Geschrieben am 31. Dezember 2017 von für Crimemag, Highlights 2017, News

CulturMag Highlights 2017, Teil 5 (Geier – Groschupf)

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Monika Geier
Frank Göhre

Tobias Gohlis
James Grady
Stephen Greenall

Johannes Groschupf

monikaMonika Geier

2017.
Dieses Jahr stand für mich unter einem gewichtigen Vorzeichen. Als Zahlenfetischistin mit einer festen persönlichen Bindung an die wunderbarste aller Primzahlen hatte ich fast schon Angst: Das einzige 17er Jahr, das ich in meiner Lebensspanne erreichen kann! Was, wenn es überhaupt nicht so toll werden würde? Die 17 ist: nicht perfekt, ziemlich unberechenbar, aber von Grund auf leicht und freundlich. Ein Lüftchen. Bisschen versponnen und sehr eigenständig. Meine Zahl. Ist dieses Jahr so geworden?

Begonnen hat es freundlich, Weihnachtsfluchturlaub in der Bretagne, das Wetter war durchgehend so strahlend, dass die Bretonen sich Sorgen machten: C´est pas normal. Ich hätte ihnen natürlich sagen können, dass ein solches Jahr gar nicht anders anfangen kann. Aber als wir zurückfuhren aus unserer Blase aus leuchtendem Sonnenschein, weg vom Meer, kamen wir in einen gruseligen Eisregen. Das Wasser gefror auf der Windschutzscheibe und zerfetzte den Scheibenwischer. Am Ende klebte das Eis zentimeterdick auf der Kühlerhaube. Danach war ich gründlich ernüchtert. Und wachsam, weil ich dachte, dass es Gefahren geben würde.  Ich weiß nicht, ob da welche waren, man sieht den Tiger ja eigentlich erst dann, wenn es zu spät ist. Tatsächlich hab ich keinen gesehen.

Geier-Alles-so-hell-da-vorn_HomepageWas natürlich unglaublich toll war, war, dass mein Buch ein solcher Erfolg wurde. Das hat mir echt die Richtung gezeigt, denn ich dachte davor, dass ich mir jetzt dann halt doch was Solideres suchen muss, um meine Kinder und mich durchzubringen. Diese brotlosen Leidenschaften sind nicht gut fürs Familienleben. Andererseits ist ein Leben ohne Leidenschaften Blödsinn und auch nicht die richtige Botschaft an die Kinder und überhaupt hätten dann mein Exmann und die Schwiegerfamilie und das Notariat Neumann Recht gehabt. Ich bin also allen sehr dankbar, die mein Buch gelesen, befördert und gekauft und gemocht haben.

Zum Schluss meine Liste.

Das Lustigste war:  Die Bandgründung der guitarrorists und dann der Auftritt vor 200 Neustadtern mit zwei Indierockern.  Hier findet man das Miss Boll Theme der guitarrorists.

Das beste Buch für mich dieses Jahr: White Tears von Hari Kunzru

Der einzigartigste Krimi:  Drift von Anne Kuhlmeyer

Die am meisten gehörte CD: Jimi Hendrix, Valleys of Neptune und Frida (Music from the Motion Picture)

Die coolste Serie: Elementary

geier 51LfXB3voyL._SY300_Der schönste Film: Searching for Sugar Man

Das tollste neue Essen, das ich kochen kann: Naan Brot überm Holzfeuer. Ersetzt perfekt konventionelles Grillen mit Fleisch und ist eine super Show.

Die beste Show bei der Post (wo ich arbeite): Einschreiben mit Rückschein. 2 Label drucken, Rückschein aufkleben, beide Label aufkleben, roten Rückscheinaufkleber drauf.  5,35 Euro bis 20 Gramm.

Der beste Sommertag mit den Kindern: War tatsächlich im Holiday Park. Ich dachte, diesen Konsummist machen wir niemals mit. Aber dann hatte ich es versprochen und die Kinder waren völlig ehrfürchtig vor all diesen Achterbahnen und hin und weg. Es war echt lustig und schön.

Von Monika Geier erschien 2017 „Alles so hell da vorn„.

Frank GöhreFrank Göhre

9 mal Top und 1 mal Flop

[1] DIE ZEIT: Herr Professor Reemtsma, Polizei und Politiker sagen, sie seien überrascht und schockiert gewesen von der „entfesselten Gewalt“ am Rande des G20-Gipfels. Waren Sie es auch?

