Über Anpassung und Über-Leben
– „Raum“ ist eines der aufwühlendsten Kinoereignisse des Jahres. Sonja Hartl hat sich dem Buch von Emma Donoghue und dem gleichnamigen Film von Lenny Abrahamson beschäftigt.
„Heute bin ich fünf. Als ich gestern Abend in Schrank eingeschlafen war, war ich noch vier. Aber dann wache ich im Dunkel in Bett auf und bin plötzlich fünf, Abrakadabra.“ Mit diesen Sätzen beginnt Emma Donoghues Roman „Raum“, in dem der nun fünfjährige Ich-Erzähler Jack von seinem Leben erzählt, dessen Eigentümlichkeiten anfangs vor allem sprachlich markiert sind. Er wacht „in Schrank“ auf, nicht „in dem Schrank“, er ist „durch Oberlicht“ auf die Welt gekommen, seine Ma schaltet „Lampe“ an, nicht „eine Lampe“. Denn das Leben des fünfjährigen Jack ist beschränkt auf einen Raum, mit einer Lampe, die Lampe heißt, einem Schrank, in dem er schläft, und einem Oberlicht, durch das seine Ma und er in den Himmel gucken können, doch nur sie ahnt etwas von der Welt außerhalb des Raums. Denn Jack hat niemals woanders gelebt, für ihn besteht die Welt aus ‚Raum’, alles andere sei laut seiner Ma „nicht echt“. Für den erwachsenen Leser entwickelt aus Jacks Perspektive und über sie hinaus das gesamte Grauen seines Daseins: Fast jede Nacht kommt „Old Nick’ in Raum, dann muss Jack im Schrank sein und sollte eigentlich schlafen. Jack ist ein Kind, er versteht nicht, dass der nächtliche Eindringling seine Mutter vor Jahren entführt, in dem Raum gefangen hält und vergewaltigt.
Die Perspektive eines Kindes ermöglicht andere Perspektiven auf schreckliche Dinge. In einem Buch wird sie vor allem durch sprachliche Eigenheiten, aber auch der Sicht- und Erlebnisweise des Erzählers deutlich – wenngleich auch Jack für einen Fünfjährigen trotz gelegentlicher Fehler über ein erstaunliches Sprachvermögen verfügt. In einer Verfilmung wird nun die kindliche Perspektive oftmals lediglich wie beispielsweise in „Die Bücherdiebin“ auf eine Kinderstimme aus dem Off beschränkt, indes die Narration von weitaus mehr Einsichten zeugt als ein Kind haben könnte – zudem sieht die Kamera und damit der Zuschauer meistens mehr.
In seiner Verfilmung von „Raum“ behält Regisseur Lenny Abrahamson nun die Perspektive insbesondere in der ersten Hälfte des Films konsequent bei. Der Film beginnt mit der Stimme aus dem Off, die von ihrer Geburt erzählt und dann Vertrautes begrüßt: „Guten Morgen, Lampe. Guten Morgen, Waschbecken“ ist zu hören, dazu streift ein langhaariges Kind durch den Raum. Das ist Jack (Jakob Tremblay), der den Zuschauer informiert, dass er seit seiner Geburt in ‚Raum’ mit seiner Mutter Joy (Brie Larson) lebt. Sie haben feste Routinen, sie frühstücken, machen Sport-Übungen, lernen und sehen fern. Abends muss Jack dann in einem Schrank verschwinden, dann kommt Old Nick (Sean Bridgers).
Im Roman zählt Jack dann die Geräusche, die das Bett macht, ohne zu wissen, was passiert. Im Film bleibt die Kamera mit Jack im Schrank, die Vergewaltigung ist allein auf der Tonebene durch das Knarren des Bettes zu hören. Indem der Film nun die Perspektive des Kindes beibehält, sich aber explizit an ein erwachsenes Publikum richtet, erzählt er von dem Schrecken dieses Daseins, ohne es auszubeuten. Dadurch entsteht ein noch größeres konstantes Unbehagen als im Roman: der Zuschauer weiß mehr als der Erzähler Jack über die Umstände seines Lebens, ist aber ebenso wie er innerhalb dessen Begrenzungen und beschränkten Sichtweisen gefangen. Dabei fasst Kameramann Danny Cohen die Weite und zugleich klaustrophobische Enge des Raumes perfekt ein. Für Jack ist ‚Raum’ ein Ort unzähliger Möglichkeiten und Entdeckungen, wenn er mit seiner Mutter mit Eierschalen etwas bastelt, ist es im Bild ein warmer Moment voller Zuneigung, während der Zuschauer zugleich weiß, dass es für Joy eine furchtbare Gefangenschaft ist, dass das Schreien Richtung Oberlicht mehr als eine Übung ist.
