Geschrieben am 19. September 2009 von für Crimemag, Porträts / Interviews

Ed Sanders im Porträt

The Family – Der Rock `n`Roll Reporter Ed Sanders

Es waren die letzten Septembertage des Jahres 1968. Am 11. April war das Attentat auf Rudi Dutschke verübt worden. „Ach, Deutschland, deine Mörder! Es ist das alte Lied. Schon wieder Blut und Tränen. Was gehst du denn mit denen, du weißt doch, was dir blüht!“ (Wolf Biermann) Sieben Tage zuvor, „am 4. April 1968 knallte ein haltloser, rassistischer Lump, ein gedungener Mörder, in Memphis (Tennessee) Martin Luther King ab“ (Ed Sanders). Eine Annährung von FRANK GÖHRE

Es war eine mörderische Zeit.

Es war das Jahrzehnt, zu dessen Beginn der Sowjetrusse Gagarin als erster Mensch sanft durchs All schwebte, die Amerikaner sich das Castro-Kuba wieder unter den Nagel reißen wollten, der Genosse Ulbricht den Mauerbau anordnete und im sogenannten freien Westen die Haare der Männer länger und die Röcke der Frauen kürzer wurden. Die SPIEGEL-Affäre erschütterte die Bundesrepublik, John F. Kennedy gab sich auf dem Charlottenburger Rathausplatz als Berliner aus, Ludwig Erhard wurde Bundeskanzler und Cassius Clay Boxweltmeister aller Klassen. Rolling Stones-Fans richteten nach einem Konzert in der Berliner Waldbühne Sachschäden in Höhe von 400.000 Mark an, in China begann die Kulturrevolution, in Amsterdam machten die Provos Rabatz, in Paris stiegen auch Dichter und Denker auf die Barrikaden. Und die Amis legten einen Bombenteppich über Vietnam und massakrierten sämtliche Bewohner des Dorfes My Lai.

Es war die Zeit der Gemetzel, und es war die Zeit der Revolten gegen das Morden und Schlachten, gegen Imperialismus und Notstandsgesetzgebung.

Wer noch keine Dreißig war und auch nur einen Funken kritisches Bewusstsein hatte, reihte sich ein und machte Front gegen das Schweinesystem, gegen Bullen und Ausbeuter-Bosse: „Zu singen wenig, aber zu handeln genug“ (Peter Rühmkorf).

In jener letzten Septemberwoche des Jahres 1968 aber sollte lautstark und solidarisch gesungen werden. Ein europäisch-amerikanischer „brain-trust“ hatte in der Kruppstahl-Stadt Essen ein Fünf-Tage-Festival organisiert, die ersten „Internationalen Essener Song Tage“.

Väterchen Degenhardt und Dieter Süverkrüp klampften, und Wolfgang Neuss hatte den bösen Biss. Es gab Free Jazz und satten Blues aus dem Mississippi-Delta, Chansons aus Frankreich und allerlei internationale Folklore.

Höhepunkte aber waren Frank Zappa mit seinen Mothers of Invention und – „hey, Leute, hier sind sie, direkt aus New York City – The Fugs!“.

Es war ein Samstag, und keiner der zigtausend Jugendlichen in der Gruga-Halle wusste, ob es draußen noch Tag oder bereits Nacht war. Vollgedröhnt mit erstklassigem Shit, aufgeputscht durch Speed schnellten die Fäuste hoch und wild schreiend wurde der infernalische Einstieg der sieben wüst aussehenden Rock ’n’ Roller auf der Bühne wiederholt: „Fuck you President Johnson … FUCK YOU … I mean you’re not gettin enough good lovin, are you … NOT ENOUGH LOVIN … & I’m not & Mao Tse Tung don’t look like enough … MAO TSE TUNG … or Ho Chin Minh … HO HO HO CHIN MINH … & you can’t fuck too good o­n o­ne bowl of rice per day … FUCK FUCK FUCK FOR PEACE …“

So fing die Show an.

Es war der erste bundesrepublikanische Gig der amerikanischen Kult-Band The Fugs, und es sollte der einzige bleiben: „Die Fugs verabschiedeten sich 1969 in den Staaten mit einem Konzert neben Grateful Dead und dem Album The Belle Of Avenue A. Zum Sextett geschrumpft holten sie noch einmal zu einem fröhlich-bösen Pop-Comic aus. Die Fugs-Initiatoren zogen sich zurück.“ (Christian Graf, Rock Musik Lexikon, Hamburg, 1989)

Es waren drei nicht mehr ganz junge New Yorker Underground-Poeten, „perverse Spät-Beatnik-Dichter“, die 1965 im Künstlerviertel Greenwich Village die Band gegründet hatten: Tuli Kupferberg, Ed Sanders und Ken Weaver.

