Vor 30 Jahren, am 23. Juni 1983, starb in La Jolla, California, der amerikanische Kriminalroman- und Drehbuchautor Jonathan „Jack“ Latimer. Frank Göhre erinnert an ihn.
Zuletzt ist doch wieder der Gärtner der Mörder
„Sie haben uns noch nicht gesagt, woran Sie wirklich interessiert sind.“
„An Mord.“
„Jetzt machen Sie aber Witze.“
„Es ist mir vollkommen ernst damit.“
„Wie interessieren Sie sich für Mord. Konkret oder abstrakt?“
„Konkret.“
„Sie meinen, Sie begehen Morde?“
„Nein. Ich fange jene, die sie begangen haben.“
„Sie meinen, Sie sind ein Detektiv?“
„Genau das.“
„Ich habe noch nie von Ihnen gehört.“
Wie auch? Der Mann ist Mitte/Ende der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts aktiv gewesen und mittlerweile weitgehend vergessen. Dabei steht er neben Sam Spade und Marlowe gar nicht mal so schlecht da. Aber er ist ein ziemlich schräger Vogel. Er findet zum Beispiel, dass er aussieht wie Ernest Hemingway, wie der junge Ernest Hemingway, nur eleganter, und hält sich für wesentlich schlauer als C. Auguste Dupin. Nun ja. Sein Name ist Crane, William Crane.
„Wie alt sind Sie?“
„Zweiunddreißig.“
„Wie schlafen Sie?“
„Allein.“
Sein erster Fall: eine psychiatrische Privatklinik. Unter dem Bett einer Patientin liegt ein toter Mann: „Der weiße klare Lichtstrahl fiel auf ein im Todeskampf verzerrtes Gesicht, das mit roten, vortretenden Augen in den Raum glotzte. Die Haut war blau verfärbt, und aus dem aufgerissenen Mund hing eine aufgeschwollene Zunge wie eine am falschen Ort angebrachte Samtkrawatte.“ Es bleibt nicht bei dem einen Opfer. Verdächtig sind Personal und Patienten, und der Undercover-Schnüffler Crane wird schlichtweg für verrückt erklärt. („Murder in the Madhouse“, 1935; dt.: „Mord bei Vollmond, Zürich, 1991)
„Brauchen Sie sonst noch was?“
„Zerstoßenes Eis und eine Flasche White Rock.“
Der zweite Fall: „Der gütige Staat Illinois sagt, dass wir am Samstag
um 0 Uhr 01 auf den elektrischen Stuhl gesetzt werden, und da wir jetzt
Samstagabend haben, bleiben nur noch Sonntag, Montag, Dienstag,
Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Das macht sechs.“ Sechs Tage Frist
für einen Todeskandidaten. Und die immer wieder neu gestellte
Frage, wie in einem hermetisch abgeschlossenen Raum ein
Verbrechen geschehen kann. Privatdetektiv William Crane hat da viele
Antworten, geäußert bei etlichen trockenen Martinis und Barcadi-Cocktails.
(„Headed for a Hearse“, 1935; dt.: „Wettlauf mit der Zeit“, Zürich,
1990. Verfilmt mit Preston Foster unter dem Titel „The Westland Case“, 1937)
„Sie trinken also.“
„Sie etwa nicht?“ (Lese dazu Alf Mayers Blutige Ernte: Alkohol im Kriminalroman.)
Fall Nummer 3: Eine tote Frau verschwindet aus dem Schubfach im Leichenschauhaus. Statt ihrer liegt jetzt der Wärter in der Kiste – „ein verkrusteter Blutfleck war auf seiner gelben Stirn.“ Es ist der kühlste Ort in einer brüllend heißen Stadt, und der Alkohol (mit und ohne Soda) fließt auch diesmal wieder in Strömen. Während die Geschichte mit der „Leiche auf Abwegen“ immer komplizierter wird. („The Lady in the Morgue“, 1936; dt.: „Leiche auf Abwegen“, Zürich, 1988. Verfilmt mit Preston Porter, 1936)
„Wann haben Sie zuletzt gegessen?“
„Das ist so lange her, dass ich mich kaum erinnern kann.“
Der vorletzte Fall: In Key Largo, Florida, soll ein Playboy seine Schuld begleichen. Die Alternative ist sein gewaltsamer Tod. Noch einmal also verschlossene Türen und streng bewachte Räume, doch nicht der Bedrohte ist das erste Opfer: „Er beugte sich zu ihr und küsste ihre Schulter. ‚Hey, Baby’, flüsterte er rau. Sie reagierte nicht … er schüttelte sie heftig. Es half nichts. Sie war tot.“ („The dead don´t care“, 1938; dt.:
„Eine Leiche im Paradies“, München, 1983. 1939 mit Preston Forster verfilmt.)
