Geschrieben am 13. August 2011 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Einen Sommermonat lang in Amsterdam (2)

Amsterdam. Was für eine Stadt, nichts als Gestank. Trotzdem herrlich.

– Einen Sommermonat lang in Amsterdam. Frank Göhre hat die Kriminalromane von Bill Moody und Janwillem van de Wetering neu gelesen und mit seinen Eindrücken vom Leben in der Grachtenmetropole ergänzt (zu Teil I).

Zweite Folge

I was down in Amsterdam
Almost hurt myself to death
I pushed myself so hard
Just like the redlight girls
Well I cried and stopped to smile
I thought my career was over
And the dealer boys they had to bring me water
Mando Diao, Amsterdam

Der pakistanische Taxifahrer in Hamburg macht Witze über die vielen neu Zugezogenen in Winterhude und Eppendorf. Sie erklären ihm wortreich, welche Wege er zu fahren hat. Welchen kürzesten Weg.

Er lebt seit 17 Jahren in Hamburg, kutschiert täglich durch die Stadt und kennt sämtliche Baustellen und Ampelphasen.

Vor einiger Zeit war er mit seiner Freundin übers Wochenende in Amsterdam. Er wollte gleich in den ersten Coffeeshop, schön was rauchen. Seine Freundin hat es ihm verboten. Sie ist Polizistin.
Er lacht.

Natürlich hat er sich heimlich einen Joint gegönnt.

Nach vier Jahren als Hilfspolizist auf Streife absolvierte Janwillem van der Wetering die Prüfungen zum Sergeanten und zum Inspektor und verlängerte seine Dienstzeit auf insgesamt sieben Jahre.

Etwa 100.000 Personen frequentieren tagtäglich Amsterdam Centraal, den Hauptbahnhof. Besucher aus aller Welt.

Schräg gegenüber am Prins Hendrik Hotel eine Gedenktafel: „Chet Baker, Trompeter und Sänger, starb hier am 13. Mai 1988. In seiner Musik wird er weiterleben für alle, die hören und fühlen wollen. – 1929-1988.“

Er lag auf dem Bürgersteig. Er war tot. Die Polizei holte ihn ab und brachte ihn ins Leichenschauhaus. Er hatte keine Papiere bei sich, und man hielt ihn anfangs für einen Fixer, der alles vertickt hatte. Erst zwei Tage später wurde er als der (drogensüchtige) Jazztrompeter und Sänger Chet Baker identifiziert.Er hatte im 2. Stock des Prins Hendrik Hotel ein Zimmer bewohnt und war vermutlich aus dem Fenster gestürzt. Um seinen Tod aber ranken sich Legenden: Unfall, Selbstmord oder gar Mord?

Der Jazzmusiker und Krimiautor Bill Moody lässt seinen Protagonisten Evan Horne in Amsterdam ermitteln: „Auf der Suche nach Chet Baker“ (Unionsverlag metro, Zürich, 2004).

Die kurze Gasse ist menschenleer, doch aus dem Nichts ist auf einmal jemand da, steht rechts von mir mitten in der Gasse und sieht mich an. Ich kneife die Augen ganz fest zu, blinzle und mache sie wieder auf, aber er ist immer noch da. Oh Gott, dieses Zeug ist Wahnsinn. Solche Halluzinationen habe ich noch nie gehabt. Ich sehe ihn deutlich: das glatte, junge Gesicht, die Tolle, die ihm in die Stirn fällt. Die Lippen verziehen sich ein wenig nach oben, und Chet Baker lächelt mich an.

Elvis lebt! Michael Jackson lebt! Auch von Charlie Parker heißt es: Bird lebt! Warum nicht auch Chet Baker? In der „Süddeutschen“ ein Bericht über Jim Morrisons Grab in Paris. Hardcore-Fans schwören, Jim lebe und sei bei bester Gesundheit.

Auf den Stufen zum Apple Shop hockt ein hagerer Typ in Jeans und Holzfällerhemd, zieht gemächlich einen durch und nuckelt hin und wieder an einem Tetra Pak O-Saft. Hat für nichts und niemanden einen Blick.

