Geschrieben am 15. Januar 2017 von für Crimemag, Primärtext

Essay: Lee Child: Jack Reacher

lee ChildJack Reacher

Von Lee Child

(In einer Übersetzung von Susanna Mende)

Einundzwanzig berühmten Krimiautoren mit Detectives als Serienhelden hat Otto Penzler, ausgewiesener New Yorker Krimiexperte und Betreiber des Mysterious Bookshop, die gleiche Frage gestellt: Wie ist Dein Held eigentlich entstanden?
Die einundzwanzig Antworten darauf sind 2009 in Form von Essays in dem lesenswerten und erhellenden Band „The Lineup – The World’s Greatest Crime Writers Tell the Inside Story of Their Greatest Detectives“ erschienen. Zu den Autoren, die diese Frage beantwortet haben, gehört auch Lee Child. Er hat uns diese exklusive deutsche Veröffentlichung sehr freundlich genehmigt.

Wo soll ich anfangen? Zum ersten Mal ist Jack Reacher in gedruckter Form am 17. März 1997, am Saint Patrick’s Day, in Erscheinung getreten, als Putnam Killing Floor (auf Deutsch: „Größenwahn“) in den USA veröffentlichte, was auch mein Debüt war. Doch kann ich seine Entstehung mindestens bis Neujahr 1988 zurückverfolgen. Ich arbeitete damals für einen privaten Fernsehsender in Manchester, England. Ich war seit elf Jahren Präsentationschef, was ein bisschen wie die Luftaufsicht für die Fernsehübertragung war. Im Februar 1988 hatte das kommerzielle Fernsehen damit begonnen, vierundzwanzig Stunden zu senden. Zuvor hatte die Geschäftsleitung ein Jahr lang darüber diskutiert, wie man diesem erweiterten Aufgabenfeld personaltechnisch Herr werden sollte. Keiner von uns wollte wirklich nachts arbeiten. Und die Geschäftsleitung wollte kein zusätzliches Personal einstellen. Ende der Geschichte. Eine Pattsituation. Stillstand.

Den Durchbruch brachte eine enorme Gehaltserhöhung. Wir nahmen sie, und ab dem neuen Jahr arbeiteten wir zehn fette und fröhliche Monate unter den neuen Vertragsbedingungen. Ich ging zu einer Party, doch war mich nicht besonders nach Feiern zumute. Nicht dass ich kurzfristig nicht zufrieden gewesen wäre – ich schlafe besser am Tag als in der Nacht, und ich bin gern munter, wenn die Welt um mich herum ruhig ist, und natürlich hatte ich eine tolle Zeit mit dem neuen Gehalt. Doch ich spürte instinktiv, dass die Geschäftsleitung die Erhöhung nur zähneknirschend bewilligt hatte, und dass der neue Vertrag im Grunde der Anfang vom Ende war. Früher oder später würden wir alle aus Rache gefeuert werden. Ich spürte, dass es nur eine Frage der Zeit war. Bis auf eine Kollegin war niemand meiner Meinung.

Auf der Party fragte sie mich in einem ruhigen Moment: „Was willst du tun, wenn das alles hier vorbei ist?“

Ich sagte: „Ich werde Romane schreiben.“

Weshalb diese Antwort? Und warum zu diesem Zeitpunkt?

51AEANlYA4L._SX313_BO1,204,203,200_Ich war stets ein unersättlicher Leser gewesen. Alle Genres, zu jeder Zeit, doch völlig unstrukturiert. Ich tendierte automatisch zu Krimis, Abenteuerromanen und Thrillern, doch in Großbritannien gab es lange Zeit keine spezialisierten Geschäfte und Fan-Magazine, und das Internet existierte noch nicht, also gab es kein funktionierendes Netzwerk, das einen Leser an die Hand genommen hätte. Ein Ergebnis davon war, dass ich an ziemlich zweifelhaftes Zeug geriet, während mir viele wichtige Autoren völlig entgingen. Im Februar 1988 zum Beispiel – während die Tinte auf unseren neuen TV-Verträgen noch trocknete – machte ich Urlaub in Yucatán. Ich flog über Miami zurück und kaufte an einem Bücherstand auf dem Flughafen John D. MacDonalds Gefangen im Silberregen. Ich hatte noch nie von MacDonald oder Travis McGee gehört. Ich las das Buch auf dem Weg zurück nach London, und es gefiel mir.