Zwei von ihnen, Tuli Kupferberg (geboren 1923) und Ed Sanders (geboren 1939), waren der deutschen Szene schon vor dem legendären Essener Auftritt bestens bekannt.

Frankfurter und Kölner Freaks hatten von ihren Amerika-Trips Artikel, Manifeste und Gedichte der beiden Kultur-„R-r-r-evolutionäre“ mitgebracht und übersetzt. Auf hektographierten Seiten kursierten Auszüge aus „East Village Other“, der größten Underground-Zeitung in den Staaten, und Kopien von „FUCK YOU/ A Magazin for the Arts“, herausgegeben durch Ed Sanders und immer wieder von der New Yorker Polizei beschlagnahmt – laut Sanders, um sich daran aufzugeilen. Die radikalsten Texte verfasste Ed Sanders selbst, ein aus Kansas City stammender, hochaufgeschossener Typ, der mit einer Bestnote in Griechisch promoviert hatte. Er forderte den „totalen Angriff auf die Kultur“ – durch permanente Aktionen von außen, von „Kriminellen, Süchtigen und Farbigen“. Sanders große Themen waren SEX, DRUGS & BRUTALITY, sein gesellschafts-politisches Credo lautete KILL KILL KILL FOR PEACE!

Im Oktober 1969 aber wurde Ed Sanders nachhaltig erschüttert. Der intellektuelle Wortführer der amerikanischen Subkultur und Frontman der Fugs las von „einer Bande nackter, langhaariger Diebe“, die in Kalifornien umherstreifte und offenbar wirklich schlimme Dinge trieb. Sechs Wochen später redete man auf der ganzen Welt von Charles Manson, dem „Mörder mit dem glasigen Blick“, und seinen „Satanssklaven“.

Was von Ed Sanders und anderen Underground-Syndikalisten lautstark thematisiert worden war, hatte ein abgedrehter Kleinkrimineller in die Tat umgesetzt. Charles Manson hatte ein abscheuliches KILL IN initiiert, ein blutiges Helter Skelter praktizieren lassen.

„Ich hatte mich mit jemandem, der in die Sache verwickelt war, zum Mittagessen verabredet … Plötzlich streckte er seine Hand vor und schnippte mit seinen sauberen, weißen Fingern ein kleines Foto quer über den Tisch, so dass es genau vor meiner Nase landete: Sharon Tate war darauf zu sehen, tot auf dem Teppich liegend mit der Schlinge um den Hals … Mit ihrer linken Hand hielt sie den Strick gepackt, als ob sie versuchen wollte, ein letztes Mal Atem zu holen, ihr schwangerer Bauch neigte sich zum Fußboden, die langen und eleganten Beine lagen in einem verdrehten Winkel zu ihrem Körper. Hinter ihr sah man die amerikanische Flagge, verkehrt herum über das Sofa drapiert … der Boden war voller Blut … Bis zum heutigen Tage befällt mich Horror, wenn ich an dieses Bild zurückdenke. An diesem Punkt realisierte ich damals, daß ich den wahren Charakter der Manson Family enthüllen und die Morde so beschreiben mußte, daß für alle Zeiten geklärt war, was es mit diesen Leuten auf sich hatte.“

Es war nicht allein dieses Entsetzen, das Ed Sanders veranlasste, der Spur des Charles Manson und seiner „Strand-Buggy Streitmacht“ zu folgen und die Geschichte dieser Hippie-Kommune penibel zu recherchieren. Manson und seine „Satanssklaven“ erschienen ihm wie Totengräber der gesamten Gegenkultur und Hippiebewegung. Sanders, der FUCK & KILL-Propagandist, wollte sich nachdrücklich von diesen Gräueltaten distanzieren, er musste die eigene Position und auch die seiner Leute dezidiert neu bestimmen.