Wieder ausschließlich als Kaufmann tätig, langweilte Wetering sich. Angeregt durch die Maigret-Romane von Georges Simenon begann er schließlich selbst zu schreiben und schloss 1974/75 hintereinanderweg seine ersten vier „Amsterdam Cop“-Romane ab, die ab 1977 dann auch in Deutschland erschienen: „Outsider in Amsterdam“ (Rowohlt Verlag, Reinbek, 1977), „Eine Tote gibt Auskunft“ (Rowohlt Verlag, Reinbek, 1978), „Der Tote am Deich“ (Rowohlt Verlag, Reinbek, 1978) und „Tod eines Straßenhändlers“ (Rowohlt Verlag, Reinbek, 1978) .

„Piet Verboom hat mit Hasch gehandelt. Er hat es in Fässchen importiert … Wir haben die Einkaufsrechnungen gefunden. Die Mizo-Suppe kommt aus Pakistan. Aber aus Pakistan kommt niemals Mizo-Suppe, denn es ist ein typisch japanisches Gericht … Dass der Zoll nichts gemerkt hat, begreife ich nicht, denn alles, was aus Pakistan kommt, ist verdächtig … Wir haben schon Holzelefanten voller Hasch aus Pakistan gehabt und Kisten mit Früchten, die mit Hasch gefüllt waren, und jetzt haben wir die Fässchen mit Suppenpaste“, bekommen Brigadier de Gier und Adjudant Grijpstra in Janwillem van de Weterings ersten Krimi „Outsider in Amsterdam“ von einem Vorgesetzten zu hören.

De Gier, Grijpstra und der Commissaris sind die Hauptpersonen in Weterings Amsterdam-Krimis. Nach Weterings zen-buddhistischem Verständnis verkörpert der Commissaris die höchste Stufe der Erkenntnis und de Gier die Haltung und das Tun auf dem Weg dorthin, während Grijpstra Ausdruck der niederländischen Erbmasse ist, die der Autor noch mit sich herumschleppt.

Ein Commissaris ist ein Kriminalrat.
Ein Hoofdinspecteur ein Kriminalhauptkommissar.
Ein Inspecteur ein Kriminalkommissar.
Ein Adjudant ein Kriminalmeister.
Ein Brigadier ein Polizeihauptwachtmeister.

Amsterdam hat den Ruf Drehscheibe für Drogen aller Art zu sein: Heroin, Kokain, Cannabis, Hallozinogene, Opiate, Ectasy und Speed, Upper und Downer.

Sogenannte „weiche Drogen“ werden in  zig hundert Amsterdamer Coffeeshops konsumiert. Die zur Zeit angesagtesten Shops sind: Amnesia, Barney’s, Basjoe, Bulldog, de Dampkring, Easy Times, Greenhouse, Grey Area, Happy People, Homegrown Fantasy, ‚t Ooievaartje, de Rokerij, The Saint, Sanementereng, Shop 96, La Tertulia, Cannabis College und Drugs Information Line. Im Greenhouse kann man auch Samen kaufen. Der Katalog 2011 listet 45 Sorten auf, von „A.M.S.“ (Wirkung: Starkes High für Klarsicht nach Innen) und „Big Bang“ (Wirkung: Sehr bekannt für seine medizinischen Eigenschaften) bis „White Widow“ (Wirkungen: Ein entspanntes Indice feeling, das sich zu einem intensiven Sativa High entwickelt).

The Bulldog Coffeeshop

Ausländern soll ab Herbst 2011 per Gesetz der Zugang zu den Coffeeshops verwehrt werden. Eingelassen werden sollen dann nur noch Personen mit einem niederländischen Pass, die älter als achtzehn sind.

Man glaubt, schon das Gewisper der Straßendealer zu hören.

Von seinem Wohnzimmer aus schaute Grijpstra auf das Wasser der Lijnbaansgracht; eine Ente versuchte sich den Weg durch den treibenden Abfall zu bahnen. Er zählte zwei Matratzen, die Reste eines Stuhls, drei große und zwei kleine Kartons und vier graue Müllsäcke.