An Ostern desselben Jahres war ich wieder in den Staaten und kaufte jeden McGee-Titel, den ich finden konnte, was auf einen Meter Bücher hinauslief.

Überflüssig, MacDonald zu loben, doch der Meter Bücher tat mehr für mich, als mich bestens zu unterhalten. Aus irgendeinem Grund empfand ich die McGee-Bücher als Leitfaden. Es war, als könnte ich sehen, was MacDonald tat, und warum und wie, so als könnte ich das Skelett unter der Haut erkennen. Ich habe sie alle in jenem Sommer gelesen, und an Neujahr war ich mir absolut sicher, dass ich, das tun wollte, was MacDonald getan hatte, wenn man uns hinauswarf. Ich würde in der Unterhaltungsbranche bleiben, jedoch für mich in der Welt der Bücher arbeiten.

Es sollte noch sechs Jahre dauern. Doch als es passierte, war es an der Zeit, den früheren Plan umzusetzen. Ich ging in W.H. Smiths Geschäft in der Manchester Arndale Mall – auf die von der IRA ein Jahr später ein Bombenanschlag verübt wurde – und kaufte drei Notizblöcke, einen Bleistift, einen Bleistiftspitzer und einen Radiergummi. Die Rechnung betrug drei Pfund neunundneunzig.

(Ich habe Ngaio Marshs Essay in Otto Penzlers The Great Detectives von 1978 gelesen, und wie sie berichtet, tat sie ungefähr das Gleiche, nur dass 1931 die Preise sehr viel niedriger waren als 1994, und sie kaufte keinen Radiergummi – vielleicht besaß sie bereits einen oder hatte größeres Selbstvertrauen als ich). Dann machte ich mich an die Arbeit, und über die Jahre gesammelte, unausgegorene Ideen nahmen Gestalt an. Allerdings waren es nicht nur die Ideen der letzten sechs Jahre – an dieser Stelle muss ich ungefähr dreißig Jahre zurückgehen, zu den Lesegewohnheiten, die ich damals angenommen hatte.

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Ich hatte herausgefunden, dass ich bestimmte Dinge in Büchern mochte, andere jedoch nicht. Ich hatte mich stets zu Außenseitern hingezogen gefühlt. Ich mochte Gerissenheit und Einfallsreichtum. Ich mochte die Verheißung spannender Enthüllungen. Ich hatte eine Abneigung gegen Helden, die im Grunde klug waren, aber auf halber Strecke des Romans etwas Dummes taten, nur um genug Material für den letzten Teil der Handlung zu generieren. Detektive, die jemandem auf der Spur waren, einen Raum betraten und von hinten eins auf den Schädel bekamen, gefielen mir einfach nicht. Ich mochte Gewinner. Irgendwie gefiel mir der übliche Handlungsbogen nicht, bei dem ein Typ andauernd erst verlieren muss, bis er am Schluss gewinnt. Ich wollte sehen, wie etwas auf spektakuläre Weise gelöst wurde. Auch beim Sport sind mir vernichtende Siege lieber als verzweifeltes Nägelkauen in der neunten Spielrunde.

Ein Teil meiner Lektüre war natürlich von der Schule bestimmt worden. Wahrscheinlich gehöre ich zur letzten Generation, die eine klassische, englische Erziehung genossen hat. Ich las unter anderem auf Latein, Griechisch und Altenglisch die antiken Mythen und mittelalterlichen Sagen und Gedichte und habe so auch mit dem fahrenden Ritter Bekanntschaft gemacht.

Dann absolvierte ich ein Jurastudium. Ich hatte zwar nie die Absicht, Anwalt zu werden, doch in dem Fachgebiet waren alle meine nichtliterarischen Interessen versammelt – Geschichte, Politik, Wirtschaft, Soziologie … und Sprache. Die juristische Sprache strebt nach Präzision und meidet Zweideutigkeiten, wo es nur geht.

