nicht mehr oft hinunter, die aus den gleichen porösen Steinen gehauen sind, aus denen auch Ninguna erbaut worden ist. Nicht, weil ich die Schlüssel verloren habe, ganz im Gegenteil. Mein Elend wird von Tag zu Tag größer und schmerzhafter meine Qual. Zu schmerzhaft, als dass sie von den verklärten Erinnerungen an schönere Tage geheilt werden könnten. Die Türen der Erlösung ähneln eher denen von Kneipen als der des Kellers. Aber wenn sich, so wie heute, zum seelischen Schmerz die körperlichen Wunden gesellen, finden die Füße von ganz allein den Weg in die Vergangenheit.

Kaum dass ich die Tür aufgestoßen habe, empfängt mich auch schon der vertraute Gestank nach Feuchtigkeit, Staub und mottenzerfressenem Fell. In der behaglichen Dunkelheit sehe ich die funkelnden Augen. Sie warten auf mich, wie immer und immerfort. Der Geruch von Tierhaut erinnert mich an eine andere Art von Fell …

Ohne Zögern war ich rausgegangen. Für diesen Tag war kein Erdbeben angekündigt, das Gebäude des Zócalo-Konzerns erwartete mich. Die zerlumpte Alte trottete vorüber wie eines dieser zotteligen Steppenpferde, denen auch das abgenutzte Fell ihres Mantels glich. Ein räudiges, lahmes Pferd, dass gerade blut- und dreckverschmiert aus einem Abgrund kletterte, in den es zuvor gefallen war. In der Hand trug sie eine schmutzige Plastiktüte, in der nichts als blutige Eingeweide sein konnten, mit denen sie die Straßenkatzen fütterte, die sicher in ihrem Bett schliefen …

Ich taste mich im Dunklen bis zu dem wackeligen Stuhl voran, der immer als Thron diente, wenn mein Vater sich von den abergläubischen Frömmlerinnen seiner Patienten einen blasen ließ, im Gegenzug für irgendeine sumerische Beschwörungsformel, mit der sie ihren Geliebten für sich gewinnen wollten, gelbe Salben gegen Rheuma und Aids, Pentagramme auf falschem ägyptischen Pergament für unfruchtbare Frauen, Aphrodisiaka von arabischen Sultanen, Barbiepuppen, die mithilfe von Nadeln zu Voodoo-Puppen umfunktioniert wurden, wahre Reliquien der sonderbarsten Körper äußerst apokrypher Heiliger und in einigen Fällen sogar nur, weil sie Lust hatten, ihm einen zu blasen. Beim Hinsetzen quietscht meine Hüfte noch erbärmlicher als die rostige Tür. Schuld daran war nicht nur mein Alter, sondern vor allem der Tritt, den mir ein Killer, ein Experte in bizarren und tödlichen Kampfkünsten, verpasst hat. Und was haben dem Scheißkerl seine Pirouetten gebracht?

Er kam aus einer Nebentür des Konzerngebäudes, als die Alte gerade um die Ecke bog. Groß und blond, mit schwarzem Anzug und Sonnenbrille, sah er genau aus wie das, was er war: Herrchens geschniegelter und gefährlicher Hund. Bestimmt hatten sie ihm den Namen des Konzerns ins Ohr tätowiert, aber heute ging er nicht an der Leine. Sie hatten die Hunde losgelassen.

Es sah aus, als würde er Witterung aufnehmen. Es war ein Leichtes für ihn, seine Beute auszumachen. Sein Spürsinn war der eines Jagdhundes und zudem stank die Alte. Der Hund nahm die Fährte des Pferdes auf. In letzter Zeit benutzte ich ständig Tier-Metaphern. Das sollte ich diesem verrückten Toledo erzählen, für seinen Roman, dachte ich, während ich hinter ihnen her eilte.

Wir verließen das Bankenviertel und stiegen bei Elysion in den Bus. Es war eine lange und vergnügliche Odyssee bis zum Stadtrand. Eine Alte, ein Killer und ein Pathologe sitzen in einem Bus … Das hörte sich wie der Anfang von einem Witz an. Als wir zum zweiten Mal über den Kokytos fuhren, wurde mir klar, dass wir nach Asphodienliengrund fuhren, einem trostlosen Stadtviertel, das vergessen in einer Biegung am Fluss lag. Im Mittelalter ragten dort die königlichen Galgen von Montfaucon aus den Wiesen empor. Ein paar arme Seelen irrten durch die düsteren Straßen, unter denen die Alte und ich nicht weiter auffielen. Der Killer hingegen sah aus wie ein Lebender unter den Toten, mit seinem teuren Anzug und den feinen Schuhen. In der Calle Corrida stiegen wir aus und die Alte betrat ein dreistöckiges Gebäude im Callejón Dante. Der Hund blieb ihr dicht auf den Fersen. Ich warf einen kurzen Blick auf die zugemauerten Fenster und die alten Brandspuren an der Fassade, bevor ich ihnen folgte. Es gab kein Licht im Treppenhaus …