Jan Philipp Reemtsma: „Überrascht und schockiert“, das sind Standardformulierungen, und zwar gedankenlose. Wenn man 20.000 Polizisten zusammenzieht, um einem Krawall zu begegnen, ist man nicht überrascht, wenn er sich ereignet. Man war überrascht, dass man nicht das erreicht hat, was man erreichen wollte: den Krawall, wie man so sagt, einzuhegen.

ZEIT: Welche Reaktion wäre denn angemessen?

Reemtsma: Die nach den Gewohnheiten öffentlicher Kommunikation unwahrscheinlichste, seitens der Politik: genaue Analyse, Selbstkritik. Mit dem Ergebnis: falsche Stadt, falscher Ort, falsche Strategie, vermutlich falsche Taktik im Einzelfall. Das wäre auf das Eingeständnis herausgelaufen, dass man das hätte vorher wissen können.

ZEIT: Also müssen sich demokratisch gewählte Staatsvertreter von Gewalttätern diktieren lassen, wo sie sich treffen können?

Reemtsma: Das ist eine alberne Frage. Politisches Handeln in unseren Weltgegenden sollte umsichtig erfolgen. Wer die Risiken nicht abwägt, handelt fahrlässig.

[2] 4 Blocks. Für den Pay-Sender TNT realisierte Serie über die Geschäfte eines libanesischen Familienclans in Berlin-Neukölln. Entwickelt und produziert von einem uneingeschüchterten Autorenteam und einer wagemutigen Produktion. 6 mal 60 Minuten Spannung und wirklich packende Momente für ein Budget von 4 Millionen Euro (damit schafft es die ARD gerade mal auf drei schlaffe „Tatorte“). Jetzt dann auch bei ZDF neo, natürlich erst gen Mitternacht und darüber hinaus, an Werktagen, denn: Mit dem Zweiten sieht man meist so gut wie nichts

51Wrd+tjr4L._SX310_BO1,204,203,200_[3] Mein Buch des Jahres: Karan Mahajan, In Gesellschaft kleiner Bomben, übersetzt aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks, Hamburg. 373 Seiten, 25 Euro. Ein Attentat auf dem Lajpat Nagar Markt in Dehli und die Folgen. Täter, Opfer und Angehörige. Der Entwicklungsroman eines jungen Mannes und zugleich informative Einblicke in das Leben und den Alltag indischer Familien zwischen Tradition und Moderne.

[4] Mein Film des Jahres: Die Nile Hilton Affäre von Tarik Saleh. Ein noir über eine Stadt, in der keiner keinem traut, jeder jeden abgreift und Morde so beiläufig erledigt werden wie das Wegschnippsen einer heruntergerauchten Kippe. Düster und kaputt. Gedreht von einem 45-jährigen Schweden mit ägyptischen Wurzeln: Tarik Saleh.

[5] Liebe – Geld – Hunger nach Émile Zola. Trilogie meiner Familie. Der Marathon. Regie & Fassung Luk Perceval, Thalia Theater, Hamburg. Die Geschichte einer Familie während der gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts. Eine grandiose Textcollage aus Zolas Lebenswerk „Les Rougon-Macquart“. 12 Darsteller/innen in Bestform. Skurriele und beklemmende Szenen. Dreimal zwei Stunden mit je einer Stunde Pause.

göhre leonore_mau_slider_1[6] Leonore Mau – eine Ausstellung zum 100. Geburtstag im Jenisch Haus, Hamburg. Etwa 130 Fotos und Fotofilme der 2013 verstorbenen Fototografin und Lebensgefährtin des Autors Hubert Fichte: Voodoo-Riten, Landschaften, Städte, Architektur und Dichter in Umgebung, Schwarzweiß und in Farbe, eine beeindruckende Reise durch fünf Jahrzehnte. Mein Lieblingsfoto: Fichte umringt von Prostituierten und Luden vor dem „Palais d´ Amour“ auf der Reeperbahn.

[7] Western. Ein Film von Valeska Grisebach. Deutsche Bauarbeiter auf Montage im bulgarischen Hinterland. Materiallieferungen stocken. Es gibt lange Wartezeiten. Es passiert kaum etwas. Selten aber war das Zuschauen aufregender. 