„Sind Sie verheiratet?“
Lange Pause.
„Nein.“
„Haben sie nachts Kopfschmerzen.“
„Nein. Kopfschmerzen habe ich eher am Morgen.“
William Cranes letzter Fall:
„Unten ist ein Einbrecher. Du musst runtergehen und ihn erschießen.“ – „Mit Einbrechern habe ich keine Erfahrung.“ –
„Dann kannst du sie jetzt sammeln.“ – „Wenn ich getötet werde, hast du mich auf dem Gewissen.“ – „Es wird mich nicht sehr belasten.“ – Tatort Familie, Tatwerkzeug ein Auspuffrohr. Und natürlich mittenmang dabei unser inzwischen hinlänglich bekannter Privatdetektiv – noch besoffener und durchgeknallter als je zuvor. („Red Gardenias“, 1939; dt.: „Rote Gardenien“, Zürich, 1991) Womit nun das Problem des Mannes überdeutlich wird. Und somit auch das seines Autors Jonathan „Jack“ Latimer: Er hat in mehrfacher Hinsicht überzogen. William Crane ist ausgereizt.
Jonathan Latimer wird 1906 in Chicago geboren und hat seinen ersten Job als Reporter beim „Chicago Harald Examiner“ und der „Chicago Tribune“. Tage- und Nächtelang jagt er heißen Stories hinterher, streift durch Kaschemmen und Clubs, hat heimliche Treffen mit Gangstern und Gewerkschaftern, raucht Kette, kippt literweise Kaffee in sich hinein und Alk bis zum Umfallen. Auf den Straßen und auch in der Redaktion herrscht ein rüder Umgangston. Das Resultat: eine entsprechend klischeehafte Schreibe.
Da ist der farbige Boy dann durchgängig der „Nigger“, der Italiener der „Itaker“ mit einem schmierigen Lächeln in der Visage und „viele Haare auf den Ohren“, Captain und Sergeant des Policedepartments sind fett und verschwitzt, poltern und toben, und die Frauen – die „Miezen“, der „Hase“ – sind entweder zu stark geschminkte Schlampen oder eiskalt berechnende Biester, Gin und Champagner schlürfende „Luxusweibchen“, „blondes Gift“.
Das und leider noch einiges mehr an oberflächlicher und auch diffamierender Charakterisierung in den fünf Romanen Latimers hinterlässt einen etwas bitteren Nachgeschmack und schmälert ein wenig das Vergnügen an diesen „Hardboiled Screwball Comedies“ mit dem für eine New Yorker Agentur arbeitenden, schlagfertigen Detektiv William Crane, der letztlich allerdings als „hoffnungsloser Alkoholiker“ dargestellt wird.
Also Ende mit lustig.
1939 schließt Latimer die vier Jahre zuvor begonnene Serie ab und schreibt „Solomon´s Vineyard“ (dt.: „Salomons Weinberg“, Zürich, 1993): „Hör zu. Das ist eine wilde Geschichte. Vielleicht die wildeste bis jetzt. Da ist alles drin außer einer Abtreibung und einem Tornado. Ich möchte nicht sagen, dass sie wahr ist. Keiner von uns, Bruder, fordert dich auf, daran zu glauben. Du kannst sie sofort wieder zurücktragen in die Leihbibliothek und der Dame dort sagen, dass du deinen gottverdammten Nickel wieder zurückhaben willst. Das ist uns völlig egal. Alles, was ER getan hat, war niederzuschreiben, was ICH ihm erzählt habe, und ICH garantiere für nichts.“
In der Tat ist in dem Buch eine Menge „drin“ – zu allem entschlossene Gangster, wilde Schießereien, eine an Otto Mühls AAO oder an Scientology denken lassende Sekte, Kidnapping, Menschenopfer und natürlich auch eine supersexy Frau: „An der Art, wie sich ihr Hintern unter dem schwarzen Seitenkleid abzeichnete, konnte ich erkennen, dass sie gut sein musste im Bett.“
Doch dieser Mix aus Sex und Gewalt kommt im Amerika der damaligen Zeit – 1940/41 – nicht gut an. Der Roman landet auf der schwarzen Liste der Tugendwächter und kann erst 1988 in der ursprünglichen Fassung veröffentlicht werden.
Jonathan Latimer macht bis Kriegsende Dienst bei der US-Navy. Vorher aber hat er noch mit dem Drehbuch „The Glass Key“, basierend auf Dashiell Hammett Roman, einen Hit. Es wird mit dem „Traumpaar des Film Noir“ Veronika Lake und Alan Ladd verfilmt.