Auf dem Boden finde ich die alte Taschenlampe und schalte sie ein. Weißes Licht erhellt den Keller, die feuchten Kisten, aus denen die Kleider meiner Mutter quellen, die staubigen Regale voller Krempel, die verschimmelten Koffer aus Karton, Bündel und Plastiktüten, den türlosen Schrank, die Spiegel und die Bücher und die Liebesbriefe mit dem roten Band und die leeren Parfümfläschchen und die Scheren und die Nadeln in den Regalen. Und über dem ganzen Haufen, die von meinem teuflischen Vater präparierten Tiere – der Uhu, der Fuchs und der Rabe – die mich wie jedes Mal mit ihren liebevollen toten Augen anblicken …

Im zweiten Stock stand eine Tür halb offen. Eine männliche Stimme war zu hören: „… bestimmt, an ihrem Kühlschrank hing ein Foto des Opfers, das, das Sie dieser verrückten Sandra gegeben haben … Ja … Entschuldigen Sie … Das können Sie sich gar nicht vorstellen, das ist ein Loch. Ich glaube ja nicht, dass die Alte tatsächlich Leichen im Müll versteckt hat, aber man kann ja nie wissen. Ja, ich werd‘ mich auf die Suche machen. Vielleicht gibt es ja einen Keller in diesem Haus. Zwei Leichen lassen sich nicht so einfach verstecken wie Münzen. Auch wenn Sie noch so sehr davon überzeugt sind, dass sie eine Hexe war, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Weißrussin sie hat verschwinden lassen – so wie ein Trickkünstler aus dem Fernsehen, oder was? Ja, Señorita, ich weiß, Sie glauben, dass sie sie gestohlen hat. Es stimmt schon, dass sie stark genug gewesen wäre, um sie auf den Schultern zu tragen. Sie war wirklich ein Pferd. Gut … Wen? Den Pathologen. Ja. Viel zu viele Fragen. Machen Sie sich keine Sorgen. Das Wichtigste ist aber erst mal, dass ich diese Leiche finde, oder zumindest Hinweise dafür, wo sie sie versteckt haben könnte, danach kümmere ich mich um … Moment, warten Sie kurz, Señorita Sonia …“

Die Tür wurde aufgerissen. Der Killer hatte nicht einmal die Sonnenbrille abgesetzt. In der einen Hand hielt er ein Handy, mit der anderen packte er mich an der Kehle und zog mich in den Raum. Unter dem Getöse von zerschepperndem Geschirr knallte ich gegen einen Tisch. Der Boden war klebrig und von Abfall übersät. Ich sah Hähnchenknochen, getrocknete Kröten, Apfelsinenschalen, ein Skalpell, das ich gleich als mein eigenes identifizierte, und ein blutiges Katzenfell, bei ich dem ich sofort an andere Felle denken musste …

Mein Großvater hatte früher immer in den Wäldern der Finca unserer Familie gejagt, die ihm später von der Regierung im Namen von wer weiß was für einer Revolution enteignet worden war, um sie dann leer stehen zu lassen. Die Bäume wurden nach und nach durch Baracken ersetzt und die glückselige Finca „Los bienaventurados“ heißt heute Ciudad Juarez. Wenn mein Großvater das wüsste, würde er ein zweites Mal sterben. Und das zu Recht, denn er war ein Scheißkerl. Aber er war ein Meister im Präparieren von Tieren, das muss man ihm lassen. Wenn der faule Sack nicht auf der Jagd war, verbrachte er den ganzen Tag in seiner Werkstatt und stopfte Tiere aus, die er den Reichen von Ninguna schenkte. Er hatte noch nie im Leben ein Werkzeug in der Hand gehabt, geschweige denn, dass er wusste, wie man das Wort Arbeit auch nur buchstabiert, aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich meine Geschicklichkeit mit dem Skalpell von ihm geerbt habe. Der Uhu, der Fuchs und der Rabe sind die letzten drei Beweise seines Talents. Es waren die Prunkstücke des ganzen esoterischen Drumherums der Praxis meines Vaters. Er war der Ansicht, sie verbreiteten Mystik, aber er kümmerte sich nicht besonders um sie. Sie erinnerten ihn an den Scheißkerl von meinem Großvater. Der Fuchs wurde mit Katzenfell geflickt, auf den Raben hat sich irgendwann jemand drauf gesetzt und dem Uhu fiel ein Auge aus. Mich erinnern sie an meinen Vater und den wiederum an seinen. Aber an wen erinnern sie mich denn noch?