So ist es sicher nicht beliebig, dass er für sein Buch jene Form wählte, die in Amerika seit den frühen 60ern als New Journalism Schule gemacht hatte. Die Methode des Neuen Journalismus besteht, verkürzt gesagt, darin, dokumentarische Texte als großangelegte Erzählung zu gestalten, in der die persönliche Haltung des Schreibers deutlich wird, ohne sie explizit zu benennen. Ein Balanceakt also zwischen größtmöglicher Nähe zum Gegenstand und unbestechlicher Berichterstattung. Es geht nicht allein um die Fakten, sondern auch um deren literarische Umsetzung, um einen klaren und dennoch virtuosen Stil. Die Debatte zwischen Norman Mailer und Truman Capote bringt das auf den entscheidenden Punkt.

Truman Capote, der mit Kaltblütig das große Meisterwerk des New Journalism geschrieben hatte, kritisierte Mailer als Autor von Gnadenlos in einem Interview: „Mir gefiel das Buch nicht. Mit gefiel seine Einstellung zu den Figuren nicht. Mir gefiel seine Betrachtungsweise nicht. Mir gefiel der Stil nicht … Norman hat meine Auffassung von Nonfiktion als narrative Schreibweise nicht verstanden.“ Und: „Ich wurde so absolut, so persönlich (in die Geschichte der beiden Mörder aus Kansas) hineinverwickelt, dass sie mich beherrschte und mein Leben auffraß. All diese Gerichtsverhandlungen, Berufungsverfahren, die endlosen Recherchen, die ich anstellen musste – etwa achttausend Seiten reine Recherchen –, und mein Engagement für die zwei Jungs, die das Verbrechen begangen hatten. Alles. Es war so etwas wie ein Miterleben von einem Tag zum anderen. Und das ist’s, warum ich keinen Respekt vor The Executioner’s Song habe, Mailers Buch, das meiner Meinung nach ein Un-Buch ist. Er hat es nicht miterlebt, Tag für Tag, er kannte Utah nicht, er kannte Garry Gilmore nicht, ja, er hat Gary Gilmore nie gesehen, er hat keine Unze Recherchearbeit für das Buch geleistet, zwei andere Leute machten die ganzen Recherchen.“

Ed Sanders aber kann in diesem Sinn als legitimer Nachfolger von Truman Capote und dessen eindringlicher Erzähl-Reportage angesehen werden. Während seiner Arbeit an The Family tauchte Capote selbst plötzlich beim Manson-Prozess auf. Sanders war verunsichert. Wollte der Meister etwa auch ein Buch über die Family schreiben? Nein, versicherte ihm Capote und schlenderte hinüber zu den Geschworenen, um mit ihnen zu plaudern.

Sanders hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits über Jahre voll und ganz auf den „Fall Manson“ eingelassen. Sein biografischer Background als Szene-Typ und Rock ’n’ Roll-Anarcho machte es ihm relativ leicht, in jene Kreise einzudringen, wo man einem „bürgerlichen“ Reporter den Finger gezeigt, oder ihn gar gekillt hätte. Ed Sanders aber sprach und spricht die Sprache der Kiffer, Kokser und Speedfreaks, und ihm sind weder die Rituale der Hell’s Angels noch die Strategien der Stadtguerillas fremd. Im Grunde genommen bewegte er sich bei seinen Recherchen auf nur allzu vertrautem Terrain. Er war als Poet und Musiker seit Jahren in diese Acid-Subkultur involviert.

So ist sein Mammut-Werk über den „kriegerischen Clan“ des Charles Manson, der vom Death Valley auszog, um bestialisch zu morden, zugleich ein aufschlussreicher Trip durch jene Jahre des Aufruhrs und der Revolten.

Wie schnell jedoch der Protest gegen eine autoritäre Gesellschaftsstruktur umkippte und sektiererische Gruppierungen hervorbrachte, die sich einem sie raffiniert manipulierenden Führer und dessen „Gruselgrauen-Kapitalismus“ nur zu bereitwillig unterordneten, belegt Ed Sanders minutiös. Es gelingt ihm, die Psychologie der Verführung in allen Einzelheiten bloßzulegen und er beschreibt auch, wie der Horror noch aus den Gefängniszellen heraus greift.

Es Sanders berichtet von alljährlichen „Familientreffen“ der seinerzeit dem Knast entgangenen Manson-Jünger in der Nähe der Barker Ranch – am 12. November, wenn Charlie Geburtstag hat. Auf der Barker Ranch wurde Charles Manson am 12. Oktober 1969 gestellt und verhaftet. Er wird zum Tod in der Gaskammer verurteilt. Das Urteil aber wird knapp ein Jahr danach in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt. Seitdem ist Manson hinter Mauern. Doch die Macht über seine Getreuen hat er nie ganz verloren.