[8] KrimisMachen 3. Eine Tagung der Autor/innen, Übersetzer/innen und Genre-Kritiker/innen in der „Zinnschmelze“ Hamburg mit nicht durchweg erhellenden Podiumsdiskussionen, umso erfreulicher aber der offene und entspannte Austausch der Teilnehmer/innen untereinander.

[9] Unser Dokumentation über die Münchner Filmemacher der 60er und Anfang der 70er Jahre Zeigen was man liebt (von Göhre/Richter/Stegmann) wurde zu Filmfesten und Vorführungen in Innsbruck, Bozen, Lissabon, Barcelona, Bukarest und Zürich eingeladen.

Immer noch keine schwarzen Zahlen, aber interessante Begegnungen.

[Der Flop] Boris Becker: „Wenn ich zurückblicke auf mein Leben, das macht man, glaube ich, zum ersten Mal mit Fünfzig als Mann, dann habe ich mehr richtig gemacht als falsch gemacht, dann habe ich Dinge erreicht, von denen ich nie geträumt habe, sie zu erreichen.“ Vom Tennis-Idol zum sich dahin schleppenden, bärtigen Mann. Körperlich und auch geistig arg beschädigt. „Seit über dreißig Jahren lebe ich öffentlich, und dafür zahlt man einen Preis.“ Unter anderem ein Porträt in der ARD.

Die CrimeMag-Beiträge unseres Kolumnisten Frank Göhre finden Sie hier. Im Dezember 2017 war er zudem Herausgeber eines umfangreichen Klassiker CulturMag Special.

Gohlis, Sara Hunt, peter hammans, Graeme, jane Harrogate 21-7-17k

Tobias Gohlis, Sara Hunt, Peter Hammans, Graeme Macrae Burnet, Jane Harrogate

Tobias Gohlis

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Ende Februar traf ich Graeme Macrae Burnet in den Highlands. Von Inverness fuhren wir, drei Mitglieder der Krimibestenlisten-Jury plus Begleiterin Liza, von Inverness nach Applecross an der Westküste. Hier und im Zehn-Häuser-Dorf Culduie hatte Graeme sein Blutiges Projekt angesiedelt: ein historischer Kriminalroman, basierend auf einigen Konklusionen zu Graemes Familiengeschichte, eine quasidokumentarische Erzählung über einen Mord aus verlorener Ehre im Milieu der schottischen Pächter, der Crofter. Kalt bis ans Herz hinan geschrieben, aus den Gerichtsakten und auf dem damaligen Stand (1860-70) forensischer Wissenschaft rekonstruiert, faszinierend als Geschichtsbuch über die Grausamkeit damaliger Ausbeutungsmethoden (die Grausamkeit heutiger in Indien, Bangla Desh oder Äthiopien ahnen lassend), mitreißend als Studie über die Mehrdeutigkeit von Gewalt, Schuld und Motiven. Mittendrin ein Junge, der plötzlich alles totschlägt, was er liebt oder hasst. Meisterwerk kein Ausdruck.

Und Graeme: ein zarter schottischer Riese mit Tim-Zöpfchen auf der Glatze, ein Mann, der im Vertrauen auf sein Können 20 Jahre gewartet und geschrieben hatte, bis His Bloody Project auf die Shortlist des Booker-Preises kam und sich mehr als alle anderen Bücher verkaufte, so dass Graeme – der übrigens ein fantastischer Autofahrer ist und uns lebendig aus den schottischen Bergen wieder an den heimischen Whiskytropf brachte – jetzt Geld und Muße hat, ein Buch nach dem anderen zu schreiben.

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Eher zufällig am Ende des Sommerurlaubs beim Theakston Old Peculier Crime Festival in Harrogate aufgeschlagen. Dort Graeme und seine reizende Freundin Jane, seine entzückende Verlegerin Sara getroffen, mit Peter Hammanns bei Bettys Plunderstücke gegessen. Alte Bekannte wiedergesehen und neue gemacht. Irgendwie gefällt mir die englische Lässigkeit, mit der sich alle amüsieren und ihre Pints schlucken. Ähnliches in D ginge mir auf den Keks.

