Geschrieben am 1. Dezember 2022 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2022

Christopher Werth über Dimtry Glukhovsky

Gnadenlos schwarzer Humor und genauer Blick

„Geschichten aus der Heimat“, besprochen von Christopher Werth

Der Heyne Verlag legt eine Sammlung von Kurzgeschichten vor, die typische Themen der postsowjetischen Gesellschaft aufgreifen. Geschrieben hat sie der in seiner russischen Heimat mittlerweile als „Ausländischer Agent“ eingestufte und nach Berlin emigrierte Dimitry Glukhovsky. Im Juni 2022 wurde er auf die staatliche Fahndungsliste gesetzt, seine Bücher aus allen russischen Buchhandlungen und Bibliotheken entfernt. 

Geschichten aus der Heimat – allein schon der Titel ist ironisch. Man denkt an Folklore. Wohlfühl-Geschichten, die ein Gefühl von einem idyllischen Zuhause vermitteln. Ein bisschen lustig, nett und harmlos wie ein Heimatfilm. Nicht so bei Glukhowsky. Der Autor der Science-Fiction Bestseller-Reihe Metro fährt andere Zutaten auf: Gewalt, Exzesse und Monster. Tadschikischen Gastarbeiter werden die Opfer von Organhändlern, ein Geo-Wissenschaftler entdeckt bei Bohrungen in Sibirien die Hölle, eine Fabrik voller unfreiwillig alleinstehender Frauen wird telepathisch vom nationalen Führer geschwängert oder ein Gangster aus Wladiwostok, der sein Leben lang von Frankreich geträumt hat, kann endlich nach Paris reisen, um sich der Libertinage hinzugeben.

Die 2010 geschriebene Geschichte Am Boden handelt vom Mythos der russischen Seele – hin und hergerissen zwischen religiösem Gehorsam und Schicksalsergebenheit und dem unerfüllten Wunsch nach Moderne. Sie springt zwischen zwei Ebenen hin und her. Am Anfang begegnet man zwei schwer verkaterten Herren, die trockenes Hundefutter frühstücken und es mit dem billigsten Wodka „Der Rustikale“ runterspülen. Sie regen sich dabei über ein seltsam glitzerndes Sediment am Boden der Flaschen auf. Die zweite Handlungsebene spielt im Kreml. Hier erhält der amtierende Präsident Medwedew, der eigentlich zu einem Termin mit Obama muss, unerwarteten Besuch. Nämlich von keinem geringeren als Iwan dem Schrecklichen. Der erste russische Zar. Die ultimative Verkörperung der brutalen russischen Machtpyramide, die er aus dem Kreml heraus im 16. Jahrhundert etabliert hat.

Er warnt den Präsidenten eindringlich vor einer Modernisierung Russlands. Besonders aber vor der Aktion mit dem Sediment im Wodka. Der Präsident erklärt daraufhin, dass es sich bei den Sedimenten um extra dem Wodka zugefügte Nanoroboter handelt, die bei den Trinkenden das rationale Zentrum des Gehirns aktivieren würden, um Moderne und Fortschritt zu fördern. Darauf klärt ihn der Zar auf, dass die UDSSR vor allem wegen Alkohol-Mangel zugrunde gegangen wäre. „Ich habe Andropow damals gewarnt, dass der russische Mensch ohne Wodka verroht. Ohne ihn empfindet er ungehemmt die Schärfe der existenziellen Leere. Er wird aus einem Jahrhunderte währenden Dornröschenschlaf gerissen und wacht in einer Einzimmerwohnung mit zerfetzten Tapeten und durchgelegenem Sofa auf. Was soll er dann noch machen? Und wenn jetzt auf einen Schlag das ganze Land erwacht…“ Der Präsident gerät daraufhin in Panik und versucht den Produktionsprozess der modifizierten Flaschen zu stoppen. Aber es ist zu spät. Vom Roten Platz hört er schon den ersten Schrei. Die Geschichte endet dann wie sie begann mit den beiden Herren. Natürlich haben sie trotz ihrer Vorbehalte gegen die Sedimente die Flaschen bis zum Boden gelehrt. Wie vom Zaren vorhergesagt schauen sie plötzlich verwundert auf ihre zerschlissenen Klamotten, die vollgekotzte Wohnung, den zugemüllten Hof und fragen sich: „Was machen wir hier eigentlich?“

Dimtry Glukhovsky © wiki-commons

Glukhovsky ist ein mit allen (russischen) Wassern gewaschener Erzähler. Der Einfallsreichtum erinnert manchmal ein bisschen an den mittlerweile ebenfalls in Berlin wohnenden Groß-Literaten Vladimir Sorokin. Im Gegensatz zu Sorokin ist der Sound bei Glukhovsky aber immer Netflix-tauglich heutig.

Mit dem Auftritt des Zaren im Jetzt spielt die Geschichte Am Boden auch geschickt mit Motiven des Theaterstücks Iwan Wassiljewitsch des 1891 in Kiew geborenen Schriftstellers und Satirikers Michail Bulgakow (Der Meister und Margarita). Die Komödie aus den Dreißigerjahren dreht sich um ein verunglücktes Zeitmaschinen-Experiment, durch das ein rücksichtsloser Hausverwalter plötzlich mit Ivan dem Schrecklichen die Rollen tauschen muss. Unter Stalin wurde das Stück verboten. Der Grund: Es könne möglich sein, dass Zuschauer denken, jeder Trottel würde sich gut zum Diktator eignen. 

Die Geschichten aus der Heimat verbinden einen fotografisch genauen, fast dokumentarischen Blick auf russische Realitäten mit gekonnt erzähltem Genre. Fantasy, Crime oder Science-Fiction – und immer gnadenlos schwarzer Humor, schmerzhaft-satirische Überspitzung. Das rüttelt auf und versucht, verschiedene Facetten der russischen Gegenwart fassbar zu machen. Es geht in jeder Story um konkrete Themen wie Korruption, Wahlbetrug, Alkoholismus, Verrohung, Gewalt oder Männermangel – und mit grellen Scheinwerfern werden gesellschaftliche Mechanismen und seelische Zustände sichtbar. Einblicke, die im Westen ansonsten eher im Dunklen bleiben. 

Dimtry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat (Рассказы о Родине). Aus dem Russischen von M. David Drevs, Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg. Heyne Verlag, München 2022. Hardcover 448 Seiten, 24 Euro.

Innerhalb seiner Kolumne „Playing Video Games“ besprach Christopher Werth im Juni 2021 das auf Glukhovskys Büchern basierende Spiel „Metro Exodus“.

Christopher Werths Texte bei uns hier.

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