Geschrieben am 10. September 2011 von für Crimemag, Rubriken

Efraín Bartolomé: Sind wir wirklich so allein?

Der Drogenkrieg in Mexiko trifft auch die Dichter. Die Schicksale der Barden, die in Mexiko erstaunliche Verehrung genießen, wecken die Zivilgesellschaft für Momente aus ihrer Schreckstarre und fachen den Widerspruch gegen die Militarisierung an. Eines der Opfer war Javier Scilia, der nach der Ermordung seines Sohnes die Feder niederlegte und seither einen Friedensmarsch durch das Land führt. Jüngstes Opfer war Efraín Bartolomé, der Mitte August in seinem Haus überfallen wurde – von der Polizei. Den folgenden Text stellte er vier Stunden nach der gewaltsamen Aktion in Facebook ein und löste eine beispiellose Sympathiewelle aus.

Bartolomé vor seinem Haus (© Guadalupe Belmontes Stringel)

Sind wir wirklich so allein?

Es ist 04:43, am Morgen des 11. August 2011. Vor etwa zwei Stunden ist eine Gruppe bewaffneter Männer in unser Haus in der Straße Conkal, Ecke Becal in der Colonia Torres de Padierna in Mexiko-Stadt eingedrungen.

Wir wurden von heftigen Schlägen geweckt, es klang, als würde jemand gegen eine Metalltür schlagen. Ich wunderte mich, dass sie so nah schienen und schaltete das Licht ein. Nun klang es, als würde jemand gegen die Holztüren in unserem Haus schlagen.

Ich öffne den Riegel unserer Schlafzimmertür und sehe hinaus in den Flur. Aus Richtung des Esszimmers sehe ich grüne und blaue Lichter blitzen. Aus dieser Richtung kommen auch die Schläge, jetzt gegen eine Glastür.

Meine Frau ruft, ich solle zurück ins Schlafzimmer kommen. Eilig schließe ich die Tür und lege den Riegel vor. Ich höre, wie Glas zerbricht, dann laute und schnelle Schritte auf dem Flur.

“Öffnen Sie die Tür!”, schreit jemand und hämmert mit Gewalt an unsere verriegelte Schlafzimmertür.

Wir flüchten ins Badezimmer und ich greife nach einer Trillerpfeife, die an der Wand hängt. Verzweifelt stoße ich hinein, vielleicht zehnmal. Meine Frau ruft die Polizei an. Sie erklärt, dass jemand in unser Haus einbricht und bittet um Hilfe. Währenddessen blase ich weiter verzweifelt in meine Trillerpfeife.

Während sich meine Frau im Dunkeln hinter mich stellt, hören wir, wie die Riegel der Schlafzimmertür bricht und drei? vier? fünf? Männer hereinstürmen.

Sein Haus beschreibt Bartolomé auf seiner Internetseite als seine “zweite Haut und Kleid, zarter Raum in dem die Mutter Erde mir erlaubt, zu leben und bei ihr zu sein. Es ist der Herd, der Ort neben dem Feuer, in dem die Liebe Paar und Familie zusammenführt. Der Tempel, der Göttin, die es uns erlaubt, zu lieben, zu denken, zu schaffen, zu leben und zu brennen …”

Ich will die Badezimmertür schließen, aber reiche nicht hin. Ich schiebe ein paar Kisten in Richtung der Tür und versperre den Weg ins Bad.

“Macht die Tür auf! Macht die Tür auf, ihr Hurensöhne!”, schreit jemand, während sie gegen die Tür drücken und schwarze Gewehrläufe durch den Spalt schieben. Ich will die Tür zuhalten, aber es ist sinnlos, mein Widerstand ist zu schwach, und sie stürmen herein.
“Auf den Boden! Auf den Boden! Auf den Boden, ihr Hurensöhne! Auf den Boden und nicht bewegen!”

Einer der Männer schlägt mir ins Gesicht und reißt mir die Brille vom Kopf. Ich erwische sie gerade noch, ehe sie zu Boden fällt. Er nimmt mir die Trillerpfeife ab.

“Schlagen Sie meinen Mann nicht”, schreit meine Frau.
“Das Telefon! Geben Sie mir das Telefon!”, antwortet er und fragt, ob wir noch ein Telefon oder Handy haben.

Wir knien uns hin, dann setzen wir uns auf den Zementboden des Badezimmers, das wir noch nicht gefliest haben.

Es sind Polizisten, bucklige, nächtliche Polizisten, wie in der Geschichte von García Lorca. Männer in Schwarz mit Sturmhelmen, Masken, Handschuhen, Sturmgewehren, auf ihren schwarzen Westen die weißen Buchstaben PFP*, die mit ihren Gewehren auf unsere Köpfe zielen. Einer verhört uns drohend, zwei versperren die Tür.