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Im Urlaub kein Wort über den Brexit verloren. Im Eisenbahn-Pub neben einer der ältesten Dampfbahnen Englands mit einem Ex-Nato-Militär über die G-20-Krawalle in HH gelästert. Wir waren uns einig, dass wir in Grosmont besser aufgehoben waren als dort.

gohlis 1b8908b20a7189683047982d5cb3bb4cv1_max_755x415_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2Das kleine Pfarrhaus in Sutton-on-the-Forest besucht, von dem aus Laurence Sterne die europäische Literatur in Turbulenz gebracht hat. Er lebte dort von 1738 bis 1759 und schrieb die ersten Bände des Tristram Shandy im Schatten einer mittelalterlichen Dorfkirche. Wieder diese wundervolle Gastfreundschaft englischer Literaturfreunde genossen, hier von Patrick Wildgust und seiner Frau, die Shandyhall, wie das seit 1430 existierende Gemäuer heißt, liebevoll als Museum aufrecht erhalten und bewohnen. Patrick schaffte es, 14 herbeigeströmten Gästen in einer Stunde den genialen Literaten, Avantgardisten und Selbstvermarkter Sterne anschaulich zu machen, in jeder Hand einen Band der neunbändigen Erstausgabe von Tristram Shandys Leben und Ansichten.

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2013 erschien auf deutsch die unglaubliche Geschichte des schwedischen Serienmörders Thomas Quick. Der investigative Journalist Hannes Råstam hatte sie recherchiert. Thomas Quick hatte nach und nach seinen Therapeuten und dann der Polizei gestanden, insgesamt 33 Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts ermordet zu haben. Rechtskräftig verurteilt wurde der berühmteste, und für lange Zeit einzige, Serienkiller Schwedens für acht Morde. Ohne dass je eine Leiche oder eine forensische Spur gefunden wurde.

Råstam hatte mit Unterstützung Sture Bergwalls, so der bürgerliche Name des Serienkillers, den er später wieder annahm, herausgefunden, dass alle Mordgeständnisse erstunken und erlogen waren, im wesentlichen aus Geltungssucht, Einsamkeit und vor allem, um weiter von seinen Therapeuten in der forensischen Haftanstalt Säter mit Unmengen von Drogen versorgt zu werden. Råstam starb kurz vor Fertigstellung dieses Buches und erlebte auch die Aufhebung sämtlicher Fehlurteile gegen Bergwall nicht mehr.

Das Rätsel dahinter hat jetzt sein Freund Dan Josefsson in einem ebenso erschütternden Buch aufgeklärt: Wieso gelang es diesem durchschnittlich begabten Menschen mit Drogenproblemen und Persönlichkeitsstörung die Polizei, die Justiz und die Psychologen von der Wahrheit seiner Selbstbeschuldigungen zu überzeugen?

61afKchB1dL._SX328_BO1,204,203,200_Der Untertitel von Dan Josefssons Der Serienkiller, der keiner war – und die Psychotherapeuten, die ihn schufen enthält einen Hinweis. In mühevoller Recherchearbeit hat Josefsson das Netzwerk einer ebenso frustrierten wie manipulativen Anti-Psychotherapeutin aufgedröselt, der es gelang, Bergwall, seine Therapeuten, den Staatsanwalt und den ermittelnden Polizisten und eine willfährige Presse ihr Wahnsystem überzustülpen.

Ganz abgesehen von den Ungeheuerlichkeiten der konkreten Manipulation, die die Lektüre dieses Buch erschütternd genug machen, gibt es auch einen Einblick in die Symptomatik einer westlichen Gesellschaft in den achtziger und neunziger Jahren, die sich begeistert in die Abgründe von „Selbstbefreiung“, „alternativer Medizin“ und „Antipsychiatrie“ stürzte mit der Prämisse, jede Neurose müsse bei ausreichend langer Analyse auf Missbrauch im Kindesalter zurückzuführen sein.

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Den Angehörigen der Opfer von Anis Amri, darüberhinaus aber auch den deutschen Ermittlungsbehörden, der Politik und allen Bürgern wäre ein Buch zu wünschen, wie es die schwedische Journalistin Åsne Seierstad 2013 über den Massenmörder Anders Behring Breivik verfasst hat. Es ist schon 2016 auf Deutsch erschienen, erst jetzt habe ich es gelesen, als ich erfuhr, dass Seierstad mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Europäische Verständigung ausgezeichnet werden wird.

