Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Die Serie „Years and Years“ (2019)

Von medialen Monstern, Transhumanismus und zivilem Ungehorsam

Ein Essay von Markus Pohlmeyer

“Die Konstante des menschlichen Lebens ist die Transformation.“[1]

Years and Years – eine phantastische, eine bedrückende Serie. Irgendwie Science Fiction, irgendwie Gesellschaftsstudie, zu nahe, allzu nah an unserer Gegenwart. Wie ein Spiegel. 

Das Brexit-England in den Fängen einer Populistin. Die Vorlagen und Modelle dafür sind allseits bekannt. Emma Thompson dämonisch brillant als Vivienne Rook, welche die (TV-/Internet-)Massen verführt und letztlich zur Premierministerin aufsteigt. „Die Populisten in Europas Gesellschaften scheinen diese von innen zu sprengen. Angefeuert durch fake news und Propaganda aus den Trolllaboren überhitzen viele der Debatten in den Sozialen Netzwerken, es offenbart sich an vielen Stellen eine eklatante Medieninkompetenz.“[2] Medieninkompetenz? Wir sind schon längst nicht mehr eine Informations- oder Wissensgesellschaft (Wann waren wir das je?), von Weisheit oderMemoria gar nicht zu sprechen, sondern ein Meinungsdelirium. „Twitter, Facebook und Co. sind für die Populisten dieser Welt gerade deshalb so attraktiv, weil die vermittelnde, abwägende und einordnende Instanz des kompetenten Journalisten kurzgeschlossen wird.“[3] In der Serie beispielsweise werden unbequeme Journalisten und Journalistinnen ‚entfernt‘, mundtot gemacht; geschlossen die BBC. 

Die Familie Lyons, in der sich brennglasartig und hyperbolisch Probleme und Krisen so stark bündeln, dass es fast schon unglaubwürdig wirken mag. Aber darum geht es nicht, denn das Globale erweist sich als hochgradig individuell. Die Verstrickungen und Katastrophen dieser Familie sind immens: Stephen z.B. verliert in einem Bankencrash sein Vermögen, geht fremd, muss mehrere Jobs annehmen, um über die Runden zu kommen, erniedrigt sich, nur um bei einem (wirklich miesen-fiesen) Unternehmer zu arbeiten, der die Infrastruktur von Konzentrationslagern betreibt. Ja, Sie haben richtig gelesen. Einige Schritte zurück. 

Vier Geschwister: Rosie ist schwerbehindert, sitzt im Rollstuhl und lebt in einem Stadtviertel, das wegen seiner hohen Kriminalitätsrate später abgeriegelt werden sollte; Edith, politische (Öko)Aktivistin, wird bei einem Atombombenabwurf der USA auf eine chinesische Insel verstrahlt. Daniel ist schwul, verlässt seinen Ehemann, um mit Viktor, einem Migranten aus der Ukraine, zusammenzuleben. Der, bei seiner illegalen Arbeit vom Ex-Mann seines Freundes fotografiert und angezeigt, dann des Landes verwiesen, in die Ukraine zurückkehrt; dort von seinen Eltern wegen Homosexualität angeklagt, muss er nach Spanien fliehen, das in politischen Krisen zu versinken droht. Daniel will ihn retten – dramatisch diese Odyssee durch halb Europa und wie sich Kriminelle am Elend der Schutzsuchenden bereichern –, ertrinkt aber bei einer illegalen Überquerung des Kanals in einem überfüllten Boot. So dass Stephen später Viktor dafür die Schuld gibt, um ihn – er verfügt über den entsprechenden digitalen Zugang – in eines der ‚nicht-existierenden‘ KZs zu überführen. 

Das Persönliche, d.h. zutiefst Irrationale, scheint in dieser Serie geradezu verhängnisvoll mit der digitalen und sozialen Welt-Ganzheit verbunden. Dies verkörpert besonders Bethany, die davon träumt, transhuman zu werden, sich dafür auch diversen Operationen unterzieht und schließlich nach vielen technischen Implementierungen unbeschränkten Zugang zu allen digitalen Geräten erhält. Unterstützt von der Regierung: der sie nun gehöre? Bethany und Edith repräsentieren technische Transformationen menschlicher Körperlichkeit hinein in eine (mögliche) digitale Unsterblichkeit.[4] Die Medien inkarnieren sich in den Menschen hinein, und er/sie selbst wird virtuell – ontologisch-existentiell. Die sterbenskranke Edith geht 2034 den letzten Schritt, einen Übergang von organischer Existenz in eine digitale. Aus ihrer zu speichernden Erinnerungsperspektive wurden letztlich diese Geschichten erzählt, also sind sie schon Ediths Konstrukt und Deutung (… sie konnte aber gar nicht an allen Ereignissen teilnehmen: liegt hier eine unzuverlässige Erzählerin vor?). Wo aber wäre überhaupt noch ein direkter Zugang zur Wirklichkeit (was auch immer das sei)? Auch Rook erscheint oft nur als mediale Präsenz. Umso gespenstischer, dämonischer ihr ‚echter‘ Auftritt bei einem Geheimtreffen, wo KZ-Lizenzen versteigert werden. Einer dea ex machina gleichend …