Das Ergebnis ist natürlich stumpfsinnig, doch dieses Ringen um Neutralität lehrt einen das Schreiben.

Dann arbeitete ich beim Theater, das damals zahlreiche experimentelle Stücke zeigte, von denen ein paar gut, die meisten jedoch schrecklich waren, und mit der Zeit entwickelte ich eine gewisse Verachtung für diejenigen, die ihre geringen Zuschauerzahlen als Anerkennung verstanden.

„Das Publikum ist zu dumm, um uns zu verstehen“, pflegten sie zu sagen.

Ich hasste diese Einstellung. Für mich war Entertainment ein Austausch. Man zeigte etwas, die anderen sahen es sich an, dann existierte es. Es war wie eine Zen-Frage: Wenn du etwas inszenierst, und niemand kommt, hast du dann wirklich etwas inszeniert?

Für mich spielte das Publikum von Anfang an eine Rolle. Das half mir, beim Fernsehen erfolgreich zu sein. Dabei entdeckte ich, dass ich selbst das Publikum war. Wir boten hauptsächlich qualitätsvolle Unterhaltung für den Massenmarkt, doch selbst dann waren sich einige von uns bewusst, dass sie sich unters gemeine Volk mischten. Ich nicht.

G.K. Chesterton sagte einmal über Charles Dickens: „Dickens schrieb nicht, was die Leute wollten. Dickens wollte, was die Leute wollten.“ Ich würde mich niemals mit Charles Dickens vergleichen, doch ich weiß genau, was Chesterton meinte.

Im Alter von neununddreißig Jahren, nach vielleicht fünfunddreißig Jahren bewusster Erfahrungen, setzte ich mich also an meinen Esstisch, schlug den ersten meiner drei Notizblöcke auf und legte Bleistift, Spitzer und Radiergummi nebeneinander und … überlegte so lange, bis ich zu drei entscheidenden Schlussfolgerungen kam.

Erstens: Die Figur ist das Wichtigste. Wahrscheinlich gibt es in jedem Jahrhundert weniger als sechs Bücher, die wegen ihres Plots im Gedächtnis bleiben. Menschen merken sich Charaktere. Beim Fernsehen ist es genau das Gleiche. Wer erinnert sich an den Lone Ranger? Jeder. Wer erinnert sich an irgendeine aktuelle Handlung von Lone Ranger? Niemand.

Das Gewicht lastete also auf den Schultern der Hauptfigur … und das war beachtlich. Vergessen wir nicht, ich war pleite und ohne Job.

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Zweite Schlussfolgerung: Wenn man den Zug herannahen sieht, ist es zum Aufspringen bereits zu spät. Ich glaube, derjenige, der das irgendwann zu mir sagte, meinte damals Investments – als ob ich irgendetwas zum Investieren gehabt hätte –, doch es schien auch für Unterhaltungsliteratur ein exzellentes Motto zu sein. Die Konkurrenz ist groß. Wieso also das tun, was alle anderen tun?

Also würde ich es anders machen müssen. Mir schien, dass die Krimiserien, die bereits auf dem Markt waren – auch die neueren – bei sorgsamer Analyse Soap-Operas glichen (was für mich kein abwertender Begriff ist; eine Soap-Opera hat einen unglaublich starken Handlungsmotor, und Soap-Operas haben achtzehn Jahre lang für mein Auskommen gesorgt; viele und von höchster Qualität). Hauptfigur war der „primus inter pares“, die Location war unveränderlich und spielte eine wichtige Rolle, ebenso der Arbeitsplatz. Mit anderen Worten, Serienhelden hatten Partner, Freunde, Jobs, Wohnungen, Lieblingskneipen, Lieblingsrestaurants, Nachbarn, Familien, sogar Hunde und Katzen. Sie gingen joggen, trainierten und widmeten sich sonstigem Zeitvertreib. Sie mussten Rechnungen bezahlen und Probleme lösen.

Wenn man den Zug herannahen sieht, ist es zum Aufspringen bereits zu spät. Ich würde das alles weglassen müssen.

