Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

Der japanische Holzschnitt in 200 Meisterwerken

Mit dem Holzschnitt die Welt einfangen

Dunkle Landschaften mit verblüffenden Lichteffekten und punktgroßen Menschlein, Kabuki-Schauspieler in phantastischen Kostümen, fragile Hochbrücken, die von Bauern überquert und von Hirschen beäugt werden, bewaffnete Frösche, die sich im blutigen Schlachtgetümmel bekämpfen, erotische Szenen mit aparten Konkubinen: All diese faszinierenden Szenen werden auf japanischen Holzschnitten dargestellt und entfalten seit dem 18. Jahrhundert ihren ganz besonderen Reiz. Wie der grandiose, 600 Seiten starke Taschen-Bildband „Der japanische Holzschnitt in 200 Meisterwerken“ zeigt, wurden Holzschnitte auch als Medien im Kampf gegen höfische Zensur eingesetzt und vermittelten über den Teehaus-Mikrokosmos hinaus als Vorläufer der Zeitung einen Blick in die Außenwelt. – Von Peter Münder  

Für Hokusai, Yoshitoshi, Hiroshige, Eisen und die meisten anderen bekannten Holzschnitt-Künstler galt eigentlich immer das Gesetz der Serie: Sie hatten ihr Lieblingsthema entdeckt und wollten ihre Illustrationen zu Geschichten ausweiten: Ansichten berühmter Brücken, 36 Ansichten des Fuji (Hokusai), Hundert Ansichten des Mondes (Yoshitoshi), 69 Stationen des Kisokaido (Hiroshige & Eisen). Hokusai als emsigster Buch-Illustrator, Romanschreiber der „Kleinen gelben Bücher“ und Manga-Erfinder, der 1814 seine Bild-Enzyklopädie in 15 Bänden veröffentlichte, wollte eben nicht nur statische Impressionen oder Porträts abbilden, sondern mit seinen Illustrationen Geschichten erzählen: Der vornübergebeugte Fischer auf dem steil ins Meer eintauchenden Felsen, dessen vier Leinen im schrägen Winkel parallel verlaufen  zum hinten am Horizont aufsteigenden Fuji – er fängt seine Fische offensichtlich für das kleine Mädchen, das mit einem Eimer hinter ihm am Boden sitzt. Er muss den wild schäumenden Wellen seinen Fang abtrotzen. Hokuseis Leitmotiv „Überleben des Menschen in der  Natur“ wird  auch unübersehbar im  36teiligen Zyklus der Fuji-Ansichten thematisiert. Den wahren Erkenntnisgenuss beim Betrachten der Abbildung im prächtigen Taschen-Band vermittelt aber erst der profunde Kommentar des Kunsthistorikers Andreas Marks, der bereits den großartigen Band mit den Holzschnitten von Hiroshige und Eisen über die 69 Stationen des Kisokaido herausgegeben hat (CulturMag-Besprechung hier). Denn sein Hinweis auf das geometrische Dreiecksprinzip, das sich vom Neigungswinkel der Fuji-Berghänge über die Angelschnüre bis zum Fischer erstreckt, ist genauso ergiebig wie seine Anmerkung zum Ort Kajikazawa in der Provinz Kai, wo Hokusai dieses Motiv angesiedelt hat. Oder  die biographischen Details zu Hokusei.(1760-1849): Der war 1830/31, als er dieses Bild als einen der ersten Entwürfe für den Fuji-Zyklus schuf, bereits siebzig Jahre alt und wählte eine raffinierte, zwischen hellblau, Lindgrün und blauschwarz changierende Farbtönung.  

Die 200jährige Geschichte der Holzschnitte von ca. 1705-1905 hat Andreas Marks in drei Phasen eingeteilt. Er geht auf die autoritäre, turbulente Edo-Zeit mit scharfen Zensur-Maßnahmen und Verboten der Darstellung aktueller politischer Ereignisse  ebenso ein wie auf die reformorientierte Meiji-Periode (1852-1912), in der etliche dieser Verbote wieder aufgehoben wurden. Der Wendepunkt in den japanischen Beziehungen zum Ausland, die von der amerikanischen „Schwarzen Flotte“ des Commodore Matthew Perry  1853 erzwungene Beendigung der langen Abschottung vom Westen, spiegelt sich auch in den Hafenszenen aus Yokohama, die im Großbild-Modus ausländische Schiffe aus aufregenden Winkeln zeigen: Darin zeigt sich der vermittelnde „News“-Faktor dieser Holzschnitte. Der beflügelt das große Interesse an  farbigen Drucken auch  nach dem  Ausbruch des japanisch-chinesischen Kriegs 1894-1895: Die spärlich ausgeleuchtete Nachtszene von Kobayashi Kiyochika mit japanischen Soldaten, die sich im Schneetreiben am Lagerfeuer wärmen, während in der Bildmitte  ein Reiter auf seinem Pferd vor einem Sanitäts-Zelt zur hell leuchtenden Rotkreuz-Fahne blickt („Bild unserer Truppen beim Aufschlagen eines Biwaks in Yingkou, der bitteren Kälte trotzend“). Es appelliert natürlich an die patriotischen Gefühle der Japaner und könnte auch als Propaganda eingesetzt worden sein. 