Es ist eine Qual, miterleben zu müssen, dass es bis heute, ein Jahr nach dem Anschlag Amris, weder eine vollständige öffentliche Liste der Opfer geschweige denn auch nur annähernd angemessene Versuche öffentlicher Trauer oder auch nur ausreichender materieller Unterstützung für die Angehörigen und Überlebenden gibt. Man könnte kotzen: Mit Gold wird jetzt am Breitscheidplatz der Riss symbolisch zugeschüttet, der angeblich zwischen wem? Zwischen Merkels biedermeierlichen Selbstbild und der Wirklichkeit? klafft. Aber bis heute sind Menschen, die vor einem Jahr ihre Gesundheit verloren haben, nicht einmal materiell abgesichert, die Angehörigen unentschädigt. Nicht zu reden von Verschleierung und mangelnder Aufklärung der Pleiten und Pannen bei Amris Verfolgung.

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Seierstad hat in der literarischen Reportage Einer von uns die Geschichten nicht nur Breiviks und seiner Familie, sondern auch die ausgewählter Opfer des 22. Juli 2011 rekonstruiert. Die Jungen aus Salangen in Nordnorwegen, die sich für Fußball, Mädchen und soziale Politik begeisterten, die Töchter kurdischer Flüchtlinge, die in Norwegen den Schleier abgelegt hatten und als junge Frauen die Welt erobern wollten – Breivik wollte diese Kinder und Jugendlichen ermorden, weil er das, wofür sie in seinem politischen Wahn standen, Gleichberechtigung, Rechtsstaat, Solidarität eliminieren wollte. Und er hat sie, angetan mit Sporen und Polizeiepauletten, ermordet, angeschossen, und mit Kopfschuss erledigt. Unerträglich ist das zu lesen, und nur schwer erträglich sind die von Seierstadt ebenso nüchtern reportierten geradezu unglaublichen Fehler der Polizei, die aus einem Trott friedlichen Vor-sich-hin-Versagens gerissen wurde.

51pcqS8outL._SX334_BO1,204,203,200_Seierstad setzt den 68 Opfern ein Denkmal, indem sie exemplarisch zeigt, wieviel Hoffnung, wieviel Zukunft in jedem einzelnen zerstörten Leben war. Und sie zeigt eine Gesellschaft im blutigen Lernprozess. Ihr Buch ist selbst wichtiger Bestandteil davon. Denn es macht öffentlich, verständlich und sichtbar, was vor sechseinhalb Jahren in Utøya und Oslo geschah – und was nicht.

Uns steht dieser Lernprozess noch bevor, und ich wünsche mir für 2018, es fände sich eine Journalistin wie Åsne Seierstad, die den Opfern vom Breitscheidplatz ihre Geschichte geben und dem Biedermeier einen Stich versetzen würde.

Hamburg, am dunkelsten Tag des Jahres 2017

Tobias Gohlis – Sprecher und Begründer der im Deutschlandfunk und in der FAS veröffentlichten Krimibestenliste – bei CrimeMag hier. Zuletzt ein Besuch bei Charles Manson. Sein Krimiblog recoil.togohlis.

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Photo (c) Josh Wolf

James Grady

Our Hour Come Round At Last

            This is the year we CrimeMag fans watched „what could be“ shimmer out of the street fictions we love to become „what is.“

            Out of noir crime stories, where „legitimate“ corporations and medical posers „innocently“ provide billions of narcotic fixes to murderous criminal cartels who hook addicts from the pain they have and then with the pain they make.

            Out of heart-pounding thrillers, where terrorists turn city streets into blood-splattered machinegun madness, rush through supermarkets stabbing whoever their blades can find, roar trucks and snazzy sports cars into no-escape crowds of civilians.

            Out of spy novels, where using Star Trek technology that would make James Bond’s Q salivate, a dictatorial empire disrupts democracies all around our world.

          1984_posterOut of Phillip K. Dick „alternative universes“ where our fathers‘ and grandfathers‘ fought goose-stepping, extinction-loving zombies and now we watch them clomp clomp clomp our streets with hip haircuts, tattoos, middle class mall clothes and their own official brand of pizza.

