Geschichte und Geschichten:
Der Trümmerkrimi als eine Art gesellschaftliche Psychoanalyse der zerrissenen Gegenwart
Immer noch und immer wieder ein spannender Trend auf dem deutschen Buchmarkt: Romane, die in der Nachkriegszeit angesiedelt sind – und die gesellschaftlichen Strukturen damals nicht bloß spiegeln, sondern mit den Mitteln der Unterhaltungsliteratur spürbar machen wollen. Zentrum und Motor dieser Entwicklung ist die Kriminalliteratur mit den so genannten „Trümmerkrimis“. Genreromane also, die einen Anker in der Zeit des endenden Weltkriegs haben bzw. in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Das gibt es nun schon seit einigen Jahren, etwa von Harald Gilberts oder Mechthild Borrmann; eingebettet in den „größeren“ Trend zum zeitgeschichtlichen Spannungsromanen, der schon lange vor „Babylon Berlin“/Volker Kutscher von Schriftstellern wie Robert Hültner und Marek Krajewski mit ihren Geschichten aus den 1920er und 1930er Jahren grundiert wurde.
Eigentlich nichts Neues also – trotzdem ist es bemerkenswert, wie stark sich die Sub-Marke des „Trümmerkrimis“ in den letzten Jahren am Markt platziert und entwickelt hat. Es gibt eine stete Zahl an Veröffentlichungen, die den Übergang zwischen Krieg und „Nachkrieg“ ausleuchten, immer wieder sind auch Bestseller dabei, etwa „Trümmerkind“ von Mechthild Borrmann – und diese Art von Geschichten hat eine gewisse Strahlkraft übers Genre hinaus. Bestes Beispiel: Der Roman „Altes Land“ von Dörte Hansen, der zum Überraschungs- und Dauerbestseller wurde; im Grunde genommen ein Trümmerkrimi minus Krimi.
„Trümmerkind“, der exzellente Roman von Mechthild Borrmann, der vor einigen Monaten im Taschenbuch und auch in der Hörbuch-Variante erschien, gelesen von Vera Teltz, ist so etwas wie der Vorzeige-Trümmerkimi, der diese spezielle Form des zeitgeschichtlichen Narrativs fast optimal verkörpert und ausfüllt: Eine Geschichte, die in Hamburger Trümmerlandschaften beginnt, zugleich aber auch eine Ebene in der Gegenwart (in diesem Fall: der Neunziger Jahre) erzählt, natürlich dabei die Verbindungen und Wirkungen untersucht, die zwischen dem Damals und dem Jetzt bestehen. Und diese Verbindungen sind essentiell, die Gegenwart auf dünnem Eis ist massiv von den Wirkungen der Vergangenheit geprägt. Eine Prägung, die die Betroffenen erschüttert, die Ermittlungen in Bezug auf die Herkunft sind eine Art therapeutischer Prozess, und zwar mit ungewissem Ausgang. Denn wer weiß schon, was sich damals, in den letzten Kriegstagen im großen, apokalyptischen Chaos wirklich ereignet hat, wie kann man das rekonstruieren, wer kann das bezeugen? Wer weiß, ob man tatsächlich der ist, der man zu sein glaubt?
Der Krimi eignet sich natürlich perfekt, um solch eine Recherche durchzuführen, weil die alles entscheidende Identitätsfrage zur Ermittlung in eigene Sache wird, die raffinierterweise zugleich eine in Sachen Gesellschaft ist. Und natürlich kommt es nicht von ungefähr, dass die Trümmergeschichten gerade jetzt solch ein Thema sind, in Zeiten, in denen angesichts des Populismus um die Identität der Gesellschaft gerungen wird wie seit Jahrzehnten nicht. Die Zeit ist aber auch deshalb reif für solche Prozesse und Geschichten, weil die Kriegskinder mittlerweile in ein Alter gekommen sind, in dem die Erinnerung (eben an die prägende Kindheit) größeren Raum einnimmt gegenüber dem Gegenwärtigen des gelebten Lebens. Hinzu kommt: Über Flucht im Sinne von Vertreibung zu sprechen war ja Jahrzehnte lang mehr oder minder tabuisiert, das ist heute nicht mehr der Fall, weil die Ideologisierungen an Relevanz verloren haben, so dass man ohne Scheu auf auf Erlebnisse, Erfahrungen, Lebensgeschichten schauen kann.
Und hier kommt es in den Trümmerkrimis zu einer weiteren Koinzidenz mit der Gegenwart, angesichts der gesellschaftspolitischen Prozesse der letzten Jahre – in Bezug auf Migration und die so genannte „Flüchtlingskrise“: Flucht ist ein zentrales Thema fast aller Trümmerkrimis; nur das, im Gegensatz zur Gegenwart, hier in der Regel Deutsche aus Deutschland zu Deutschen in Deutschland fliehen. Trotzdem werden diese Geflüchteten, Vertriebenen, Deportierten, Überlebenden behandelt wie der letzte Dreck – ein Aha!-Erlebnis, wenn man diese Stränge mit einem Blick auf aktuelle Diskurse abgleicht.