Die dritte und kniffligste Schlussfolgerung: Man darf einen Charakter nicht bis ins letzte Detail definieren. Instinktiv wusste ich, dass zu viel Nachdenken zu einer langen Liste von Eigenschaften und Tugenden führen würde, die nur einen glatten, langweiligen Pappkameraden hervorbrächten. Ich würde eine Checkliste abhaken müssen, bis ich einen Typen hätte, in dem jeder Funke Leben erloschen wäre. Also schob ich die fünfunddreißig Jahre alte Mischung aus Ideen und Einflüssen bewusst beiseite und beschloss, mich zu entspannen und abzuwarten, was zum Vorschein käme.

Und zum Vorschein kam Jack Reacher.

Ich war interessiert an Verwerfungen und Entfremdung, und ich hatte festgestellt, dass Menschen, die beim Militär gewesen waren, Probleme hatten, sich danach wieder ins Zivilleben zu integrieren. Es ist, als würde man auf einen fremden Planeten umziehen. Also entwarf ich einen Charakter, der aus einer Soldatenfamilie stammte, es selbst bis zum Militäroffizier gebracht hatte und dann unfreiwillig in die zivile Welt entlassen wurde. Weil die Bücher im weitesten Sinne Kriminalromane sein sollten, machte ich aus ihm einen Ex-Militärpolizisten, um seine Vertrautheit mit Ermittlungsverfahren, Spurensicherung etcetera plausibel erscheinen zu lassen.

Diese beiden Elemente verliehen ihm eine doppelte Art der Entfremdung. Zuerst sein Wechsel von der rauen, harten Welt des Militärs ins Zivilleben, wo er fehl am Platz war, was dann durch die Distanz jedes Gesetzeshüters vom Rest der Bevölkerung noch verstärkt wurde.

Und er war Amerikaner. Ich bin Brite. Doch zu jener Zeit war ich bereits seit zwanzig Jahren regelmäßige in den Vereinigten Staaten zu Besuch – meine Frau stammt aus New York – und ich hatte das Gefühl, das Land ziemlich gut zu kennen, zumindest so gut, wie ich es von einem ehemaligen Soldaten und Nichtsesshaften erwarten konnte. Und in einem so riesigen Land wie Amerika war es einfacher, wurzellos und isoliert zu sein. Entfremdung auf einer Insel wie Großbritannien ist von anderer Natur, vielmehr psychologisch als physisch oder real.

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Ich lese gern die Innenschau haltenden, klaustrophobischen britischen Krimis, doch ich wollte keine schreiben. Ich wollte weiträumig angelegte Plots, weite Landschaften, weite Himmel.

Ihm den Status eines ehemaligen Militärpolizisten zu verleihen, war eine instinktive Entscheidung. In der Rückschau wollte ich unbedingt dem Beispiel des mittelalterlichen fahrenden Ritters folgen, und nicht dem eines Offiziers.

Für mich war entscheidend, dass er eine gewisse Vornehmheit besaß – so etwas über einen Kerl zu sagen, der wie Jack Reacher anderen regelmäßig die Köpfe einschlägt, mag seltsam klingen, doch ist es keine Reaktion darauf, dass sein Status  als „anständiger Kerl“ stark von unserer Vorstellung von Rang oder Stellung abhängt. (Dieser Status des „anständigen Kerls“ hat Leser dazu veranlasst, die Reihe als moderne Western einzustufen, was in Bezug auf Atmosphäre und Struktur auch stimmt).

Ein paar der Romane sind wie Shane oder wie eine Geschichte des Wildwestautors Zane Grey oder eine Folge von Lone Ranger: eine einsam gelegene Gemeinde hat ein drängendes Problem, ein geheimnisvoller Fremder kommt angeritten, löst das Problem und reitet in den Sonnenuntergang davon. Aber ich war weder ein Fan noch ein Leser von Western. Allerdings haben Western ihre Wurzeln ebenfalls bei den mittelalterlichen Rittersagen.

Auch wenn B nicht direkt auf A folgte, hatten beide doch in puncto Entwicklung das gleiche Vorbild.