“Die Waffen! Wo sind die Waffen!?”
“Hier gibts keine Waffen. Wir sind arbeitende Menschen.”
“Was arbeiten Sie?”
“Ich bin Psychotherapeut und schreibe Bücher.”
“Seit wann wohnen Sie hier?”
“Seit dreißig Jahren.”
“Wie heißen Sie?”
“Efraín Bartolomé.”
“Wie alt sind Sie?”
“60.”
“Was arbeiten Sie?”
“Ich habe es Ihnen schon gesagt, ich bin Psychologe und schreibe Bücher.”
“Und Sie, wie heißen Sie?”, fragt er meine Frau.
“Guadalupe Belmontes de Bartolomé.”
“Was arbeiten Sie?”
“Ich bin Archäologin und Hausfrau.”
“Wie alt sind Sie?”
“54.”
“Ruhig. Atmen Sie tief. Ich überprüfe Ihre Angaben.”

Der Mann verschwindet. Im ganzen Haus Lärm. Sie leeren Schubläden, öffnen Türen, trampeln über das Parkett. Sie sind überall, draußen, im Gästezimmer, im Turm, im Arbeitszimmer unten.

Meine Frau legt uns ein Handtuch auf den kalten Boden, auf das wir uns setzen. Fünf Minuten später kommt der Mann zurück und verhört uns weiter. Ob wir oft Besuch haben, wie oft, wie oft wir verreisen, wer dann auf das Haus aufpasst und so weiter.
Wir antworten knapp. Er sagt, er wird die Angaben überprüfen und uns dann sagen, was gegen uns vorliegt.

Es vergeht einige Zeit. Wir hören, wie unten in der Garage unser Auto geöffnet wird. Unverständliche Stimmen im Hof. Wenig später heulen Motoren auf und Autos fahren weg. Wir sitzen weiter im Dunkel. Allmählich wagen wir, uns zu bewegen. Alles ist ruhig. Zitternd stehen wir auf. Langsam gehen wir aus dem Bad in das erleuchtete Schlafzimmer.

Chaos. Offene Schubladen. Die Nachtischchen ausgekippt. Das Schloss der Schlafzimmertür auf dem Boden. Teile des Riegels liegen herum. Die Schranktür eingedrückt. Wir gehen hinaus auf den Gang. Ein Bild auf dem Boden, die Türen der früheren Zimmer unserer Kinder offen. Drin Durcheinander: Koffer und Kisten aufgerissen, Schubladen geleert.

Im Esszimmer: Ein Fenster eingeschlagen, auf dem Boden Scherben.

Die Tür zum Wohnzimmer genauso eingetreten wie die zum Schlafzimmer. Das Schloss am Boden, überall Holzsplitter. Die Tür zum Turmzimmer steht offen, im Gästezimmer brennen die Lichter. Wir gehen nach draußen und sehen uns um.

Niemand.

Meine Frau ruft wieder bei der Polizei an. Umsonst. Ein weiteres Mal nehmen sie die Daten auf. Sie schicken einen Wagen, sagen sie.

Ich gehe an den Zaun und schaue auf die Straße.

Niemand.

Das Garagentor ist heil.

Die Haustür genauso eingetreten wie die Türen drinnen.

Im Arbeitszimmer brennen die Lichter. Wenn dort schon sonst Chaos herrscht, dann jetzt erst recht. Im Gästezimmer Schubladen ausgeleert, Zeitschriften auf dem Boden, Gegenstände über den Tisch verstreut, Schranktüren heruntergerissen. Im dritten Stock eine Skulptur auf dem Boden, aber weniger Unordnung. Im Kunstzimmer keine Schäden. Die Tür zur Dachterrasse steht offen.

Wir gehen wieder nach unten, wollen Fotos machen, doch die Kamera meiner Frau, die auf dem Nachtisch stand, ist verschwunden.
“Mein Computer ist auch weg!”, ruft sie. Den haben sie also auch mitgenommen.

Der Dichter und seine Uhr (© Tanya Guerrero von El Universal)

Ich will sehen, wie spät es ist und suche meine Uhr. Auch meine geliebte Omega Speedmaster Professional, die mich vierzig Jahre lang begleitet hat, ist verschwunden. Auf der Rückseite ist mein Name eingraviert.

Meine Frau ruft ein weiteres Mal bei der Polizei an. Nichts Neues. Sie haben unsere Daten, aber haben niemanden geschickt.