Squeaky Fromme zum Beispiel gehörte zu der Fraktion des Manson-Clans, die die „süße Unschuld“ verkörperte. Sie war nicht an den Morden beteiligt, wollte aber offenbar mit einem Attentat auf den damaligen Präsidenten Ford Manson und die eigentliche „Gruselbrigade“ in den Schatten stellen. Der Mordanschlag auf den Präsidenten gelang nicht, wohl aber die „Show“ – am 15. September 1975 war sie auf den Titeln von „Time“ und „Newsweek“.

Charles Manson selbst wird für viele zu einer Kultfigur. Sie bezeichnen ihn als „echten Typ“, der richtig gut drauf war und es den „verrotteten Hippieärschen“ ordentlich gezeigt habe. Was historisch – nicht allein in Ed Sanders Verständnis – eine Katastrophe war, ist nun cool. Guns ’N’ Roses haben einen Manson-Song in ihr Spaghetti Incident-Album aufgenommen (David Geffen, Chef der Plattenfirma: „Ich bin völlig ausgerastet“). Axel Rose trägt bei Konzerten gern ein Manson-T-Sirt. Shirts, Porträts vom „Grusel-Killer“, Gemälde und Zeichnungen von der Ermordung Sharon Tates sind in L.A.-Plattenshops erhältlich – ein cleveres Brüderpaar macht mit dem Vertrieb verschiedener „Reliquien“ der Manson-Family die große Kohle. Trent Renzor von der Band Nine Inch Nails residiert in der ehemaligen Tate/Polanski-Villa und Dave Wyndorf, Kopf der Monster Magnet Band, hat sein Äußeres dem einst bärtigen Charles Manson angeglichen. „Wenn es über mich kommt, laufe ich auch gern mal Amok“, verkündet er grinsend. „Dabei bringe ich natürlich niemand um.“ – Nein, eine Wiederauflage des Helter Skelter-Gemetzels hat es in der Form nicht mehr gegeben. Aber sinnlose Gewalt und ihre Verherrlichung ist – über Amerika hinaus – Alltag geworden. Und das „Modell Manson“ setzt sich in Sekten wie Scientology fort.

Immer wieder gibt Manson weitschweifige Interviews und rasselt dabei demonstrativ mit seinen Hand- und Fußketten. 1970 hatte er sich ein Kreuz in die Stirn geritzt – er wollte symbolisieren, dass er aus der Gesellschaft „herausgeixt“ worden war. Inzwischen hat er aus dem Kreuz ein Hakenkreuz gemacht. Ständig wiederholt er, dass er für nichts verantwortlich sei: „Ich bin eine Schlange, ich will keinen Ärger. Die Kinder sind ihren eigenen Weg gegangen.“ Er ist inzwischen ein alter Mann und hat sein dichtes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er will kein Manipulator und erst recht kein Killer gewesen sein. Manson nennt sich einen Rock ’n’ Roller: „Du singst aus dem Bauch. Musik kommt aus der Seele. Ich mache Musik für Gott und für mich selbst.“ – Yeah, mehr hat er eigentlich nie gewollt. Hätte man ihm den so sehnlich erwünschten Plattenvertrag gegeben, könnte die Pop-Geschichte einen mittelmäßigen Musiker mehr und die Welt möglicherweise ein „Monster“ weniger verzeichnen. Neil Young erinnerte sich später: „Ich habe Charlie das erste Mal in Dennie Wilsons Haus getroffen. Viele berühmte Musiker aus L.A. kannten ihn ebenfalls, obwohl sie es heute wahrscheinlich abstreiten würden … Ich ging sogar einmal zu Mo Ostin (dem damaligen Chef von Warner Bros.) und schlug ihm vor, Manson unter Vertrag zu nehmen. Wenn er eine Band wie Bob Dylan … gehabt hätte, dann …“

Ja, dann. Dann vielleicht. Neil Young schließt das Kapitel „Manson“ mit dem Satz: „Aber er hat nie eine Band zusammenbringen können, weil irgendwas an ihm war, das die Leute davon abhielt, sich länger mit ihm abzugeben.“

Was das war, erzählt der Rock ’n’ Roll Reporter Ed Sanders in The Family – und auch, warum dennoch „Blumenkinder“ auf ihn abfuhren und durch ihn zu Mördern wurden.

Frank Göhre


Mehr Porträts von Frank Göhre (www.frankgoehre.de) finden Sie in seinem Buch Seelenlandschaften bei Pendragon, aus dem dieser Text stammt.