Nach Fünfundvierzig kann „Jack“ nahtlos an diesen Erfolg anschließen. Die Türen der großen Hollywoodstudios stehen ihm offen. Er schreibt in schneller Folge weitere Drehbücher, unter anderen eins nach Cornell Woolrichs Roman „Night Has a Thousand Eyes“ (1948).
Zu der Zeit lebt er schon als Raymond Chandlers Nachbar in La Jolla, California.
Sie besuchen sich gegenseitig, und man kann davon ausgehen, dass es nicht gerade Teestündchen waren. Bei einer dieser Gelegenheiten wurde vermutlich kräftig über einen Burschen „drüben in England namens James Hadley Chase“ geflucht. In einem Brief vom 4. September 1948 erklärt Chandler: „ …der distinguierte Autor von No Orchids for Miss Blandish (einen Pfennigschundschreibe schlimmster Sorte) hatte in einem seiner Bücher in aller Ruhe Passagen aus meinen und denen von Jack Latimer und Hammett wörtlich oder fast wörtlich abgeschrieben. Er wurde schließlich gezwungen, sich in der englischen Entsprechung des Publisher´s Weekly (das „Börsenblatt“ der amerikanischen Buchindustrie) öffentlich zu entschuldigen. Außerdem musste er die Prozesskosten von drei Verlegern bezahlen, die ihn zu dieser Entschuldigung gerichtlich gezwungen hatten.“
Jahre später kauft der amerikanische Sender CBS die Rechte an Chase´s Stories mit dem Strafverteidiger Perry Mason und startet 1957 eine erste Staffel.
Es werden dann bis 271 Folgen mit dem kanadischen Schauspieler Raymond Burr, und „Jack“ Latimer ist schon früh als Drehbuchautor dabei. Er schreibt insgesamt 31 der jeweils 50-Minüter und auch weiter Bücher für große Paramount Picture Produktionen. Da kommt reichlich Schotter ins Haus, heißt aber auch, unermüdlich in die Tasten zu hämmern, Bild für Bild, Innen/Außen, Tag/Nacht.
Landstraße. Hang. Außen/Tag: Der Mann im zerknautschten Regenmantel steigt aus seinem 59er Peugeot. Es ist Inspektor Columbo. Er folgt dem Sergeant an den Straßenrand.
Sergeant:
„Sir, der Wagen ist hier von der Straße abgekommen. Man kann sehr deutlich die Reifenspuren sehen.“
Columbo:
„Ist das hier nicht eine zweite Reifenspur?“
Eine Frage, ach, ja, nur eine Frage.
Es ist die 2. Episode der 2. Columbo-Staffel „The Greenhouse Jungle“ („Blumen des Bösen“): Der Orchideenzüchter Jarvis Goodland hat Geldsorgen. Sein Neffe Tony besitzt ein Vermögen, kann aber nicht allein darüber verfügen. Und Tonys Ehefrau Cathy ist verschwenderisch. Der Onkel verleitet den Neffen dazu, eine Entführung vorzutäuschen. Cathy soll 300.000 Dollar Lösegeld zahlen. Sie ist auch dazu bereit, und als der Onkel sich sicher ist, dass er das Geld übergeben soll, tötet er den Neffen, um es für sich einsacken zu können. Doch da ist Columbo vor. So, wie wir ihn kennen. So, wie wir ihn lieben.
Columbo:
„Ich habe hier ein paar Kugeln bekommen. Die hier stammt aus dem abgestürzten Wagen, 32er Kaliber. Und die ist aus dem Körper des Opfers, auch 32er Kaliber. Die Ballistiker haben nachweisen können, dass beide aus der selben Waffe abgefeuert wurden … und die dritte Kugel …“
Die hat Columbo im Gewächshaus des Onkels entdeckt. Sie stammt auch aus der Tatwaffe. Mit diesem Revolver aber hat Jarvis Goodland nach eigener Aussage vor nicht allzu langer Zeit auf einen Einbrecher geschossen. Demnach ist er, der Orchideenzüchter, der Gärtner, der Mörder.
Die am 15. Oktober 1972 ausgestrahlte Folge ist Jonathan „Jack“ Latimers letzte realisierte Drehbucharbeit. Er stirbt am 23. Juni 1983.
Abspann.
La Jolla, Cal., June 24 – Jonathan (Jack) Latimer, a writer für the „Perry Mason“ television series and a best-selling mystery writer, died of lung cancer on Thursday here. He was 76 years old. A native of Chicago, Mr. Latimer wrote für „Perry Mason“ from 1960 until the show ended in 1965. He began his career in 1929 as a crime reporter for The Chicago Herald-Examiner. Mr. Latimer is survived by his wife, JoAnna, two sons and a daughter. Services have not been announced yet.
Frank Göhre
Zur Homepage von Frank Göhre. Quelle Porträt Jonathan Latimer: Bear Alley.