Geschrieben am 15. Juni 2018 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2018

Die Comic- und Netflix-Heldin „Jessica Jones“

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„’Dünn ist in.’ Fickt euch.“

Wie Jessica Jones als Comic- und Netflix-Serien-Heldin mit gesellschaftlichen Konventionen aufräumt – von Britta Tekotte.

Jessica Jones‘ zweite Staffel der Comicserie von Marvel auf Netflix beginnt mit einem in der Dunkelheit umherstreifenden Pizzalieferanten, den Jessica als Auftragsprivatdetektivin dabei beobachtet, wie er zusätzlich zur Pizza auch noch seinen Körper verkauft. Dabei erklärt sie, wie New York funktioniert: „In New York, you can deliver anything. Or anyone.“ Bei ihrer Coolness und ihrem Badass-Verhalten hat sie ein starkes Rechts- und jessicajonesposter vgUnrechtsbewusstsein. Wäre da nicht ihr Laster, sich fast ausschließlich von Whiskey zu ernähren, wäre sie ein perfektes Rolemodel für anyone. Aber auch dieses Laster gehört dazu und Laster sind okay – muss ja nicht speziell Whiskey sein, im Comic ist es übrigens das Rauchen.

jones 310362._SX360_QL80_TTD_Die Netflix-Serie von Marvel ist nicht neu. Sie basiert auf dem Marvel-Comic Alias aus dem Jahre 2001 von Brian Michael Bendis. Es beginnt mit Jessica Jones in einem Supermarkt, wo sie gerade die dort für den Verkauf ausliegenden Zeitschriften scannt und sich darüber zu Recht aufregt, dass sie sich „ständig unwohl“ in ihrer Haut fühle, wenn die Printartikel zum Beispiel auf das vermeintlich richtige Körpergewicht hinweisen, siehe die Überschrift.

Vierzehn Jahre später wurde die Superheldin nun aufgrund der Verfilmung auch über die Grenzen von Comicleserinnen und -lesern hinaus bekannt.

Während Jessica in der ersten Netflix-Staffel vor allem ihren schlimmsten Feind, Killgrave, bekämpft und besiegt, kämpft sie in der zweiten Staffel mehr gegen ihr unmittelbares Schicksal. Doch kurz zurück zur ersten Staffel: Killgrave ist ein extrem gefährlicher Verbrecher und Mörder, weil er den Willen seiner Opfer bestimmen kann. So manipulierte er Jessica nicht nur darin, bei ihm zu bleiben, sondern sich auch gegen ihre Freundinnen und Freunde zu wenden und diese zu bekämpfen. Im Comic reichen die manipulativen Kräfte Killgraves sogar so weit, dass suggeriert wird, Killgrave selbst schreibe gerade diese Geschichte.

jessica-jonesIn der zweiten Staffel der Verfilmung ist Killgrave nach wie vor im Jenseits und der nächste große Feind von Jessica taucht auf. Zunächst ist er nicht zu greifen und er führt sie in ihre familiäre Vergangenheit. Bei einem Autounfall in ihrer Kindheit sind Jessicas Mutter, ihr Vater und ihr Bruder ums Leben gekommen. Jessica selbst hat, seitdem sie gerettet worden war, Superkräfte, die ihr das Überleben ermöglichten. Ein Forscherteam hatte sie damals mithilfe eines Experiments gerettet und sie daraufhin bei einer Pflegefamilie aufwachsen lassen. Jessicas Superkräfte manifestieren sich durch eine immense Körperkraft, sie ist stärker als andere menschliche jones gd ZZ124F073ELebewesen und kann zumindest kleine Strecken in die Höhe fliegen – was ihr gerade bei ihrem Beruf als Privatdetektivin erhebliche Vorteile bietet, da sie von den New Yorker Hochhäusern sehr viel überblicken und fotografieren kann. Nun taucht eine Figur aus Jessicas Vergangenheit auf, die sie seit dem Autounfall für tot gehalten hat und die nun ihre Einteilung der Welt nach Gut und Böse durcheinander bringt. Die Figur, die sie wiedertrifft, ist nämlich nicht komplett in eines der beiden Raster einzuordnen. Jessicas nächster großer Feind in der zweiten Staffel ist ihre Mutter, die ebenfalls von dem Forscherteam gerettet worden ist und ihre noch stärkeren Körperkräfte nicht so gut unter Kontrolle hat wie Jessica. Bei großer Wut und Ungerechtigkeit macht sie auch vor Mord nicht halt, Jessica normalerweise hingegen schon. Trotzdem bricht in dieser Figur die vermeintlich einfache Grenze von Böse-Gut. Es gilt also, die Welt und die Verhaltensweisen der Lebewesen individuell zu betrachten und zu analysieren.

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Auch die erste Staffel enthält bereits einige Neuinterpretationen, die zweite Staffel ist noch freier vom Original. Die Wiederbegegnung hier mit einem verstorben geglaubten Familienmitglied ist eine komplett neue Jessica Jones-Geschichte. Comic und Verfilmung ergänzen sich. In beiden widerspricht Jessica Jones noch einem häufigen Ritus von Comic-Heldinnen und -helden: Sie trägt kein Kostüm. Wobei sie durchaus ein für sie typisches Outfit hat: Jeans, T-Shirt, Lederjacke.

jones 51BdfbWrzbL._SX324_BO1,204,203,200_jones imagesDas Hinterfragen von vermeintlichen Normen, sowohl in Bezug auf das Outfit und auf das Verhältnis von Gut und Böse wie auch in Bezug auf Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie einem erfüllten Leben, ist enorm wichtig. Jessica Jones hilft dabei.

Die Verfilmung ist empfehlenswert. Wer noch mehr von Jessica Jones mitbekommen will, dem seien hiermit auch die Comics von Alias nahegelegt. Der zeichnerische Stil, markiert durch filmischen Elemente, wie zum Beispiel Close-ups einzelner Gesichtsausdrücke, liefert eine interessante Vergleichsmöglichkeit von Original und Adaption. Auch inhaltlich bietet das Comic einiges Spannendes und Wichtiges: Zum Beispiel Jessicas freier Umgang mit ihrer Sexualität, auch Masturbation, oder ihr späteres Familienleben – sie bekommt ein Kind mit einem anderen Superhelden. Dies macht sie zu einer Superheldin, die dafür kämpft, was sie für richtig hält, egal ob sie Einzelgängerin ist oder später Familie hat, egal ob sie ein Kostüm trägt oder nicht. Und egal, wie sie ihren eigenen Körper behandelt. Gerade deshalb hilft sie dabei, zweifelhafte Normen zu hinterfragen.

Britta Tekotte

Comic: Brian Michael Bendis: Alias, Marvel, 2001 ff.
Verfilmung: Marvel’s Jessica Jones, Netflix, 2 Staffeln

Die Webpräsenz von Britta Tekotte hier.

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