Ohne das Handy loszulassen hob mich der Killer mit erstaunlicher Leichtigkeit hoch. Er hatte nichts gesagt, aber er grinste. Ein seitlicher Tritt in die Hüfte schleuderte mich herum, ein gerader Fußstoß traf meine Brust und beförderte mich in die andere Ecke der Küche, genau auf den leblosen Körper der Hexe. Der Killer war ein Meister in Karate, Taekwondo oder was weiß ich für einem Scheiß. Er war diszipliniert und elegant. Man sah, dass es ihm Freude bereitete, als würde er Katas in der Halle trainieren.

„Einen Moment noch, Señorita …“

Er verpasste mir ein paar Handkantenschläge, wodurch meine Augenbraue aufplatzte, den ein oder anderen Armhebel und einen besonders eleganten gedrehten Sprungtritt. Ich sehe es gern, wenn die Leute Freude an ihrer Arbeit haben und sie gut machen. Als er sich erneut näherte, steckte ich ihm das Skalpell säuberlich in sein Ohr, ohne die Haut zu verletzen, für den Fall, dass ich es sein würde, der hinterher seinen Körper herzurichten hätte. Ich würde schon genug mit der Wiederherstellung meines eigenen Gesichts zu tun haben, da wollte ich keine Zeit mit seinem verlieren. Ich habe auch Freude an meiner Arbeit und das war das erste Mal, dass ich mir selbst welche beschaffte. Bei diesem Gedanken hob sich meine Laune, trotz der Schmerzen. Ich konnte mich nicht einmal zu ihm hinunterbeugen, um mir Gewissheit über seinen Tod zu verschaffen, aber man konnte die Spitze des Skalpells sehen, die aus dem anderen Ohr wieder herauskam. Es bestand kein Zweifel. Ich nahm das Handy an mich.

„Señorita Sonia, hier Caronte García zu Ihren Diensten. Wie geht’s denn so?“

„Wo ist Gunther?“

„Gunther? Was für ein lächerlicher Name für einen Karateka. Was meinen Sie, wäre das nicht eine passende Grabschrift?“

„Sie sind ein toter Mann, Caronte.“

„Welchen meiner Tode meinen Sie, Señorita?“

Aufgelegt. Kein Sinn für Humor. Ich steckte das vom Blut meiner Augenbraue verschmierte Handy in meine Tasche. Die Wirbelsäule der Alten war gebrochen. Sie hatte noch nicht einmal ihren Kamelhaarmantel abgelegt. Plötzlich klingelte das Telefon. Nicht das Handy, sondern das Festnetz. Ich hob ab. Eine männliche Stimme sagte zögernd:

„Guten Tag … Entschuldigung … Ich glaube, ich habe mich verwählt. Wohnt dort nicht Señor Fernández?“

„Was für ein raffinierter Trick, Toledo!“

„García? Der verdammte Doktor Frankenstein vom Dorfe! Sind Sie das? Habe ich bei Ihnen angerufen?“

„Ich habe gar kein Telefon zu Hause. Was ist los, Toledo? Sind Sie besoffen? Wissen Sie nicht einmal mehr welche Nummer Sie gewählt haben?“

„Ich habe die letzte gewählt, die Sandra benutzt hat, kurz bevor sie den Weltrekord im Treppenspringen ohne Fallschirm gebrochen hat. Wo sind Sie, García?“

„Im Haus einer zukünftigen Kundin. Wenn Sie mich auf ein paar Gläser Rum einladen, erzähle ich Ihnen alles. Die Geschichte handelt von weißrussischen Hexen und deutschen Karatekas. Ich erzähle Sie mit Tier-Metaphern. Sie wird Ihnen gefallen …“

„Hat die Kundin einen Namen?“

„Warten Sie, ich schau nach.“

Ich drehte die Alte um. Sie wog mehr als ein totes Pferd. Im Konzerngebäude hatte ich bemerkt, wie sie ihren Ausweis in der Innentasche ihres Mantels verstaute. Als ich sie herumdrehte, fielen ihr die langen, dreckigen Haaren aus der Stirn, die ihr Gesicht bisher verdeckt hatten. Da sah ich ihr Gesicht mit dem eingeritzten Kreuz und erkannte sie …

„Und, Idiot?“ fragt der Rabe mit seiner ewigen Ironie.

„Und was?“

„Kommst du drauf?“

„Ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht so genau …“

„Ach, nein? Soll ich deine Erinnerung ein wenig auffrischen? Ich habe alles gesehen. Der weißrussischen Schülerin hat dein Vater seinen besten Trick gezeigt. Besser als ein weißes Kaninchen aus einem Hut hervorzuzaubern. Zauberei auf höchstem Niveau und ganz ohne Hände … Und wie immer musste deine Mutter nach der Vorstellung wieder alles wegräumen und die … Kaninchen …, die aus dem … Hut … deines Vaters kamen, verschwinden lassen. Du hast ihr dabei geholfen, aber an dem Tag bist du durchgedreht. Warum hast du deine Wut gerade an ihr ausgelassen? Was hatte sie, was die anderen nicht hatten? Erinnerst du dich daran?“

„Nein …“

„Sie sah deiner Mutter ähnlich“, murmelt der Fuchs, um dem Raben eins auszuwischen.