Zu Beginn hieß er nicht Jack Reacher. Tatsächlich hatte er überhaupt keinen Namen. Der schwierigste Teil beim Schreiben ist, sich die Namen der Figuren auszudenken. Meine Bücher sind voll mit Namen von Papiermarken und Autoren, denn wenn ich jemandem einen Namen geben muss, schaue ich mich meistens hilflos in meinem Arbeitszimmer um, bis mein Blick an einem Notizbuch oder Buchrücken auf meinen Regalen hängenbleibt.

Ein paarmal blickte ich aus dem Fenster, bis ein Nachbar vorbeiging, oder ich überlegte, wie der Name auf dem Schild des Verkäufers im Laden gelautet hatte … So kommen die Namen aller möglichen Leute in meine Bücher. Anscheinend ist es jedoch wichtig, der Hauptfigur den richtigen Namen zu geben. Mit etwas Glück taucht er in zahlreichen Büchern auf und wird sogar in anderen Kontexten erwähnt.

Ich hatte keine klare Vorstellung von dem Namen, als ich mit dem Schreiben begann. Das erste Buch war in der ersten Person, was bedeutete, dass er keinen Namen brauchte, solange ihn niemand danach fragte, was auf den ersten dreißig Manuskriptseiten nicht der Fall war. Dann fragt ihn ein Polizist: „Name?“ Ich legte meinen Bleistift hin und überlegte. Wenn ich mich richtig erinnere, war Franklin das Beste, was mir einfiel. Doch ich war nicht zufrieden damit.

Eines Tages ging ich einkaufen. Teil des Problems, keinen Job zu haben, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, war, tagsüber nicht beschäftigt zu sein, weshalb meine Frau davon ausging, endlich Hilfe bei den häuslichen Pflichten zu bekommen. Also bat sie mich, mit ihr in den Supermarkt zu gehen, um die Sachen nach Hause zu tragen. Ich bin ziemlich groß; sie ist eher klein.

Sie war außerdem eine besorgte Frau, obwohl sie sich nichts anmerken ließ. Unsere Ersparnisse schmolzen dahin, und die Erinnerungen an ein geregeltes Einkommen bereits verblasst.

Im Supermarkt trat – was für große Männer eine alltägliche Erfahrung ist – eine kleine alte Dame zu mir und sagte: „Sie sind ein recht großer Mann, könnten Sie mir bitte diese Dose reichen (Englisch: „to reach“). Meine Frau sagte zu mir: „Wenn das mit dem Schreiben nicht funktioniert, kannst du jederzeit als Reicher (Englisch: „reacher“) im Supermarkt arbeiten.“ Ich dachte, was für ein toller Name! Und ich nahm ihn und muss jedes Mal schmunzeln, wenn ich im Internet Kommentare lese, in denen es heißt, dass ich den Namen gewählt hätte, weil das Zielstrebige und Unaufhaltsame darin enthalten seien.

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Sein Vorname resultierte aus Schlussfolgerung Nummer zwei – tu nicht, was die anderen tun. Es gab zu der Zeit eine kleine Welle von Charakteren mit originellen oder komplizierten Vornamen. Also suchte ich nach dem schlichtesten und klarsten Namen, den ich finden konnte. Ich wählte Jack, aber nicht als Diminutiv für John. Einfach nur Jack. (Einer meiner Großväter hieß Harry, was die meisten Leute für ein Diminutiv von Henry hielten, doch dem war nicht so. Harry stand auf seiner Geburtsurkunde.)

In meinem dritten Buch Sein wahres Gesicht gibt es eine Passage, die folgendermaßen beginnt: „Reacher war von seinem Vater, der ein schlichter New Hampshire Yankee mit einer tiefen Abscheu vor allem Modischen war, Jack genannt worden.“

Download (2)Ich wollte Reachers unverblümte und direkte Art mit einem unverblümten und direkten Namen unterstreichen. Ich glaube nicht, dass der Charakter mit dem Namen, sagen wir, MacNaughten Lawrence funktioniert hätte. Er tut es noch immer nicht. Auch wenn man in den meisten Situationen seinen Vornamen zu Mac hätte verkürzen können, hätte doch die verborgene Wahrheit auf seinen offiziellen Papieren etwas impliziert, das ich nicht wollte.

