Geschrieben am 28. März 2009 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Dr. Lehmanns Sach- und Warenkunde N° 6

Kleine Kriminalistik für Krimis

Heute: Geistiger Selbstmord. Da steigt ein Mann morgens aufs Rad zum Brötchenholen und fährt bis Spanien weiter. Denn er hat vergessen, was er wollte und woher er kommt. Wenn er in den Spiegel guckt, weiß er nicht, wen er sieht. Er erinnert sich an nichts mehr. Die Bilder seines Lebens sind alle weg. Er wird seine Frau und seine Kinder nie wieder erkennen. Ein Psychologe bekommt vielleicht heraus, dass der arme Mann in seinem vorigen Leben unter Dauerstress gelitten hat: Schulden, Frustrationen, eine unerfreuliche Ehe, ein Scheißleben. Da hat das Hirn plötzlich dicht gemacht und alle Verbindungen zu Früher gekappt …
Der plötzliche Gedächtnisverlust ist ein unheimlicher Sonderfall der retrograden Amnesie.

Sein Auslöser ist kein Schlag, kein mechanisches Trauma, sondern Stress. Normalerweise wird ein Mensch bei Stress schlagartig leistungsfähiger. Das hilft ihm zu überleben. Es gibt aber auch schlagartige Erkenntnisse absoluter Ohnmacht bei existenzieller Bedrohung, bei denen der Stress den Aus-Schalter drückt. Das kann bei Horrorszenarien der Fall sein, aber auch bei jahrzehntelangem Dauerstress. Das biografische Gedächtnis wird urplötzlich verschlossen.

Im biografischen Gedächtnis steckt alles Wissen, das an Gefühle gekoppelt ist: der Name der Eltern, die eigene Identität, der erste Schultag, die Führerscheinprüfung. Das ist alles weg. Doch die Inhalte der Führerscheinprüfung sind nach wie vor präsent. Autofahren geht auch noch. Das motorische und faktisch Gedächtnis bleibt erhalten, nur das biografische Gedächtnis ist weg.

Die individuelle Dramatik, die in so einem Gedächtnisverlust steckt, schreit geradezu nach einer Kriminalgeschichte, deren eigener Detektiv das Opfer der Amnesie ist. Aber Vorsicht! Erstens gibt es das schon, und zweitens taugt so eine Person – realistisch betrachtet – nicht wirklich zur Heldin. Ihr fehlt der detektivische Biss, der Antrieb, die Leidenschaft. Es ist ihr nämlich herzlich egal, was mit ihr passiert ist. Ihr ist eigentlich alles ziemlich gleichgültig. Denn bei Menschen mit plötzlichem Gedächtnisverlust ist vor allem das Gefühlsleben gestört. Sie stehen allem indifferent gegenüber. Nicht einmal ihr eigener Gedächtnisverlust regt sie sonderlich auf. Gefühle anderer können sie auch nicht mehr deuten. Man lässt sie deshalb Telenovelas gucken, damit sie wieder lernen, welche Grimassen Freude und welche Zorn oder Angst ausdrücken.

Doch die Tür zu ihrem biografischen Gedächtnis geht so gut wie nie wieder auf.

Christine Lehmann

Christine Lehmann & Manfred Büttner: Von Arsen bis Zielfahndung. Das aktuelle Handbuch für Krimiautorinnen und Neugierige.
Ariadne im Argument Verlag 2009. 250 Seiten. 16,90 Euro.

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