Geschrieben am 1. Dezember 2021 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2021

Eduard von Keyserling (1885) über Traum und Kunst

Die Kunst des Traumes und der Traum der Kunst 

Ein Text aus dem Jahr 1885

Eduard Graf von Keyserling (1855 – 1918) stammte aus altem kurländischem Geschlecht, studierte Jura und Kunst und lebte zunächst in Wien, ehe er sich nach einer ausgedehnten Italienreise als Autor in München niederließ und in der Schwabinger Boheme verkehrte. In seinem Erzählwerk, das zum Stilvollsten gehört, was die deutschsprachige Literatur zu bieten hat, setzte er der Welt von gestern ironisch funkelnde Denkmale. Als Feuilletonist und Kritiker ist er nicht annähernd so bekannt, wie er es verdient. Der Manesse Verlag bringt seine Werke wieder heraus. „Kostbarkeiten des Lebens„, der Band 3 der großen Schwabinger Werkausgabegibt Gelegenheit, ihn als vielseitig interessierten Kunst- und Literaturliebhaber, Theatergänger und Zeitdiagnostiker entdecken zu können. Der mit 35 Bildtafeln bestückte Band enthält neben Keyserlings Feuilletons fünf verschollene Erzählungen, ein umfassendes Korpus an Briefen sowie die erste ausführliche Chronik zu Leben und Werk. Mit freundlicher Genehmigung des Manesse Verlags präsentieren wir Ihnen einen kleinen Auszug.

Eduard von Keyserling: Kostbarkeiten des Lebens. Gesammelte Feuilletons und Prosa . Mit fünf neu entdeckten Erzählungen,den versammelten Briefen und Widmungen, einer Chronik samt genealogischem Abriss sowie Bildtafeln mit 35 farbigen Abbildungen. Herausgegeben und kommentiertvon Klaus Gräbner und Horst Lauinger, Schwabinger Ausgabe, Band 3. Nachwort von Lothar Müller. Manesse Verlag, München 2021. 912 Seiten, 35 farbige Abbildungen, 32 Euro.

Der Traum gibt uns ein Stück Leben, gibt alles, was zum Leben gehört; den vollen Glauben an die Wirklichkeit der Ereignisse, ursächlichen Zusammenhang, Empfindungen, Gedanken – alles. Wenn der Traum uns oft unklar und verworren erscheint, so kommt das entweder daher, dass wir uns noch nicht ganz von der Welt des Wachens losgesagt haben, dass wir – sozusagen – nur mit einem Fuß im Traumlande stehen, oder die Erinnerung an den Traum ist nicht treu, und sie verwirrt, was im Traume Sinn und Ordnung hatte. 

Dieses Stück Leben jedoch passt in unser übriges Leben nicht hinein; und dadurch wird der Traum zum Traum. Oft hört man Menschen sagen: «Ich weiß nicht, habe ich’s erlebt, oder hat es mir bloß geträumt?» – Bei zurückliegenden Ereignissen entfällt dem Gedächt-nisse häufig der Zusammenhang, und ein Traum reiht sich als Glied in die Kette des Erlebten ein. 

Eine alte Frau, die ich kannte, pflegte ihre Träume stets als etwas wirklich Geschehenes zu erzählen, ja, sie setzte ihre Träume im Gespräch als bekannt voraus, als hätte ihre Umgebung sie miterlebt. Sie war gelähmt, verließ ihr Zimmer nicht, sah stets dieselben Personen, und ein Tag glich dem anderen. Auf dem Sessel einschlummernd, träumt ihr; die Magd kommt und teilt ihr eine Nachricht mit. Erwacht, spricht sie von dem Geträumten mit der Magd wie von et was Bekanntem, setzt ein Gespräch fort, das sie im Traume begon- nen hat. Auch bei Kindern findet man es häufig, dass sie ihre Träume für Wirklichkeit halten, denn ihnen fehlt noch die Übung, den Zusammenhang des Lebens zu übersehen. 

Das Bruchstückhafte ist es, was den Traum vom Leben unterscheidet. Wir brechen unser wirkliches Leben ab und geben uns, für eine Weile, einem Lebensfragment hin, um, beim Erwachen, wieder dort an unser Leben anzuknüpfen, wo wir es unterbrochen haben. Dieses Lebensfragment ist nichtsdestoweniger – erlebt – ganz und voll; und beim Erwachen fühlen wir oft noch die Traumleidenschaft in uns nachzittern. Ich habe gefunden, dass der Traum mir oft ebenso vollwertige Belehrung und Bereicherung gegeben hat wie die Wirklichkeit. In einzelnen Zügen ist der Traum oft unzuverlässig, im Gefühl nie; und wenn er mir ein Ereignis bietet, zu dem das Leben mich nicht zugelassen hat, so erregt er in mir Gefühle, die ich, unter denselben Verhältnissen, in der Wirklichkeit auch gehabt hätte; ich bin um diese Betätigung meines Wesens reicher, und der Traum vermehrte meinen Schatz des Erlebten um ein bedeutsames Stück. 

