Geschrieben am 3. Oktober 2022 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2022

Der menschliche Körper als große Abenteuerreise

Der Infografik-Pionier Fritz Kahn

Uta & Thilo von Debschitz: Fritz Kahn. Infographics Pioneer. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Verlag Taschen, Köln 2022.  Hardcover, Format 19,6 x 25,5 cm, 1,46 kg. 400 Seiten, 30 Euro.

Ich war 18, und dieser Spätfilm im ZDF – rekonstruiert war es der 11. Dezember 1970 ab 22:45 Uhr – haute mich um, ließ mich die fünf Bände von „Das Leben des Menschen“ vom Dachboden holen und darin begeistert blättern. Im Science-Fiction-Film „Die phantastische Reise“ (Regie Richard Fleischer, 1966, Originaltitel: Fantastic Voyage) wird ein U-Boot samt Besatzung derart verkleinert, dass man es mit einer Injektionsnadel in die Blutbahn eines aus dem Ostblock übergelaufenen tschechischen Wissenschaftlers injizieren kann. Nur auf diese Weise kann man bei dem Mann eine komplizierte Gehirnoperation vornehmen. James Cameron plante eine Zeitlang, ein 3D-Remake zu produzieren. Das Projekt kam nicht zustande, geriet in Vergessenheit, so wie auch der Autor der phantastischen Bände von „Das Leben des Menschen“ ein heute weithin Unbekannter ist.

Eine Monographie aus dem Hause Taschen entreißt ihn nun dem Vergessen, dokumentiert sein der Wissenschaftsvermittlung gewidmetes Lebenswerk. Fritz Kahn (1888–1968), Universalgelehrter, Naturwissenschaftler, Gynäkologe und Schriftsteller, Arzt im Berlin der Weimarer Republik, Aufklärer und Bestsellerautor, starb (zumindest in Deutschland) weitgehend vergessen in einem Sanatorium in der Schweiz. Die Nazis hatten ihn aus Deutschland vertrieben, seine Bücher aus dem Verkehr gezogen. Ein Brief von Albert Einstein half ihm, Exilstatus in den USA zu erhalten und auf ein rettendes Schiff in Lissabon zu kommen.

Es ist ein Geschwisterpaar, das ihn wieder ins Licht der Öffentlichkeit zurückgeholt hat. 2008 stieß der Gestalter Thilo von Debschitz in einer rumänischen Designzeitschrift auf faszinierende Darstellungen des menschlichen Körpers aus den zwanziger Jahren. Zu seiner großen Überraschung stammten sie vom verstorbenen Vater eines alten Freundes der Familie – von einem gewissen Fritz Kahn. Gemeinsam mit seiner Schwester Uta von Debschitz, von Haus aus Architektin und Journalistin, spürte er  Nachlässe und Zeitzeugen auf, sprach mit Wissenschaftlern und Zeitzeugen. So rekonstrierten die beiden die Biografie eines vergessenen Pioniers im Informationsdesign. Es gab sogar eine Ausstellung in Berlin – und nun in bewährter Taschen-Qualität in Wiederauflage das hier vorliegende Buch (sowie eine Sonderausgabe in der Taschen-Reihe Bibliotheca Universalis). Das Buch enthält mehr als 350 Illustrationen aus Kahns Büchern, je mit seinen Original-Bildunterschriften, drei Illustrierten-Texte aus Kahns Feder, ein Vorwort von Steven Heller und einen ausführlichen Essay zu Kahns Œuvre und Bedeutung.