Muriel wirkt durch ihr hohes Alter wie das Gedächtnis eines Jahrhunderts und seiner Verlustgeschichte; sie entwickelt sich – eine weise, alte Dame, um die sich immer wieder ihre Familie versammelt – zum geistigen Widerstand schlechthin gegen die Premierministerin. In einer Rede, durchaus eines Cicero würdig (tua res agitur), gelingt es ihr, die Familie aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant) zum zivilen Ungehorsam (Thoreau) wachzurütteln, sie wieder zu re-politisieren. Gegen folgenden Trend: Die „[…] Entpolitisierung der Politik und die Umwandlung von vermeintlichen Entscheidungszwängen in vermeintliche Alternativlosigkeit entwöhnt die Debattenteilnehmerinnen von Argumenten, das Spektrum des politischen Möglichen wird bereits festgelegt, bevor es überhaupt zu einer Debatte kommt.“[5] Denn: „Belohnt wird Konformität. Widerstand gegen den drohenden Abstieg in der ‚Abstiegsgesellschaft‘ erscheint zwecklos und kontraproduktiv.“[6] Einige Familienmitglieder mussten das schon mehrfach erleben, wie sie wegrationalisiert wurden. Aber im Finale (bzw. erst im Finale) der Serie geschieht die Peripetie: So reißt Rosie mit ihrer rollenden Imbissbude das Gitter ihres Stadtgefängnisses nieder; Stephen stellt eine Datei über die Machenschaften seines Chefs für die Polizei zusammen; Edith befreit Viktor und macht dabei die KZs publik. 

Warum überhaupt solche? Durch den Klimawandel bedingt, verliert England seine Küsten; dazu tragische Anschläge. Wohin mit den Fliehenden? Rooks Rede (sie, flammend rot gekleidet, wirbelt eine Präsentation durcheinander … diabolisch …), der Auftritt Rooks bei einem gewissen Treffen ist kaum an Zynismus zu überbieten, zeigt aber alternative Fakten im Werden: „Einige bekommen bei dem Wort Lager Bauchschmerzen …“ „Füllt man ein Lager mit Orangen, so ist es ein Konzentrationslager, weil dort Orangen konzentriert sind. So einfach ist das.“ Bei ihr klinge das sogar „richtig lecker“. Und nun verweist Rook auf den Burenkrieg. Die Briten hätten der Natur ihren Lauf gelassen: „[…] Es gab in den Lagern Seuchen […]. So fand ein natürlicher Selektionsprozess statt […].“ „Haben Sie davon gelesen, es in der Schule gelernt?“ „Erinnern wir uns vielleicht daran?“[7] Das Publikum zweimal: Nein. Wir hätten es vergessen, denn es habe funktioniert, so die Demagogin weiter (Orwells 1984 lässt grüßen …). Und gerade durch die Figur von Stephen, der an diesem Treffen teilnimmt, wird mehr als deutlich, wie im Grunde jeder und jede – anfänglich unschuldig, unbeteiligt – durch Sachzwänge, Umstände oder niedere Motive (Rache, Eifersucht, Geldgier, Hochmut …) in ein verbrecherisches System hineingeraten und selbst zum Verbrecher, zur Verbrecherin werden kann. Noch ein Hinweis zum Burenkrieg (1902 beendet): „Im Gegenzug zerstören die Briten 30 000 burische Landgüter und sperren deren Bewohner in Lager, die sie concentration camps nennen. Etwa 28 000 Menschen, meist Frauen und Kinder, werden in dieser Gefangenschaft ums Leben kommen, vor allem wegen der katastrophalen hygienischen Zustände.“[8]Wussten Sie das?