Die Gestaltungskraft der Traumphantasie ist mit der des Künstlers verglichen worden, und man hat auf ihre gemeinsame Quelle hingewiesen (so: du Prel: Psychologie der Lyrik). Die Gleichartigkeit der Wirkung eines Kunstwerkes mit dem Traume aber erscheint mir mindestens ebenso auffällig. Hier wie dort unterbrechen wir den Faden unseres Lebens, den ursächlichen Zusammenhang, durch den wir die Einheit unserer Persönlichkeit erlangen, und geben uns einer unabhängig und unvermittelt beginnenden Reihe von Ereignissen und Stimmungen hin; nur dass wir beim Nachempfinden eines Kunstwerkes ein fremdes Wesen in uns aufnehmen, während unser Ich im Traume meist die Hauptrolle spielt. 

Wenn ein Kunstwerk über uns Macht gewinnt, erheben wir uns über unsere Persönlichkeit, wir erfüllen unser ganzes Empfinden mit dem Gegenstande des Kunstwerkes: wir leben ein fremdes Leben. Dieses muss die höchste Wirkung eines jeden Kunstwerkes sein. Das Schöne erlaubt uns, über unser Ich hinauszugehen und an einem anderen Wesen teilzuhaben; es gibt uns einen Überschuss an Leben. 

Das Schicksal bestimmt mir ein Los, in dem sich notwendig und logisch der Augenblick aus dem Augenblick entwickelt. An diese Kette von Ursache und Wirkung bin ich gefesselt, wenn ich mich selbst nicht verlieren will. Auf eine Weile darf ich diese Kette jedoch zerreißen, um fremdes Leben, ein Los, das mir nicht beschieden war, hineinzuschieben. Auf Augenblicke darf ich mehr als nur ich selbst sein. 

Die Ähnlichkeit des Kunstgenusses mit dem Traume lässt sich bis in die feinsten Einzelheiten verfolgen. Wenn ich vor ein Bild hintrete und dieses Bild Eindruck auf mich macht, mich gefangen nimmt, dann glaube ich es physisch zu empfinden, wie meine Person in mir von der Seele des Bildes verdrängt wird, denn bei einem Bilde ist der Übergang vom gewöhnlichen Leben zum Nachempfinden des Kunstwerkes am unvermitteltsten und gewaltsamsten. Nun, dieses Gefühl des Brechens mit der Gegenwart ist genau dasselbe, welches uns überkommt, wenn wir einschlafend spüren, dass wir zu träumen beginnen. Wir sind uns noch des Abstandes von Wirklichkeit und Traum bewusst und fühlen, dass wir an etwas zu glauben beginnen, das sich nicht logisch an den vorhergehenden Augenblick anschließt. 

Endlich sind es auch dieselben Ursachen, die uns einen Traum zerstören und eines Kunstwerkes nicht froh werden lassen. Ein zu starker Reiz, Schmerz, Ekel, Unbehagen erinnern uns an unseren Körper, an die ursächliche Reihe von Ereignissen, die unsere Person, unser Leben ausmachen – wir erwachen. Oder wenn der Traum es zu toll treibt, wenn er sich zu weit vom Wahrscheinlichen entfernt, wer kennt da nicht das wunderliche Misstrauen, das wir träumend gegen den Traum empfinden? «Ich träume nur», sagen wir uns, wie wir von einem Kunstwerk, das gegen die Wahrheit sündigt, sagen: «Es ist nur gemacht.» 

Der Traum also war der Erste, der uns lehrte: «Ihr könnt für eine Weile das Leben, welches das Schicksal Euch zugedacht hat, beiseite- legen und ein Ausnahmeleben führen. Ich gebe Euch viele Lebensfragmente, damit Ihr nicht ermüdet, stets an dem alten Leitseil fortzugehen.» 

Da kam jedoch die Kunst und sprach: «Ich gebe Euch als Zugabe zu Euerem Los noch das Leben aller anderen Wesen, damit Ihr nicht müde werdet, immer nur das eine Ich mit Euch herumzutragen.» 

Die Kunst befolgt die Methode des Traumes, um auf uns zu wirken; sie bietet aber mehr: sie gibt uns einen erweiterten, geordneten und geläuterten Traum. 

Erstveröffentlichung: Deutsche Wochenschrift, Wien und Leipzig, 2. Jg., H. 44, 1.11.1885, S. 7–8; gez.: «Von Graf E. Kayserling.»; wieder in: Das Opfer. Unbekannte Erzählungen, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Reinhard Oestreich, BoD, 2018, S. 7–10. 

Tags : , ,