Er ist also ein Ex-Militärpolizist, Amerikaner, entfremdet, nur mühsam in die Zivilgesellschaft integrierbar und er hat einen schlichten Namen.

Und er ist groß und stark.

Er ist ein Meter achtundneunzig und wiegt um die einhundertfünfundzwanzig Kilo, die nur aus Muskeln bestehen. In Sein wahres Gesicht wird er, nachdem er eine Zeit lang in der Sonne gearbeitet hat, beschrieben, als sähe er „wie ein mit Walnüssen ausgestopftes Kondom“, aus. Niemand, der bei Verstand wäre, würde sich mit ihm anlegen.

Ich hatte die einschüchternde körperliche Präsenz von Profi-Footballspielern im Kopf, entspannt und 512LGfNbu0L._SX313_BO1,204,203,200_vollkommen selbstsicher, doch in Reachers Fall mit einem latenten gefährlichen Zug. (In Sniper räumt er sogar ein, bei der Army in West Point Football gespielt zu haben, diese Beschäftigung jedoch auf ein Spiel beschränkt gewesen sei. „Wieso?“, fragt ihn jemand. „Wurden Sie verletzt?“, „Nein“, erwidert er. „Ich war zu gewalttätig.“)

Seine körperliche Präsenz ist ein weiterer Aspekt von Schlussfolgerung zwei – tu nicht, was die anderen tun. Lange Zeit machten andere Autoren ihre Hauptfiguren immer mehr zu gezeichneten und verwundbaren Gestalten. Vor langer Zeit war es eine willkommene Entwicklung weg von den hohlwangigen, ganzen Kerlen gewesen, die das Genre bevölkert hatten. Helden wurden bescheidener, hatten normale Ängste und waren körperlich Mittelmaß.

Emotional waren sie ebenfalls ziemlich angeschlagen. Sie waren Alkoholiker, ehemalige Alkoholiker, geschiedene ehemalige Alkoholiker, die in einer Hütte im Wald lebten und von beruflichen Fehlern traumatisiert waren; echte und übertragene Steckschüsse nah am Herzen. Es gab ein überwältigendes Gefühl von drohendem Scheitern und Melancholie.

Wie bei allen Trends wurde auch dieser von inspirierten Pionieren begonnen und dann von ihren Nachahmern überstrapaziert. Als ich mit dem Schreiben begann, hatte ich genug davon. Ich wollte einen Helden erschaffen, der keine Probleme und Schwierigkeiten hatte und nicht regelmäßig Nabelschau betrieb. Seine hervorragende körperliche Verfassung ist tatsächlich auch ein Ausdruck seines geistigen Zustands. Er ist in jeder Hinsicht tadellos in Form.

Und ich fand es spannend, das Paradigma in puncto körperliche Verwundbarkeit umzukehren. Normalerweise trifft der Held auf Leute, vor denen er Angst haben muss.

51QDsTOrUEL._SX316_BO1,204,203,200_Was, wenn der Held der härteste Mistkerl im Tal ist, und andere Angst vor ihm haben müssen? In meinem vierten Roman, Zeit der Rache, droht ein FBI-Agent namens Blake damit, Reachers Namen einem gewalttätigen Psychopathen namens Petrosian zu verraten.

Blake glaubt, dass wäre ein wirkungsvoller Anreiz – und im realen Leben und in den meisten Büchern wäre das auch so. Doch Reacher sagt nur: „Sehen Sie mich an, Blake. Seien Sie realistisch. Es gibt vielleicht zehn Leute auf diesem Planeten, vor denen ich Angst haben muss. Höchst unwahrscheinlich, dass dieser Petrosian dazugehört.“

Ich versuchte herauszufinden, ob ein Drama auch ohne die übliche David-gegen-Goliath-Struktur möglich war. Ich fragte mich, ob Goliath gegen Goliath ebenfalls funktionieren würde?