„Warum wolltest du nicht, dass er sich von sich aus daran erinnert? Du und deine verdammte Geltungssucht.“

„Sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich“, sage ich, ohne mich um seine ewigen Zurechtweisungen zu kümmern.

„Doch, taten sie wohl. Sie waren sich vollkommen gleich, außer, dass die Weißrussin jünger war als deine Mutter. Du warst kein besonders schlaues Kind, Caronte, aber trotzdem hast du etwas geahnt. Du wusstest, was passieren würde. Deshalb hast du ihr das Gesicht verschönert …“

„Aber, war sie denn nicht tot?“

„Und du, Caronte García, wie viele Male bist du gestorben?“

„Mit euch kann man nicht reden.“

„Ich hab doch noch gar nichts gesagt“, protestiert der Uhu.

„Übrigens, wie lange ist es her, seit du uns das letzte Mal besucht hast?“, fragt der Fuchs. „Sonst kamst du doch immer. Weißt du noch? Du hast uns immer alles erzählt. Wir kennen dich gut. Wir haben dich aufwachsen sehen. Erinnerst du dich an diesen Tag mit deiner Cousine, in der Praxis deines …“

„Es reicht! Weißt du, warum ich euch nicht mehr besuche? Weil ihr Geschichten erzählt, die man gerne vergessen würde.“

„Hör nicht auf den Fuchs“, protestiert der Uhu, wie üblich in seinem belehrenden Ton. „Er wird senil …“

„Ich, senil? Du Arsch“, jault der Fuchs.

„Ey …“, erwidert der Uhu beleidigt.

„Schluss jetzt!“, ruft der Rabe, „glaubt ihr, dass ihr ihn so davon überzeugen könnt, uns mitzunehmen?“

„Mitnehmen?“, frage ich.

„Scheiße! Wusste ich’s doch.“

„Ja“, stöhnt der Uhu. „Wir haben nachgedacht. Uns ist langweilig. Nimm uns mit in deine Wohnung. Oder besser gesagt, in dein Büro. Wir …“

„Seid still“, schreit der Fuchs. „Ich wollte mit ihm über die Calle del Espejo reden …“

„Die Calle del Espejo?“, fragen der Rabe, der Uhu und ich.

„An jenem Tag, da hat deine Cousine dir etwas anvertraut, erinnerst du dich? Die garçonnière deines Onkels?“

„Dort, wo er seine Geliebten empfing und seine schmutzigen Geschäfte abwickelte? Hatte ich vergessen. Du hast Recht. Kann sein, dass es sich lohnt, ihm einen Besuch abzustatten. Ich bin schon auf dem Weg …“

„Hast du nicht etwas vergessen?“

„Was?“

„Die Hausnummer. Die Calle del Espejo ist lang.“

„Erinnerst du dich?“

„Natürlich.“

„Worauf wartest du?“

„Bringst du uns in dein Büro?“

Sébastien Rutés, geboren 1976 in Annecy (Frankreich), hielt schon während der Studienzeit Vorträge zu den Themen Kriminalroman, Fantastische Literatur und Populärkultur. 2003 promovierte er in hispanoamerikanischer Literaturwissenschaft an der Sorbonne Nouvelle zum Werk von Paco Ignacio Taibo II. Derzeitig ist er Dozent (maître de conférence) der Universität Nancy 2 (Frankreich). Zwischen 2004 und 2008 gab er die spanische Krimi-Zeitschrift „Gangsterera“ heraus. Seine beiden Kriminalromane, „Le linceul du vieux monde“ (2008) und „La loi de l’ouest“ (2009) erschienen bei L’atinoir (dem Verlag der das blog der Diez Negritos beherbergt). Einige seiner Kurzgeschichten wurden in Zeitschriften und Anthologien in Frankreich, Spanien und Mexiko publiziert.

Katharina Meyer wurde 1979 in Bersenbrück geboren. Seit 2005 Studium des Literaturübersetzens in Düsseldorf mit den Fächern Spanisch und Französisch. Auslandssemester an der Universität Santiago de Compostela. Mitarbeit an Projekten, u. a. in Mexiko, Cuba, Spanien, Großbritannien und Frankreich. Gemeinsam mit anderen Studierenden Untertitelung des spanischen Filmes „El bosque animado“ (1987, José Luis Cuerda).