            Out of clock-ticking doomsday novels where chunks of Antarctica the size of Landkreise hamlets break off and float away while like a Stephen King clown gone mad, the dyed orange haired, most powerful politician on the planet proclaims with absolute beady-eyed certainty that there is no global warming as all the other nations on earth recoil in horror.

            grady 5ebafd58d922102536c1e3a813f24fad--paddy-chayefsky-old-movie-postersThis is the year of George Orwell’s bullying Big Brother and Aldous Huxley’s we must be brave new world with „fake news“ and „alternative facts.“ Of Ray Bradbury’s Fahrenheit 451 about the war on truth, knowledge and books. Of Budd Schulberg with his 1957 movie A Face In The Crowd about a narcissistic lout using electronic mass media to seize political power. This is the year that validates Paddy Chayefsky’s 1976 movie Network in which self-righteous outrage and puppet „reality shows“ are more important to TV ratings than providing watchers with grounded data. This is the year when a 400 lb. robot cop in San Francisco is Blade Runner fired for unjustly harassing the thousands of homeless humans who tramp the streets of that city by the Bay, while other robots mine metals underground and mine their future from the shrinking necessity of human hands. This is the year of a rogue state dictator with fangs of nuclear warhead missiles. This is the year when the Dutch Tulips Mania that once crashed economies seems to be flowering again as cyber currencies no one can touch and „blockchain“ business models certain — absolutely certain — to bring riches.  This is the year when Margaret Atwood’s imaginings are shown to be only slightly exaggerated secret diaries of millions of savagely harassed women all over the world. This is the year when the black mirror screens in our hands hold us more than our horizons of earth and sky. This is the year of Bruce Springsteen’s „runaway American dream“ and Bob Dylan’s „Desolation Row.“ This is the year when „just a poet“ William Butler Yeats became a historian because our center did not hold.

 grady condor _SX331_BO1,204,203,200_           We can’t say we weren’t warned.

            But not by what some Americans call „the mainstream media,“ as if such a thing still exists in our world of a million billion streams surging the river where we’re all trying not to drown. For the most part, our brilliant journalists and sanctioned prophets sought reality from „credible realists“ who look just like them, who (also) went to the right schools, who have „positions“ of omniscience and power (just like them), and who find most of their insights in their bedroom mirrors.

            Those mainstreamers we rely on to help us find our way through darkness and blinding glares looked down on, disparaged, laughed at the stories that we CrimeMag fans love to read and watch and hear, stories that lighten our load, show us what is and thus could be, make us smile and give us thrills.

          grady cover Condor 46685 „Mere fictions,“ said the mainstreamers, dismissive even as they, too, used Graham Greene’s „mere entertainments“ to rest their marvelous minds.

            But 2017 was year that proved „mere fiction“ reveals forces machinegunning us all.

            There is no comfort for us in being able to say: „I told you so.“

            We’re here now.

            But maybe —

            — just maybe, maybe in those fictions we CrimeMag fans love, we can find hope for our „real“ lives, the „how’s“ to help us get from 2017 to somewhere better.

*          *          *

grady montana(c) James Grady, December 2017, for CrimeMag   –    James Grady’s first novel „Six Days Of The Condor“ became the iconic Robert Redford movie „Three Days Of the Condor“ and inspired the Soviet Union’s KGB espionage octopus to create a secret 2,000 man spy agency to mimic what Condor did, complete with a phony cover name on a brass plaque at the front door of the spy group’s Moscow headquarters. Grady’s gone on to write more than dozen crime, espionage and thriller novels, three times that many short stories, and work as a muckraking investigative reporter in Washington, D.C. after Watergate. Named in 2008 by a London newspaper as „one of 50 crime writers to read before you die“ (along with Charles Dickens, Dashiell Hammett and Elmore Leonard), Grady’s received France’s Grand Prix Du Roman Noir, Italy’s Raymond Chandler medal, a Japanese Baku-Misu award for literature and numerous American honors for his short fiction. His daughter is an Academy Award winning documentarian, his son is a published author, his wife is a private detective turned award-winning national journalist. Born and raised in a small Montana (the Western state) town, Grady lives in Washington, D.C. – Just out: „Montana Noir“, which he edited. —
James Grady in Deutschland: Die letzten Tage des CondorBei CrimeMag hier:
Interview mit Sonja Hartl: „Eigentlich war Condor niemals weg“
Anne Kuhlmeyer: Ver-rückt? Eine Frage der Perspektive.
Alf Mayer: Notizen vom täglichen Wahnsinn.