Draußen fährt ein Auto vor und wir sehen hinaus. Eine junge Frau steigt aus und geht bis an die Straßenecke, dann kommt sie zurück. Ich rufe ihr zu und sie antwortet. Wir fragen sie, was sie sucht und sie sagt, eine Freundin habe sie angerufen, die hier wohnt. In deren Haus sind sie ebenfalls eingedrungen. Meine Frau fragt, wen sie sucht.
“Magaña”, antwortet die junge Frau.
“Das ist Paty!”, ruft meine Frau.

Wir gehen auf die Straße und zu ihrem Haus. Patricia Magaña, Biologin an der Universität, steht mit ihrem Vater vor der Tür. Sie sind in ihr Haus und in das ihrer Eltern eingedrungen, mit derselben Gewalt wie in unser Haus.

Patricia und ihre Tochter waren allein.

Ihre über achtzigjähren Eltern waren allein.
Wir gehen in unser aufgebrochenes und geschändetes Haus zurück.
Trotz allem sind wir erstaunlich ruhig.
“Sie hätten uns umbringen können”, sagt meine Frau.
Einen Moment lang sehe ich unsere blutigen Körper auf dem Boden des zerwühlten Badezimmers.

Weiß Präsident Felipe Calderón, was in der Stadt passiert?
Weiß es Bürgermeister Marcelo Ebrard?
Weiß es der Justizminister Miguel Ángel Mancera?
Ordnen Marisela Morales oder Genaro García Luna** diese Aktionen an?
Werden wir je wissen, wer tatsächlich hinter diesem Anschlag auf Unschuldige steckt?

Am Abend waren wir noch überglücklich nach Hause zurückgekommen, nachdem unser neues Buch liebevoll und bewegend vom Publikum in Bellas Artes aufgenommen worden war. Und im Morgengrauen dringt die PFP mit Gewalt in unser Haus ein, bricht Türen auf, zerschlägt Fenster, durchwühlt unser Intimstes und bedroht uns mit schweren Waffen.

Ich gehe ins Arbeitszimmer, um dies zu schreiben. Die Stadt unter mir erscheint mir plötzlich schön in ihrer Ruhe. Am Himmel der gleichmütige Augustmond, fast voll. 06:35. Im Osten verfärbt sich der Himmel.

Die Polizei ist immer noch nicht gekommen.

Sind wir wirklich so allein?

*PFP: Policía Federal Preventiva, militärisch organisierte Einheit der Bundespolizei zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens.
**Marisela Morales ist Sonderstaatsanwältin zur Bekämpfung der Drogenkriminalität, Genaro García Luna ist Minister für Innere Sicherheit

Efraín Bartolomé, dt. von Jürgen Neubauer

Ich danke dem Autor für die Genehmigung, seinen Text übersetzen und hier wiedergeben zu dürfen.

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Was Efraín Bartolomé zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: Zur selben Zeit wurde im selben Stadtteil Óscar Osvaldo García Montoya alias El Compayito, Anführer der obskuren Drogenbande „Manos con Ojos“ verhaftet. Nachdem sich die Geschichte über Facebook verbreitet hatte und die Medien aufmerksam geworden waren, musste sich Staatsanwalt Alfredo Castillo öffentlich entschuldigen. Einige Tage später überbrachte er persönlich die gestohlene Uhr; auch die Kamera, der Computer und andere gestohlene Gegenständen wurden schließlich zurückgegeben.

Jürgen Neubauer

Dieser Text ist zuerst hier erschienen.

© Guadalupe Belmontes Stringel

Efraín Bartolomé, geboren 1950 in Ocosingo im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, ist Psychotherapeut und Dichter und lebt im Stadtteil Tlalpan im Süden von Mexiko-Stadt. Sein Werk lässt sich schwer einordnen; Kritiker wie Juan Domingo Argüelles betonen sein Auge fürs Detail, seine sinnliche Sprache und seine zeitlosen Darstellungen, die sich keinen Moden anbiedert. Sein erster Gedichtband Ojo de jaguar [Auge des Jaguar], den er 1982 veröffentlichte, hatte die Urwälder seiner Heimat zum Thema, sein zweiter, Ciudad bajo el relámpago [Stadt unter dem Blitz] aus dem folgenden Jahr die urbane Landschaft seiner neuen Heimat Mexiko-Stadt.

Bartolomé erhielt zahlreiche Preise und Auszeichungen, darunter den Premio Internacional de Poesía Jaime Sabines sowie ein Stipendium des Kulturreferats der Stadt München. Eine Auswahl seiner Gedichte und weitere Fotos findet Ihr auf seiner Website .

Zu Jürgen Neubauer

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