Ich habe einen Fan und Freund, der in der schrillen Welt des Profi-Wrestlings arbeitet – genauer gesagt, arbeitete, weil er inzwischen pensioniert ist. Bestimmt sind Sie schockiert, dass deren Kämpfe genau choreographiert sind und sogar geprobt werden, bis hin zu Drehbuchkonferenzen. Das größte Interesse meines Freundes war, den vorgesehenen Ablauf beim Wrestling einzuhalten, nämlich dass der Gute verliert und verliert und verliert, bis er in der Endrunde schließlich gewinnt. Es fiel ihm schwer, sich mit dem Fehlen eines angeschlagenen Underdogs abzufinden. Aber ich wollte immer, dass Reacher der mit dem entscheidenden Vorteil ist.

Ich folgte dabei meinem Instinkt. Denken Sie daran, „Dickens wollte, was das Publikum will.“ Ich war das Publikum. Ich wollte die Art von Befriedigung empfinden, die sich einstellt, wenn man miterleben darf, wie der Böse von einem Kämpfer für Gerechtigkeit, der noch größer und härter ist als er, eiskalt erwischt wird. Ich dachte, ist es nicht das, wozu Literatur da ist? Denn das mit der Literatur ist eine seltsame Sache.

Die Sprache entwickelte sich zu einer Zeit, als Müßiggang noch nicht existierte. Bei Sprache ging es um Überleben und Kooperation und das Verbreiten von Nachrichten in Angelegenheiten um Leben und Tod. Beinahe während unserer gesamten Existenz diente Sprache dazu, die Wahrheit zu sagen. Dann kam die Dichtung, und wir begannen uns das Hirn über Geschichten zu zermartern, die nie passiert waren. Wieso? Die einzige Antwort darauf ist, dass die Menschen einen intensiven Wunsch danach verspürten. Sie brauchten diesen Trost. Das reale Leben ist selten zufriedenstellend.

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Der Vorgang wird in der romantischen Literatur ziemlich deutlich. Im realen Leben sitzt man in der U-Bahn und sieht ein wunderschönes Mädchen. Die Wahrheit ist, dass man nicht mit ihr zu Abend essen, sie nicht mit nach Hause nehmen und auch nicht mit ihr bis in alle Ewigkeit zusammen sein wird. Tatsächlich wird man nicht einmal mit ihr reden. Doch in einem Roman passieren all die schönen Dinge. So kann man in eine andere Rolle schlüpfen.

Das Gleiche gilt für Kriminalromane. Im realen Leben wird in unser Haus eingebrochen, unser Wagen wird gestohlen, die Bösen werden nicht geschnappt, und Sie bekommen ihre Sachen nicht zurück. Jemand ärgert oder behandelt Sie respektlos bei der Arbeit oder in der Schule oder in einer Beziehung, und man kann nicht viel dagegen tun. Aber in einem Buch kann man etwas dagegen tun, und Menschen genießen es, das mitzuerleben. Sie lieben es. Das ist die Lösung, wenn auch nur stellvertretend.

Ich wollte also, dass Reacher all das tut, was wir selbst nicht tun können – stark und unerschrocken sein, niemals zurückweichen, niemals einlenken, schlagfertig sein. Ich dachte an all die Situationen, in die wir – schüchtern, unsicher, ängstlich, besorgt, gedemütigt – kommen und stellte mir eine Art therapeutischen Trost vor, indem unsere kühnsten Träume in einem Buch wahr werden.

Reacher gewinnt also immer.

Was theoretisch ein Problem ist. Er ist ein schlichter, unkomplizierter Mensch, der ohne sichtbare Probleme durchs Leben geht. Macht ihn das nicht langweilig?

Theoretisch schon. Doch die Leser sind anderer Meinung. Denn er hat tatsächliche eine Reihe kleinerer Probleme. In ziviler Umgebung verhält er sich ungeschickt. Er umschifft seine Schwierigkeiten, indem er sich eine Reihe sonderbarer Verhaltensweisen zulegt, die ans Exzentrische grenzen. Wenn er nicht weiß, wie etwas funktioniert, macht er einfach nicht mit. Er hat kein Mobiltelefon, weiß nicht, wie man Textnachrichten verschickt, begreift nicht, wie Emails funktionieren. Er wäscht keine Wäsche. Er kauft billige Klamotten, wirft sie drei, vier Tage später weg und kauft neue. Für ihn ist das ein höchst rationales Verhalten zur Lösung eines offenkundigen Problems. Für uns grenzt es an Autismus.