Ein zentraler Aspekt zum Beispiel in dem – hervorragenden – Roman „Kaltenbruch“ von Michaela Küpper, in dem die Autorin nicht bloß die Geschichte einer Mordermittlung auf dem Land, eben in Kaltenbruch im Rheinland, erzählt – sondern zugleich auch ein engmaschiges, vielschichtiges, fast soziologisches Portrait der Nachkriegsgesellschaft skizziert. Und genau das zeichnet diesen feinen Roman aus: „Kaltenbruch“ ist kein plakativer Krimi, das Verbrechen samt seiner Ermittlung gibt der Geschichte lediglich Struktur und Antrieb; die Genauigkeit, mit der Lebenswege, Schicksale, Befindlichkeiten und vor allem die Traumatisierungen der Kriegszeit gezeichnet werden, ist allerdings durchaus spektakulär.
Und dann ist da noch die Frage der Kontinuitäten im vermeintlich größten Umbruch der deutschen Geschichte, ein letztes wichtiges Thema vieler Trümmer- und Nachkriegskrimis. „Kaltenbruch“ zum Beispiel liefert im Rahmen der Dorfgemeinschaft einen klaren, unverstellten Blick auf die Karrieren derer, die vor und nach dem (vermeintlichen) Ende des Nationalsozialismus eher mehr als weniger zu sagen hatten. Die BRD war eben keine lupenreine Vorzeigedemokratie von Beginn an; im Gegenteil, eher ein fragiles, brüchiges Konstrukt, das vielfach von den „alten Kräften“ durchsetzt war. Das wissen wir natürlich aus vielen historischen Untersuchungen; der Trümmerkrimi macht aus diesem eher abstrakten Wissen erlebte Geschichte, an die man als Leser nahe heranrücken kann – Erinnerungskultur mit den Mitteln der Unterhaltung.
Das bieten übrigens auch zwei interessante aktuelle Politkrimis, die ganz oder teilweise in die Nachkriegszeit führen. Wobei: „Der große Plan“, der neue Roman von Wolfgang Schorlau mutet erstmal gar nicht wie eine Nachkriegsgeschichte an: Vom Außenminister höchstpersönlich erhält Privatdetektiv Dengler (jetzt, in der Gegenwart) den Auftrag, eine verschwundene Beamtin zu finden, die vom Ministerium an die Griechenland-Troika abgestellt wurde. Der Ermittler macht sich also auf die Suche nach Anna Hartmann – und stößt bald auf eine Geschichte, die dann eben doch das Damals mit dem Jetzt verbindet: Verschiedene Aktivitäten um die EU-Finanzpolitik auf der einen – das Wüten deutscher Soldaten deutscher Besatzer im Griechenland der 1940er Jahre plus deren (Bank-) Geschäfte nach Kriegsende auf der anderen Seite. Und ja, da gibt es Zusammenhänge, zumindest in der Welt, die Wolfgang Schorlau konstruiert.
„Der große Plan“ ist Schorlaus neunter Dengler-Roman – ein starker Politkrimi, geschickt dramatisiert und dicht recherchiert. Ein Roman zudem, der einen selbst dann nochmal anders auf die deutsch-griechischen, griechisch-deutschen Beziehungen schauen lässt, wenn man sich eingehend mit diesem Thema beschäftigt hat, dann auch, wenn man „die Griechen“ mit ihrer beispiellosen (Gast-)Freundlichkeit ein wenig kennenlernen durfte – nämlich mit Erstaunen, Erkennen, Beschämung.
Und apropos – die Banken: Informativ und lesenswert ist auch Jan-Christoph Nüses Debütroman „Operation Bird Dog“ (Gmeiner, Euro 15), der im Kern in´s Jahr 1948 führt, zugleich aber auch um die Zeit davor wie auch die danach kreist. Auch ein Trümmerkrimi, wenn man so will …
1948, das war das Jahr, in dem die Währungsreform stattfand, die D-Mark eingeführt wurde – wodurch die Verantwortlichen nicht bloß den Schwarzmarktwahnsinn der unmittelbaren Nachkriegszeit beendeten, sondern auch die Grundlage des anschließenden Wirtschaftswunders legten. Jan-Christoph Nüse erzählt einerseits von den Hintergründen dieser Entscheidung und von der Geheimdienstaktion zum Transport des neuen Geldes, da hat die Geschichte Züge eines Politthrillers.
Andererseits geht’s um einen Jungen, der nur knapp den gemeinschaftlichen Selbstmord der Eltern überlebt hat. Ein paar Jahre später versucht er, erwachsen geworden, herauszufinden, was den Vater, einen Bankier, dazu getrieben haben könnte – und muss bald feststellen, dass es so einige Kreise gibt, die alles tun würden, um die Antworten auf seine Fragen unter dem Tisch zu halten. Insbesondere natürlich, und da gibt es Koinzidenzen mit dem Roman von Wolfgang Schorlau, Kräfte des untergegangenen Reichs, die nicht davon ausgehen, dass ihre Zeit schon ganz und gar vorbei sein könnte …