StephenGreenall_2017_nocredit2 Text PublishingStephen Greenall

I lived in a pair of Russian houses this year (short stints only), and I now realise the circumstance is eerily reflected in the two best non-fiction books I read in 2017 (each of which I inhabited for rather long stints): The House of the Dead: Siberian exile under the Tsars (Daniel Beer), and The House of Government: A Saga of the Russian Revolution (Yuri Slezkine).

greenall 51Ib21mQT4L._SX334_BO1,204,203,200_While it would be insensitive to invoke the „Russian love of suffering“ (Ryszard Kapuściński’s observation, in his wonderful book Imperium) except in the most highly advised sense possible, House of the Dead encompasses the kind of mass tribulation and mass endurance that brings the reader, page after page, to a brink of stupefied disbelief (personally, I would not have survived long enough to even see Siberia). House of Government, meanwhile, I will long remember for its painstaking reconstruction of the Bolshevik elite—concentrated in the eponymous residential building, custom-built in Moscow for the purpose—as a singularly bookish cohort: the men, women, and children who lived in this remarkable place (every apartment was structured around „father’s library“) were devoted to reading and to the Revolution in equal measure; to be deeply read, indeed, was an article of patriotic faith. Tragically, their zeal (and innocence) did not spare so many among them from the irrational purges of Comrade Stalin—not only a lead contender for the Century’s Worst Person, but himself a voracious devourer of the written word.

The world leaders of today who most steadfastly appal us tend to strike the eye as borderline illiterate, trading as they do in fake news and fake beliefs and triumphalist ignorance; though it was helpful to read about times as dark or darker than these, it was sobering to reflect that while books can move people to moral courage, they are no substitute for moral action.

greenall 9781925355628A parting shout-out to Injury Time, Clive James’s terrific collection of verse.

Of all of our Year’s-End articles this lines may have had the hardest journey, finally mailed from a bus travelling through Bosnia’s mountains. A Tasmanian citizen honoris causa, Stephen Greenall is a world traveller who has developed a taste for the Balkans. His unpublished manuscript of Winter Traffic  – nominated in 2014 for the Victorian Premier’s Literary Award, in early 2017 finally published by Text in Melbourne and now set for late 2018 at Suhrkamp – literally blew Thomas Wörtche and Alf Mayer away. This innovative and literary crime novel from the True Heir to Peter Temple starts like this: „When it was over, Sharky lay dead and Bison was convulsing on the rug like something beached or epileptic. Sutton was upright but he was breathing like sex, letting adrenaline drain as he had long ago been taught. Bison died and Sutton’s breathing went back to normal …“ — Yes, and that’s only the beginning.

Johannes Groschupf_Foto Nils Tränkler

Foto: Nils Tränkler

Johannes Groschupf

2017 habe ich die Handschrift wiederentdeckt – „Certainly the Art of Writing ist he most miraculous of all things man has devides.“ Thomas Carlyle mag ja recht haben. Aber im Alltagsgebrauch ist unsere Handschrift heruntergekommen zum Krakel für den Paketboten, gelegentlich zur zittrigen Unterschrift unter Verträge. Lieber vertraut man Tastaturen, die ein genormtes Schriftbild auf Monitor oder Display schicken. Nur meine Patentochter ließ nicht locker. Sie wollte unbedingt einen handgeschriebenen Brief von mir.

Als sie ihn im Frühjahr endlich bekam, schrieb sie zurück: „Deine Sauklaue kann kein Schwein lesen!“ und legte mir ein Heft aus der Reihe Fit für die Schule bei: „Schreibschrift üben: Vereinfachte Ausgangsschrift. Darin heißt es: „Zunächst spurst du in den blauen Feldern den neuen Schreibschrift-Buchstaben nach, um die genaue Buchstabenform zu üben. Anschließend übst du das Schreiben auf der Schreibzeile. Danach werden die Neuen Buchstaben in ganzen Wörtern verwendet.“

Ich machte mich ans Werk. Erinnerte mich an die erste Klasse, hatte wieder den Geruch von frischgespitzten Bleistiften in der Nase und das Nachbarsmädchen Natascha neben mir. Spure nach! Hinauf in den Dachboden und hinab in den Keller! Was ich auf der Tastatur in zehn Minuten hingetippt hätte, wühlte ich nun extrem entschleunigt mit Bleistift aufs Papier. Es sah, alles in allem, furchtbar aus.