Gracht – das ist ein Kanal zwischen Häusern. Die Rozengracht aber ist eine Straße. Die Häuser sind noch da, doch der Kanal ist dem Verkehr zum Opfer gefallen und gefüllt worden. Heute ist da also eine breite und langweilige Hauptstraße mit Straßenbahnen und Autos, die aus dem Stadtzentrum herausführt.
Alle Straßen dieses Stadtteils tragen Blumennamen. Der Bezirk selbst wurde von Napoleon le jardin genannt – der Garten. Die Holländer haben das französische Wort verballhornt, und der jardin wird in Amsterdam der „Jordaan“ genannt.

Immer und immer wieder das Geräusch der Kofferrollen auf dem Kopfsteinpflaster. Die Ankunft neuer Touristen. Wochenendbesucher. Sie fallen in Scharen ein. Heerscharen.
Deutschen gegenüber verhalten sich viele Holländer nach wie vor distanziert.

Der Commissaris war ein alter Mann. Er hatte selbst schon im Gefängnis gesessen, während des Krieges, als die Gestapo wissen wollte, wie die niederländische Widerstandsbewegung arbeitete. Der Commissaris war damals ein höherer Offizier in der Widerstandsbewegung und nicht willens, mit den deutschen Ermittlungsbeamten zusammenzuarbeiten … Es war ein böses Gefängnis gewesen … Der Commissaris rieb sich das rechte Bein, das ihn an diesem Tag mehr schmerzte als das linke. Der rheumatische Schmerz ließ etwas nach und biss nicht mehr so tief in den Knochen wie vorher.

An den Grachten lassen Kids die Beine baumeln. Fünf  Jungs hocken nebeneinander und fingern synchron belgische Fritten aus den gelben Tüten.
Es ist ein Freitagabend, und spätestens ab 18 Uhr stehen vor den Eckpinten Frauen und Männer jeglichen Alters und kippen Wein, Sekt und Selters, vor allem aber ein bis sechs Heineken.

Auf der Brücke vor dem „Live Sex Show“-Laden im Red Light District torkelt eine total abgefüllte Blondine herum. Sie hängt sich jeweils einige schwankende Schritte lang an die vorbeiziehenden jungen Hirsche. Doch die sind noch nicht breit genug, um sich mit der Frau einzulassen. Vielleicht ist sie auch eine Solide. Berittene Polizei prescht heran. Die Gaffer und Streuner drücken sich an die Hauswände, nur eine Handbreit weg von den Scheiben, hinter denen die lediglich mit Slip und bunten Schals bekleideten Frauen aus Indonesien, Thailand, Osteuropa, Deutschland und Holland ihre Dienste anbieten.

In der „Süddeutschen“ vom 15. Juni 2011 wird der Red Light District das „Amsterdamer Nuttenviertel“ genannt, wo die an diesem Tag 80 Jahre alt gewordene Ingrid van Bergen in dem George Seaton Film „Verrat auf Befehl“ eine Agentin spielt, die William Holden als  amerikanischer Agent kontaktiert: „Sie sitzt ganz ruhig in schwarz-rotem Lederoutfit in ihrem Schau-Fenster, und ihre geradezu damenhafte Gelassenheit kontrastiert magisch mit Holdens müdem, kaputtem Gesicht.“

Die Frau lebte noch, als sie sie fanden, nackt und blutend in einem schäbigen Bordell an der Gracht. Mit einem Messerstich im Bauch. Sie starb in den Armen des Arztes … Sie hatte den Täter noch deutlich beschreiben können, während sie die Hände auf den Bauch presste, um das Blut zu stillen. Eine alternde Hure, ein liebenswürdiger Mensch sozusagen … Der Junge saß mit dem Rücken an einer dicken Ulme und starrte ins Wasser, das Messer hielt er noch in der Hand. Er gestand sofort. Ein netter Junge, aber mit Messern und älteren Frauen nicht zu trauen, die ihn an seine Mutter erinnern.

„Ich bin krank von meiner Arbeit“, sagte Grijpstra und blieb stehen. Seine Arme baumelten kraftlos herab, die Wangen waren schlaff. Das aufgedunsene Gesicht seiner Frau verzog sich zu einem Lächeln, das man vor zwanzig Jahren hätte mitleidig nennen können.

„Es war ein schlechter Tag“, sagte de Gier.

Frank Göhre

(Titelbild: MorBCN; The Bulldog Coffeeshop: Josh Simerman)