Viele dieser Drucke lösen euphorische Glücksgefühle aus (jedenfalls bei mir), weil das Unerwartete in einer großartigen Technik zu einer intensiven Ästhetisierung verdichtet wird. Ein Triptychon (wunderbar, wie sich diese großartigen Formate in diesem Band entfalten können!) von Toyokara Chikanobu („Evakuierung Ihrer Exzellenzen, 1896“) zeigt sechs Frauen in schwarzen Unformen, die als Brand-Wächterinnen des inneren Burgbezirks von Chiyoda in Aktion sind: Sie halten ihre Hellebarden fest umklammert; zwei Wächterinnen halten einen neckisch nach vorn zum Betrachter blickenden Schimmel, während drei Wächterinnen sich im rechten Bildabschnitt  unterhalten und die Kollegin im linken Eck gespannt  zum restlichen Geschehen hinübersieht. Hinter ihnen steht ein Gebäude in Flammen und erleuchtet einen Teil der Gruppe – ein elektrisierendes Bild, das eine starke, fast neo-realistisch dargestellte Dynamik mit einer sublimen Ästhetisierung kombiniert.   

Natürlich wird der Samurai-Mythos in etlichen Bildern wiederbelebt und an die totale Abhängigkeit des Kämpfers von seinem Herrn erinnert – oder die Verzweiflung des Samurai nach einem missglückten Kampf gezeigt. Großartig hat Kobayashi Kyochika in seinem Triptychon  („Karasaki-Kiefer während Akechi Sammanosukue Mitsuharu zu Pferd den Biwa-See überquert“, 1899) diese Seppuku-Tradition schuldbewusster Kämpfer inszeniert: Da sehen wir in hellgrün-bläulichen Wasserschichten einen uniformierten Soldaten auf seinem Pferd durchs Wasser treiben. Das Pferd hebt seinen Kopf, das rote Zaumzeug  leuchtet ebenso intensiv wie einige  Ecken der Soldaten-Uniform und die daran befestigte Fahne. Nur ein winziger Teil des Gesichts ragt aus dem Wasser heraus. Es ist die phantasievolle Darstellung des Attentats auf den Kriegsfürsten Oda Nobunaga im Tempel von Kyoto 1582. Der Anschlag war von Akechi Mitsuhide geplant, der selbst umgebracht wurde. Der Cousin oder Schwiegersohn von Mitsuhide, Akechi Mitsuhara konnte Mitsuhides Tod nicht verhindern und wollte aus Gram und übersteigerten Schuldgefühlen Selbstmord begehen; er flüchtete über den Biwa-See an ein entlegenes Ufer. Das schwimmende Pferd, dessen Umrisse im Wasser deutlich zu erkennen sind, unter ihm der treibende Soldat mit der Fahne, im Hintergrund die berühmte Karasaki Kiefer – das ist nicht nur ein überwältigendes Motiv, sondern auch mit einer perfekten Technik realisiert, die akribisch alle Nuancen der Wasserschichten zeigt. 

Diese „Total Immersion“ des Künstlers wird übrigens auch dem Betrachter oft abverlangt: Wer sich etwa beim flüchtigen Blick auf Suzuku Harunobus Bild „Neun“ (von 1768) wirft, auf dem ein Knecht einer Reiterin vom Pferd hilft, hält dies leicht für eine der üblichen Alltags-Impressionen. Bei näherem Hinsehen auf das erhobene halbnackte  Bein der Reiterin und auf das merkwürdige Teil, das unter dem Umhang des Knechts  frech zum Vorschein kommt, zeigt sich dann sein veritabler Penis, den er der Reiterin in ihre Vulva presst – mit einem ebenso indifferenten Blick zur Seite wie die Reiterin. Erst der Kommentar von Andreas Marks  verdeutlicht, dass das eigenartige kleine Männchen, das die Szene am Boden hockend betrachtet, ein verzaubertes „Bohnenmännchen“ sein soll. Und vielleicht auch „märchenhafte“ Zustände beschreibt?

Viele dieser bemerkenswerten, aufregenden Holzschnitte bestätigen übrigens diese schon von Suzuki Harunobu (1725?-1770) und heute noch von Krimi-Experten anerkannten Erkenntnis „Nichts ist wie es scheint“!  

Der überwältigte Betrachter/Leser dieses Prachtbands kann sich bei seinem Fazit auch auf simple Wahrheiten beschränken: Diese Kombination von perfekter Reproduktion, liebevoller Gestaltung (was für eine fabelhafte Triptychon-Falttechnik) und dazu diese fundierten Kommentare – das ist preisverdächtig bei jedem Exzellenzwettbewerb! 

Peter Münder

  • Andreas Marks (Hrsg.): Der japanische Holzschnitt in 200 Meisterwerken. Von ukiyo-e bis shin hanga. Dreisprachig: Englisch, Deutsch, Französisch. Taschen Verlag. Köln 2019. 621 S., 150 Euro.

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