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Damit, so fand ich bald heraus, war ich nicht allein. Im Sommer 2017 erschien das Buch Wer nicht schreibt, bleibt dumm. Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen (Piper Verlag, 301 Seiten, eine Rezension von Johannes Groschupf hier). Die Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning berichtet aus dem Schulalltag: „Immer mehr Kinder können nicht leserlich und oft nur mit großer Anstrengung schreiben. Krakelschriften sind keine Einzelfälle mehr, sondern in den Klassenzimmern längst zum Normalfall geworden.“ Auf den Punkt gebracht: „Jedes sechste Kind kann nicht richtig schreiben!“ Der Blick auf die beigefügten handschriftlichen Katastrophengebiete ließ mich erschauern.

Ich saß im Spätsommer aber bereits über einem Übungsheftchen von Helmut Delbanco und lernte die deutsche Kurrentschrift, fälschlich auch als Sütterlin bekannt. Meine Mitbewohnerin schüttelte den Kopf, mir machte es Spaß. Es gibt nichts Besseres, als zum ersten Kaffee ein paar eigenartige Buchstaben zu ziehen und daraus eine Schrift zu gewinnen, die niemand mehr lesen kann. Verabredungen für Seitensprünge, Mordpläne und Listen für Waffenkäufe können jetzt getrost dem Tagebuch anvertraut werden, ja offen auf dem Frühstückstisch herumliegen. Nicht nur das. Allein der Moment des Schreibens ist magisch. Schreiben ist Meditation.

hand2Die Sache lief dann zunehmend aus dem Ruder. Im Herbst nahm ich an einem Kalligraphie-Workshop teil, der im hippen Neuköllner Schillerkiez stattfand und außer mir einige ästhetische junge Frauen anlockte. Wir lernten den Gebrauch von Stahlfeder und Tusche, Gleichzug, Wechselzug, Majuskel, Minuskel, Ligatur. Zwei Monate später saß ich in Karlshorst in einem weiteren Workshop und lernte die Humanistische Kursive, eine frühe Kanzleischrift der Renaissance. Hier fand ich mich unter einem Dach mit Hardcore-Freaks, die es wirklich ernst meinten. Einer von ihnen beherrschte die römisch anmutende Unziale, die er am liebsten mit Rohrfeder auf Pergament schrieb. Die Kalligraphie ist in Deutschland wenig bekannt, in den angelsächsischen Ländern jedoch wieder in voller Blüte.

Ausmalhefte sind out, jetzt wird gelettert.

Im November suchte ich das heimliche Mekka der deutschen Schriftkunst auf: den Hermann-Zapf-Raum in der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel. Die kleine Dauerausstellung gibt einen unvergesslichen Eindruck vom Wirken Hermann Zapfs als Kalligraph, Schriftentwerfer, Typograph und Buchgestalter über fünf Jahrzehnte. Es war ein ganz normaler Dienstag. Außer mir war niemand da, die edlen Exponate zu studieren.

Anne Trubek sieht in ihrem Büchlein The History and Uncertain Future of Handwriting (Bloomsbury, 2016) keinen großen Verlust, wenn das handschriftliche Schreiben aus dem Alltag verschwindet. Es führt dann eben ein Nischendasein und wird allenfalls von komischen Käuzen weitergeführt. Mir aber ist das tägliche Schreiben mit der Hand auch ein Mittel zur Selbsterkenntnis geworden. Bei schlechter Laune, Hast und Gereiztheit verwildert die Handschrift, an guten Tagen fließt sie gleichmäßig dahin.

51VRox0yabL._SX331_BO1,204,203,200_„Your Handwriting Can Change Your Life“ verspricht die amerikanische Handschriftlehrerin Vimala Rodgers schon Jahren. Ihre esoterische Methode kann man getrost vergessen, aber es stimmt eigentlich: Eine schöne, fließende Handschrift macht glücklich. Sie erregt Bewunderung und Zuneigung beim anderen Geschlecht. Sie lässt einen geduldiger und achtsamer schreiben und erhöht dadurch das Vergnügen am Akt des Schreibens. Denn, so Carlo Goldoni schon im 18. Jahrhundert: „Die Buchstaben haben dann Anmut, wenn sie nicht mit Unlust und Hast, auch nicht mit Mühe und Fleiß, sondern mit Lust und Liebe geschrieben sind.“

Johannes Groschupf, Autor und Journalist, lebt in Berlin. Zuletzt Jugendromane (Lost Places, Lost Boy u.a.) bei Oetinger Hamburg. Im Frühjahr 2018 erscheint in der Anthologie „Berlin Noir“ seine Short Story Heinrichplatz-Blues. Thomas Wörtche über Lost Boy.

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