Durch ihre Metamorphose in eine körperlose Existenz – damit transzendiert sich die Serie explizit in eine ethisch-metaphysische Dimension – erhebt sich Edith zu einem Racheengel, der die zwar verhaftete, aber mittlerweile geflohene Ex-Premierministerin verfolgen werde. Wessen Marionette Rook eigentlich war, bleibt ambig offen. Edith bringt am Ende, bei ihrem Ende, das ein Anfang ist, einen neuen, tieferen Aspekt zur Sprache: Liebe. Was uns zu den Menschenrechten auf einer anderen Ebene führt (die im Grunde eine platonische ist): „Es gibt keine Systeme, die die Offenheit für das Gute, die Wahrheit und die Schönheit vollkommen zunichte machen und die Fähigkeit aufheben, dem zu entsprechen. […] Jeden Menschen dieser Welt bitte ich, diese seine Würde nicht zu vergessen; niemand hat das Recht, sie ihm zu nehmen.“[9] Es wären noch weitere religiöse Dimensionen in dieser Serie zu erläutern: wie z.B. Daniels Tod als narrative Entfaltung der Fußwaschung aus dem Johannes-Evangelium?

Die Großfamilie Lyons

Muriel bei einem Familientreffen: Früher (1999) habe sie gedacht, wir hätten es geschafft. Was für ein kleiner, dummer Idiot sie gewesen wäre, denn: „Denn ich hatte nicht vorausgesehen, dass all die Clowns und Monster zu uns unterwegs waren.“ Es sei allein eure Schuld. Irritation am Tisch: warum? „Weil wir es sind, jeder einzelne von uns!“ „Wir schieben es auf die Wirtschaft, wir schieben es auf Europa, die Opposition, das Wetter …“ „Nehmen wir so ein 1-Pfund T-Shirt […] Wir können dem nicht widerstehen. […] Und irgendein kleiner Bauer auf einem Feld kriegt dafür 0,01 Pence.“ Es habe damit angefangen, als die Frauen in den Supermärkten „durch diese automatischen Dinger“ ersetzt worden seien. Hättet ihr euch beschwert? Man würde ja diese neuen Kassen mögen: „Und wir müssen dieser Frau nicht mehr in die Augen sehen.“ Die schlechter bezahlt sei als wir. 

Muriels flammendes Plädoyer an das Gewissen der Einzelnen und Ediths rebellischer Geist verhindern, dass die Serie in totaler Apokalypse und Verzweiflung versinkt. Mögen die Probleme auch global unüberwindlich scheinen; die Ursachen sind nicht anonym oder unerklärlich. Und immer wieder scheint die Möglichkeit zur Umkehr, Reue und Versöhnung auf: Wie denn anders auch, um diese Systeme zu durchbrechen? Ich bin es, mit meiner Verantwortung, der die Welt zum Guten verändern kann (wie auch zum Schlechten …). 

Vielleicht liegt eine Ursache vieler Probleme im aktuellen Bildungssystem? Darum muss diskutiert werden: „Hat etwa der Fokus auf Kompetenzen in den Ausbildungen den Blick aufs Wesentliche verstellt?“[10] Rhetorische Frage? Abschließend möchte ich noch zur Debatte stellen, ob das, was Wolfgang Johann als Merkmal von Literatur beschreibt, auch auf diese Serie übertragen werden könnte: „Literatur hat gegenüber einer geschichts- oder politikwissenschaftlichen Betrachtung den Vorzug, dass sie scheinbar federleicht Dinge miteinander verknüpfen kann, was anderen Bezugssystemen schwerer fällt. […] Das heißt, eine Gesellschaft braucht die Literatur, um sich selbst zu beobachten, da sich mit dem Blick auf das Individuelle in der Literatur das Gesellschaftliche spiegelt.“[11]

Dr. habil. Dr. Lic. theol. M. Pohlmeyer/Europa-Universität Flensburg


[1] W. Johann: Ästhetische Transformationen der Gesellschaft. Von Hiob zu Patti Smith, Berlin 2020, 78. 

[2] Johann: Transformationen (s. Anm. 1), 72.

[3] Johann: Transformationen (s. Anm. 1), 73.

[4] Siehe dazu auch M. Riesewieck – H. Block: Die digitale Seele. Unsterblich werden im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, München 2020.

[5] Johann: Transformationen (s. Anm. 1), 74.

[6] Johann: Transformationen (s. Anm. 1), 74.

[7] Alle direkten und indirekten Zitate aus der DVD-Box „Years and Years“, © 2020 STUDIOCANAL GmbH. Zeichensetzung in den Zitaten von mir. 

[8][8] J.-U. Albig, in: Das Britische Empire 1815 – 1914, GEO EPOCHE, Nr. 74, 141.

[9] Papst Franziskus: Die Enzyklika „Laudato si’“. Über die Sorge für das gemeinsame Haus, Freiburg im Breisgau 2015, 209 f.

[10] Johann: Transformationen (s. Anm. 1), 73.

[11] Johann: Transformationen (s. Anm. 1), 77.

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