Geschrieben am 4. November 2015 von für Comic, Crimemag

Comic: Manu Larcenet: Blast

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Tief in die Abgründe

Der Ex-Punk Manu Larcenet legt mit seinem vierbändigen Comic „Blast“ eine Arbeit vor, die zum Besten gehört, was die Graphic Novel zu leisten vermag. Marcus Münterfering hat sich diesem Werk ausgesetzt. Hier sein Expeditionsbericht.

Eine klassische Verhörsituation bildet den Rahmen für Manu Larcenets schwarzweißes Comic-Epos „Blast“. Zwei namenlos bleibende Cops, ein Verdächtiger, Polza Mancini. Ein Koloss, krankhaft übergewichtig, eigentlich ein ekelerregender Anblick. Und vielleicht der Mörder eines jungen Mädchens, Carole Oudinot. Aber ob das wirklich so ist, erfahren wir erst am Ende dieser 800 Seiten langen Graphic Novel. Denn Mancini hat nicht vor, es den Polizisten (und uns) leicht zu machen: „Sie versuchen, meine Geschichte zu vereinfachen, zu einer logischen Abfolge, die Sie wohin führt … zu Carole.“

Erst einmal erzählt Mancini, wie er die Fesseln seines bürgerlichen Daseins – er war ein erfolgreicher Autor von Gastro-Guides und führte eine unaufgeregte Ehe – abstreifte, nachdem sein Vater, Arbeiter und Kommunist, starb. Mancini rafft sein Geld zusammen, packt seinen Rucksack voll mit Schokoriegeln und Schnaps und macht sich auf, um – ja was eigentlich – zu suchen: die Freiheit, die Einsamkeit, den Tod gar? Er verbringt einen Sommer im Wald, dauerberauscht und irgendwie glücklich, vielleicht die beste Zeit seines Lebens. Er frisst, er säuft, er schmeißt Pillen ein – eine Art bizarres Zerrbild von Henry David Thoreau und seinem „Zurück zur Natur“-Klassiker „Walden“ aus dem Jahr 1854, in dem der US-Schriftsteller beschrieb, wie er zwei Jahre in einer Blockhütte lebte, fernab der Zivilisation. „Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde“, heißt es da.

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Der Wald, keine Idylle

Mit Thoreaus optimistischem Aussteigertum hat Mancinis Erzählung einer absoluten Verwahrlosung wenig gemein. Zumal der Wald, in den er sich zurückzieht, von finsteren Gestalten bewohnt ist, von einer seltsamen Gruppe Teilzeitaussteigern etwa, in der die hierarchischen Mechanismen der „normalen“ Gesellschaft letztlich nur kopiert werden. Für den radikalen Aussteiger Mancini ein Graus, auch wenn er die absolute Einsamkeit, in die er sich begibt gar nicht aushalten kann. Als er nach einem Kampf schwer verletzt und orientierungslos durch den Wald taumelt, sinniert er: „Niemand wusste, wo ich war, niemand würde mich suchen. Seltsamerweise war dies eine erschreckende Vorstellung, obwohl es doch eigentlich der Zweck meiner Reise war.“

Am Ende von „Fett“, dem ersten Band von „Blast“, wird Mancini gefunden und in die Psychiatrie eingewiesen, wo er für eine kurze Zeit Ruhe findet, bis ihn der Ruf der Natur wieder ereilt und er ausbricht: „Die Natur birgt etwas Geheimnisvolles … etwas, das man nicht erzwingen kann, das sich offenbart, wenn man reglos zu warten versteht, und das man nicht teilen kann.“

blastG_9207_01Polza Mancini gehört in die Reihe der großen unglaubwürdigen Erzähler, die sich darauf verstehen, den Leser (wenn auch nicht die Cops, aber die haben, wie wir sehr viel später erfahren werden, auch einen gewaltigen Informationsvorsprung) mit ihrer Intelligenz und ihrem Charme (ja, der Fettberg kann durchaus charmant sein) und ihrem Witz einzuwickeln, unser Mitgefühl zu erwecken, unsere Bewunderung gar. In dieser Hinsicht sind Nabokovs „Lolita“-Lover Humbert Humbert, der namenlose Held aus Chuck Palahniuks „Fight Club“ oder J.D. Salingers Holden Caulfield Mancinis Vorläufer.

Im weiteren Verlauf verdüstert sich „Blast“, von Anfang an alles andere als fröhlich, zunehmend. Der Winter kommt, und Mancini gerät in immer fiesere Situationen; so entpuppt sich ein Weggefährte als Frauenmörder, ein anderer als Vergewaltiger. Immer wieder wird Mancini zum Opfer von Gewalt, bis er schließlich so etwas wie ein Zuhause und sogar eine Art Freundin findet. Doch auch hier droht bald Ungemach. Aber ist Mancini wirklich nur ein Opfer, oder verbirgt sich hinter den Aussetzern, die seine Geschichte spicken (darunter die Zustände, die er Blasts, nennt, in denen er für einen Moment eine seltsame Form von bewusstlosem Glück empfindet), ein entsetzliches Geheimnis?

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Wahnsinns-Buch

Selten hat eine Graphic Novel (oder ein „normaler“ Roman) so tief in die Abgründe der menschlichen Seele geblickt wie Manu Larcenets „Blast“. Seine düstere Geschichte bebildert der 46-jährige Ex-Punk, der zu Frankreichs bekanntesten Zeichnern gehört, in einem fast schon brutalen Stil; die Figuren sind grotesk überzeichnet, hässlich und abstoßend – verzerrte Grimassen, eingefallene oder obszön überdimensionierte Körper, bleierne Himmel. Blut, Kotze und Schweiß glaubt man fast zu riechen. Diese Graphic Novel fasst einen an, ist mitunter unerträglich, aber immer große Kunst. Ein Wahnsinns-Buch über die Einsamkeit und den Rausch, über Liebe, Sex, Hass und Tod. Ein Buch über das Leben.

Manu Larcenet: Blast. Graphic Novel in vier Bänden. Band 1: Masse (2012), Band 2: Die Apokalypse des Heiligen Jacky (2013), Band 3: Augen zu und durch (2014), Band 4: Hoffentlich irren sich die Buddhisten (2015). Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2012 – 2015. Je 208 Seiten. Je 29,00 Euro

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