
Klitzekleine Dinge
Ohne Geld und Perspektive aber mit einer Flasche im gestohlenen Mantel klopft Margret Penny, 47, im Winter 2011 an die Tür ihrer Mutter in Edinburgh. Nur der Rum kann die Ältere überzeugen, der Tochter vorübergehend Obdach zu gewähren. Das Verhältnis der beiden Frauen ist seit Jahren zerrüttet, ihre Beziehung unterkühlt wie der Nordwind, der die schottischen Städte in eisigem Griff hält. Margret muss Geld verdienen, denn Geld wird ihr den Platz in der Abstellkammer der mütterlichen Wohnung sichern, bis sie sich wieder auf eigene Füße stellen kann. Hofft sie.
Tatsächlich findet Margret eine Anstellung beim „Amt für Verlorengegangene“. Es geht der städtischen Einrichtung darum, die genaue Identität einer Toten zu klären, damit eine aufzufindende Verwandtschaft die Begräbniskosten übernähme. Die alte Mrs. Walker wurde verwahrlost in ihrer fast leeren Wohnung entdeckt. Ein smaragdgrünes Kleid, eine Paranuss mit den zehn Geboten, der Schatten eines Fotos, ein Glas in einer Whiskylache und eine Mandarine zeugen von Mrs. Walkers Leben, die nicht einmal über einen Vornamen verfügt. Wie sehr ihr eigenes Leben mit diesen Habseligkeiten verwoben ist, ahnt Margret nicht.
Weihnachten 1929: Die kleine Clementine Walker bekommt ihr Lieblingsobst, eine Mandarine, und gleich zwei Geschwister auf einmal geschenkt. Die Familie ist nicht reich, aber sie kommen zurecht. Geradezu glücklich scheint der Moment, erhellt vom Restlicht der Stabilität der Zwischenkriegsjahre.
2011: Margrets Mutter verweigert ihrer Tochter die Vergangenheit, von der sie selbst nur einen Bruchteil kennt. Das Sich-durchschlagen-müssen, die Illoyalität, die Brüchigkeit ihrer Bindungen zeigt sich nur in ihrer Klagsamkeit über die Zustände. Einmal hält Margret ein Zipfelchen Vergangenheit in der Hand – „Letztlich aber fiel ihre Wahl auf das Foto. Inzwischen verloren gegangen. Verschwunden. So wie Margarets bisheriges Leben: nichts als eine Erinnerung, eines Abends aus den Tiefen einer Schublade gefischt, als Margaret selbst noch ein Kind war. Zwei anonyme Zwillinge in Schwarzweiß, schlafend hinter einem kalten Rechteck aus Glas.“ – und verschwindet im Schweigen.
Schicht um Schicht lässt die Autorin ihre Protagonistin das Schweigen abtragen. Sie entfaltet eine Familiengeschichte, die durch die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts mäandert. Sie entblößt die Bosheit, den Verrat, die Rohheit und die Gewalt, die sich aus Armut und Krieg speisen. So finster wie die Zeiten, so gemein, habgierig, manipulativ, egozentrisch, zum Heulen naiv wie gerissen sind die Menschen, die sie bevölkern oder in ihnen untergehen. Stärkte die Autorin ihre Figuren nicht mit bitterer Komik, ließe sie ihnen nicht die Hoffnung aufs Überleben, ja auf ein Leben in Würde, bräuchte man Tonnen von Taschentüchern für die Lektüre. Keiner der Figuren kann man sich vorbehaltlos anschließen, keine Heldinnen schwingen moralgestählte Schwerter, niemand kommt ungeschoren davon. Mary Paulson-Ellis erzählt eben vom richtigen Leben, das Margret in die Vergangenheit hinein verfolgt, dessen Geheimnisse sie nach und nach freilegt, bis es im Jetzt ihr So-geworden-sein enthüllt. Anhand von Mandarinenkernen.
Ein schillernder, wunderbarer Debutroman, der auf mehr hoffen lässt!
Mary Paulson-Ellis: Die andere Mrs. Walker, Deutsch von Kathrin Bielfeldt, Argument/Ariadne Verlag, Hamburg 2022, 488 Seiten, 23 Euro.