Achtung Spoiler: Bis hierher – oder eben weiter
Wer weder den Roman noch die Handlung kennt, sollte an dieser Stelle tatsächlich aufhören zu lesen und erst den Film sehen. Diese erste Stunde des Films gehört zu den besten Kinominuten des Jahres, aber vor allem ist „Raum“ ein Film, über den man vorher am besten so wenig wie möglich weiß. Daher: erst den Film sehen, dann hier weiterlesen!
Dann verändert sich Jacks Welt radikal. Seine Mutter will einen weiteren Versuch zur Flucht wagen, daher erklärt sie ihm, dass die Welt nicht nur aus Raum besteht. Obwohl er nicht versteht, warum sie Raum verlassen will, führt ihr einziger Ausweg über Jack. Also stellt er sich tot – und lässt sich im Teppich eingerollt von Old Nick aus Raum tragen und auf den Pickup werfen. Sobald Jack den Raum verlassen hat, transportieren Ton- und Bildebene die Überforderung und Reizüberflutung des Jungen. Er sieht zum ersten Mal den Himmel, Wolken, Stromleitungen, aber er ist erst fünf Jahre alt und hat bisher alles für Fiktion gehalten. Diese Minuten seiner Flucht sind dadurch unfassbar spannend und aufregend, es mischt sich die Jacks Überforderung mit dem Mitfiebern, ob er es schaffen wird. Auch im Folgenden finden Abrahamson und Cohen immer wieder Bilder, die Jacks veränderte Wahrnehmung einfangen. Er hat Schwierigkeit mit der Helligkeit des Tages, daher sind die Bilder oft schmerzlich überbelichtet, wenn er überfordert ist, klammert er sich an seine Mutter, so dass die Stimmen gedämpft erscheinen.
Je weiter der Film dann voranschreitet, je mehr sich Jack an seine neue Welt gewöhnt, desto konventioneller werden die Bilder – und der Film. Weiterhin bleibt er bei Jack, aber er erzählt fortan von der Rückkehr in ein Leben. Hier kann Abrahamson auf seine fantastischen Darsteller vertrauen, allen voran Brie Larson, die Joys beeindrucke Stärke, ihre Mutterliebe und zutiefst verstörte Psyche erkennen lässt. Dazu hat Emma Donohue in ihrer Adaption ihres Buchs einige gute Entscheidungen getroffen, indem sie Joy und Jack nach der Flucht recht schnell in das Elternhaus zurückkehren lässt. Dadurch finden die folgenden Konflikte konzentriert statt, wenngleich insbesondere Jacks Zurechtfinden zu motivisch abgearbeitet wird. Aber im Vergleich zum Roman gibt es weniger Redundanzen, auch ist die Handlung durch Verzicht etwa auf die vorige Geburt, den Bruder und die Adoption wohltuend gekürzt.
„Raum“ ist von den Entführungsfällen der Realität inspiriert worden, insbesondere von Josef Fritzl, dessen Tochter in der Gefangenschaft sieben Kinder geboren hat, von denen drei bis zu ihrer Befreiung von der Geburt an ausschließlich im Keller lebten. Jedoch stehen im Mittelpunkt des Films weder die kriminellen Taten noch wie zum Beispiel in Sherry Hoffmans „3096 Tage“ über die Entführung von Natascha Kampusch die Beziehung zwischen Opfer und Töter. Vielmehr bleibt der Film bei dem Sohn und seiner Mutter. Deshalb ist nach ihrer Flucht auch nur zu erfahren, dass „Old Nick“ gefasst wurde. Erzählt wird indes von der Anpassungsfähigkeit des Menschen, bei Jack bedingt durch seine „Unschuld“, bei Joy durch ihren Überlebenswillen. Und wie Jack nach der Flucht erst lernen muss, in der neuen Welt zurechtzukommen, muss auch Joy lernen, wieder in ihr zu leben. Ihre depressiven Schübe hören nicht auf, an die Stelle des Überlebens ist ein Wieder-leben getreten. Und das wird beeindruckend und einfühlsam erzählt.
Sonja Hartl
Die Internetseite von Emma Donoghue und Wikipedia zur Person. Zum Roman.
Film: Raum (Room), Irland/ Kanada 2015. Regie: Lenny Abrahamson, Buch: Emma Donoghue, Kamera: Danny Cohen, mit: Brie Larsen, Jacob Tremblay, Sean Bridgers. Länge: 118 Minuten; FSK: frei ab 12 Jahren. Verleih: Universal Pictures International.
Roman: Emma Donoghue: Raum (Room), 2010 Übersetzt von Armin Gontermann. Piper Verlag, München 2012. 416 Seiten, 9,90 Euro.