Alle Illustrationen in diesem Artikel © Verlag Taschen, Köln

Eine „Phantasie mit der Hartnäckigkeit von Halluzinationen“

Kahns Verdienst war es, komplexe wissenschaftliche Sachverhalte verständlich zu visualisieren und kreative Konzepte zu entwickeln, die Künstler und Kommunikatoren bis zum heutigen Tag beeinflussen. Zu Recht ist Kahn auch in den Taschen-Anthologien zur Geschichte der Informationsgrafik vertreten (Besprechungen siehe hier und hier). Seine kreativen populärwissenschaftlichen Bücher und Darstellungen folgten dem volksaufklärerischen Ziel, biologische und physikalische Vorgänge einem breiten Publikum verständlich zu machen. Seine fünfbändige Buchreihe „Das Leben des Menschen“, die fast über den gesamten Zeitraum der Weimarer Republik von 1922–1931 erschien, steht in der Tradition der Popularisierung der Naturwissenschaften. Sie dürfte zu den am häufigsten verkauften Büchern aus dem Verlag Franckh gehört haben und zählte in der Deutschen Bibliothek Leipzig zu den meistverlangten Werken. Leserbriefe der damaligen Zeit zeigen, dass die Bücher in allen sozialen Schichten gelesen und von medizinischen Laien wie von wissenschaftlicher Seite rezipiert wurden. „Das faustgroße menschliche Herz pumpt:“ lautet zum Beispiel die Überschrift zu einem Schaubild, das links einen ein Weinglas hebenden Mann zeigt, sechs Flaschen vor ihm und ein Weinfass. Unter ihm rollt ein Waggon mit zwei großen Tanks an, gegenüber steht ein Güterzug vor einem Lagerraum für 3500 Hektoliter, dahinter ein gewaltiger Hochtank für 250 000 hl. Die Legende setzt den Satz von oben fort: (das Herz pumpt) in 1 Sec 1 Zehntel Liter, 1 Min 6, 1 Std. 400, 1 Tag 10 000 Liter, 1 Jahr 3,5 Millionen, 70 Jahre 250 Millionen – so viel wie den hochaufragenden Großtank also.

Auch der Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin gehörte zu den Rezensenten, die Kahns Werk aufgrund seines eingängigen Stils und der neuartigen Illustrationen besonders empfahlen. Zitat: „Das Buch muss aus allen vorliegenden ähnlichen volkstümlichen Werken besonders hervorgehoben werden, wegen der Leichtigkeit und Originalität des Vortrags, besonders wegen der Originalität und Schlagkraft der bildlichen Darstellung“ (1922)
Eine Buchbesprechung der Berliner „Vossischen Zeitung“ urteilte: „Das Charakteristische der Kahnschen Wirkung möchte besonders hier zu finden sein: er überträgt die Effekte der modernen Großstadt-Reklamen auf den wissenschaftlichen Unterricht. Manche dieser Bilder, die das Maschinenhafte des Organischen betonen, drängen sich der Phantasie mit der Hartnäckigkeit von Halluzinationen.“ 

Populäre Bücher wie „Das Leben des Menschen“ trugen also vor 100 Jahren dazu bei, dass die breite Bevölkerung Kenntnis über Bau und Funktion des menschlichen Körpers erlangte. Kahns Illustrationen waren äußerst innovativ und einleuchtend. Besonders populär wurde das vom Illustrator Fritz Schüler geschaffene Poster „Der Mensch als Industriepalast“, das 1926 als Beilage des vierten Bandes von „Das Leben des Menschen“ veröffentlicht wurde und enorm viel Verbreitung fand, dies auch noch in der Nazi-Zeit, allerdings dem Urheber entrissen, dessen Bücher verboten, eingezogen und in Papiermühlen vernichtet wurden.

Das prägendste visuelle wie inhaltliche Leitmotiv des Kahnschen „Menschbuchs“ ist das einer Abenteuerreise in ein weitgehend unbekanntes Land – in den eigenen Körper. Kahns Leser gelangten dorthin mithilfe ihrer Einbildungskraft, die er durch ungewöhnlich narrative Bilder aktivierte. Ein halbes Jahrhundert, bevor Hollywood ein Miniatur-U-Boot auf die Reise durch den Blutstrom schickte.

Alf Mayer

Uta & Thilo von Debschitz: Fritz Kahn. Infographics Pioneer. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Verlag Taschen, Köln 2022.  Hardcover, Format 19,6 x 25,5 cm, 1,46 kg. 400 Seiten, 30 Euro.