Der Kontrast zwischen seinen wenigen, aber hochentwickelten Fähigkeiten und seiner allgemeinen Hilflosigkeit macht ihn menschlich. Er verleiht ihm Tiefe. Er hat genügend Probleme, die ihn interessant machen, doch entscheidend ist, dass er selbst nichts von diesen Problemen weiß. Er glaubt, es geht ihm gut. Er glaubt, er ist normal. Folglich ist er interessant ohne das Selbstmitleid der Typen mit Steckschuss.

Was treibt ihn an?

Er hat keinen Bedarf und kein Interesse an einem festen Job. Er ist kein aktiver Weltverbesserer. Wieso gerät er also in Schwierigkeiten? Zum Teil wegen des Noblesse oblige, einem französischen Ritterlichkeitskonzept, das wegen des hohen Rangs von Geburt an ehrenwertes, großzügiges und verantwortungsvolles Verhalten verlangt.

51LtofwZ+RL._SX313_BO1,204,203,200_Reacher hat den Rang und die Fähigkeiten, und er spürt eine tendenziell marxistische Verpflichtung „von dem zu nehmen, der hat, und dem zu geben, der braucht“. Auch dieses Verhalten ist bereits vor dem zwanzigsten Jahrhundert angesiedelt. Es zeigt sich bei Westernhelden des neunzehnten Jahrhunderts, bei europäischen Helden des dreizehnten Jahrhunderts und bereits bei den alten Griechen, und bestimmt schon zu Zeiten oraler Erzähltradition. In Reachers Fall kommt eine Streitbarkeit hinzu, die ihn leicht reizbar macht. In Der Janusmann wird er bei einem Rückblick auf seine Militärzeit gefragt, weshalb er ein Militärpolizist geworden sei, wo er sich doch für jede andere Laufbahn hätte entscheiden können. Er gibt eine vage Antworte, nach dem Motto, er kümmere sich gern um den kleinen Mann.

Die Fragestellerin will ihm das nicht abkaufen und fragt ihn deshalb ungläubig: „Sie kümmert der kleine Mann?“

„Eigentlich nicht“, gesteht Reacher. „Mich kümmert nicht der kleine Mann. Ich hasse nur den großen Mann. Ich hasse eingebildete Leute, die glauben, dass sie mit dem, was sie tun, davonkommen.“

Das treibt ihn an. Die Welt ist nicht fair und voller Ungerechtigkeit. Er kann sich nicht überall einmischen. Er muss spüren, wie ein höhnischer, arroganter, manipulativer Gegner im Verborgenen lauert. Dann macht er sich ans Werk. Zum Teil, weil er selbst arrogant ist.

In gewisser Hinsicht ist jeder Roman ein Wettkampf zwischen Reachers Arroganz und der seines Gegners. Arroganz ist keine sympathische Eigenschaft, doch ich will die von Reacher nicht verbergen, denn meiner Meinung nach ist der größte Fehler, den ein Serienautor machen kann, zu kumpelhaft mit seiner Hauptfigur umzugehen. Ich versuche Reacher etwas weniger zu mögen als Sie es hoffentlich tun. Denn das Buch ist im Grunde eine simple psychologische Übertragung.

„Ich bin die Hauptfigur“, verkündet die Hauptfigur.

Der Leser fragt: „Werde ich dich wohl mögen?“

Es gibt unterschiedliche Antworten auf die Frage. Die schlimmste ist: „Ja, das wirst du, und ich werde dir sagen warum!“

Doch Reacher antwortet: „Vielleicht, vielleicht auch nicht, und so oder so soll’s mir recht sein.“

Denn ich glaube, dass für einen Autor diese Art von unbekümmertem Selbstvertrauen eine dauerhaftere Verbindung schafft.

Oder?

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„Jack Reacher“ aus „The Lineup – The World’s Greatest Crime Writers Tell the Inside Story of Their Greatest Detectives“. Hrg. Otto Penzler, Little Brown & Company, New York 2009. Deutsche Übersetzung von Susanna Mende, die überhaupt für dieses Projekt sehr aktiv ist.
Siehe auch bei CrimeMag: Michael Connelly über Harry Bosch.

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