PS. Um Fritz Kahns Sprache kennenzulernen, hier ein Auszug aus einem gekürzten Artikel aus der Zeitschrift „Kosmos“, Januar 1923, einem Vorabdruck aus „Das Leben des Menschen“, Band 2: 

„Mit jedem Umlauf führt uns der Wegin ein anderes Gebiet des 30-Billionen-Zellenreiches des Menschenkörpers. 4000-mal am Tage durchfahren wir die große Schleifenacht des Blutkreislaufes, in deren Schnittpunkt zwischen Lungen- und Körperkreis das Herz als Pumpe arbeitet, 4 000-mal, und nicht ein einziges Mal wiederholen wir den gleichen Weg. […] O reiches, unerschöpflich reiches Land des Lebens, von Fluren, Wäldern und Gebirgen, von Felsenhöhen, Alpenpässen, Wasserfällen reich erfülltes, von Tropfsteinhöhlen, unterirdischen Flüssen, Kratertiefen und Bergwerkstollen tausendfach durchgrabenes Land! Du Land der Pyramiden und der Labyrinthe, der Hängegärten, der Mäanderströme! Du Reich der Zellenstädte und der Drüsenfabriken, der Nervenzentralen und der chemischen Magierkabinette. Du Paradies der Forschung! Geisterreich der Theorie! Dutzendmal am Tage treiben wir längs der Schlingen des Darmes dahin und auf einen ihrer tausend Quais hinaus, die mit schmaler Zottenspitze in das Hafenwasser des Nahrungsflusses ragen, gleiten in langsamer Bogenfahrt längs des Ufersaumes hin und tragen den geschäftigen Trimmern Sauerstoff hinzu, dass sie die Fracht der Nahrung, die Ballen Zucker, die Ketten der Eiweißmoleküle, die Ballons der Fetttropfen hurtig aus der Darmesflut auf das Zellendock befördern. Vom Darm aus fahren wir in die Leber, wo die aufgenommene Nahrungsfracht ausgepackt und in den Schmelzkammern der Leberläppchen chemisch analysiert und dann zu Leberstärke umgewandelt wird. Ebenso oft ziehen wir durch die roten Felder der Muskelzellen längs der geheimnisvoll elektrisch geladenen Voltasäulen der gestreiften Fasern hin, bald unten im Schenkel, bald droben auf dem Scheitel, bald drinnen im Rumpf, jedes Mal in einem anderen Bezirk mit anderen Anlagen, anderer Anordnung, anderen abenteuerlichen Formen.
Oder wir steigen in Wendeltreppenwindungen den Eiffelturm der Wirbelsäule empor, umkreisen in schwindelnder Bergesfahrt das gletscherweiße Nervenmark des Nackens und treten durch das Hinter- hauptloch in den Boden der Schädelhöhle ein. Hier wechseln wir den Kurs. Bald umsegeln wir durch das berühmte Kransystem des Schädelbodens den Grund des Hirns, bald dringen wir über das Terrassenland der Hüllen in das Innere dieser Arktis unseres Leibes, um durch den unterirdischen Rautengraben zu den Tropfsteinhöhlen der „Ventrikel“ aufzusteigen, von deren Schleierbecken der Tau der Nervenbäume silbern niedertröpfelt. Wir fahren im Auge umher in allen feinen Schichten, bald droben über die Glitzerfläche des Apfels, bald durch das Wirbelgebiet der Venen, bald am Kraterrand des Pupillenloches entlang oder an den Ufern des kristallenen Sees der Linse; wir durchstreifen die Labyrinthlandschaft der Nasenhöhle mit ihren dampfenden Sümpfen, treiben durch die tief ins Felsenbein eingeschnittenen Canyons der Ohren, steigen mit Sehnen und Bändern vom hohen Gebirge des Schädels in die Regionen des Halses nieder. 

Wie Ägyptenfahrer besuchen wir die Pyramiden der Kehlknopfknorpel mit ihrem wunderbaren Stellwerk, wandern über das Karstgebiet der Rachenmandeln hin und fahren durch den Kanal des Kiefers zu den Marmorburgen der Zähne… 

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