Kriminelle Abgründe zwischen Fiktion und Wirklichkeit
Seit Anfang 2009 gibt Dr. Lehmanns Sach- und Warenkunde in unregelmäßiger Folge bei „Samstag-ist-Krimitag“ der Realität Schützenhilfe: Wie funktioniert das wirklich mit dem Morden – und wie wird tatsächlich ermittelt? Inzwischen ist das dazugehörige Buch erschienen: Von Arsen bis Zielfahndung. Kirsten Reimers sprach mit den Autoren: der Krimischriftstellerin Christine Lehmann und dem Fahnder Manfred Büttner.
Reimers: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dieses Sachbuch zu schreiben?
Lehmann: Wir beide gucken gerne Krimis im Fernsehen, lesen gerne Krimis, und vor allem bei Fernsehkrimis fallen Fehler auf – also, wenn man zum Beispiel eine schöne Leiche sieht und dann erfährt, dass die drei Wochen im Wasser gelegen haben soll. Das kann einfach nicht sein. Die sieht dann nicht gut aus. Es gibt immer wieder Kleinigkeiten in Krimis, die nicht so laufen, wie sie eigentlich in der Wirklichkeit laufen würden. Irgendwann war mir das zu viel. Da habe ich gedacht, wir müssen da mal was schreiben. Deshalb hab ich Manfred Büttner gefragt, der mich schon seit Jahren berät. Und der war sofort Feuer und Flamme.
Büttner: Auch aus Ermittlersicht läuft da einiges schief. Obwohl – logisch, das wissen wir auch, und das kommt im Buch hoffentlich hinreichend rüber: dass es ist nicht darum geht, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden. Aber wenn dann da Sachen sind, die so überhaupt gar nicht passen, dann stört’s einen gelegentlich doch. Deswegen bin ich auch gern mit eingestiegen.
Reimers: Können Sie heute noch Krimis lesen oder sehen, ohne dabei nervös und kribbelig zu werden, weil Sie denken, das geht doch so nicht?
Lehmann: Ja, mir geht das so. Wenn zum Beispiel zum hundertsten Mal der Chef der Polizei einen Durchsuchungsbeschluss ausstellt. Wobei es nicht nur so ist, dass das in Krimis verkehrt läuft, das läuft oft auch in Nachrichtensendungen verkehrt. Also, wenn der Staatsanwalt einen Haftbefehl ausstellt, das geht halt einfach nicht. Uns lag am Herzen zu sagen, dass unser Rechtsstaat immer noch ein Rechtsstaat ist und nach bestimmten Regeln funktioniert. Das ist auch wichtig.
Büttner: Manche Sachen sind einfach von der Begrifflichkeit her falsch. Im Moment hat sich in der Nachrichtensprache zum Beispiel das Wort „Razzia“ statt „Durchsuchung“ durchgesetzt. Aber unter einer Razzia versteht man was Besonderes nach dem Polizeirecht. Razzien in dieser Form gibt es in Deutschland einfach nicht. Und das aus gutem Grund. Wenn solche Begriffe unterschiedlich oder einfach auch falsch verwendet werden, stolpert man halt drüber.
Lehmann: Was mir wahnsinnig gegen den Strich geht, ist die Art und Weise, wie die Polizei in Krimis mit Zeugen und Tatverdächtigen umgeht. Viele Krimis funktionieren ja so, dass die Ermittler irgendwann anfangen, einen, der eigentlich als Zeuge geladen ist und ganz harmlos dasitzt, ohne Vorwarnung zu überführen. Sie schreien ihn an, sie setzen ihn unter Druck, sie bedrohen ihn, sie tricksen ihn sogar aus. Und er hat keine Chance, und denkt auch gar nicht daran, dass er einen Anwalt dazu holen kann. Das stört mich sehr, denn so entsteht der Eindruck bei einem Normalbürger wie mir, dass, wenn ich als Zeugin womöglich mal in Verdacht gerate, mir so etwas auch passieren kann. Dass ich kaum Rechte habe. Ich bin mal an der DDR-Grenze sechs Stunden lang verhört worden. Ich weiß, wie das ist und wie sich das anfühlt. Ich möchte nicht glauben, dass so etwas bei unserer Polizei auch möglich ist und dass ich wirklich Angst haben muss.
Reimers: Es fragt sich ja auch, wie weit Fiktion nicht wieder auf die Realität abfärbt.
Büttner: Das ist gar nicht so weit hergeholt. Es gibt den Erfahrungswert, dass man in Situationen, die man nicht oft erlebt, auf Vorbilder zurückgreift. Da muss man sich halt irgendwie verhalten. Ich erinnere mich an eine Schutzpolizistin, die im Streifendienst tätig war und dann mal jemanden festnehmen musste. Etwas, das aus dem normalen Streifenalltag herausgefallen ist. Der Festgenommene hat beharrt: „Ich habe doch das Recht auf einen Anruf.“ Und die Polizistin – vielleicht hat sie da bei der Ausbildung auch nicht richtig aufgepasst –, die hat auch gedacht, na, so müsste es wohl sein. Es ist völlig klar, woher sie das hat: aus den typischen amerikanischen oder angelsächsischen Krimis. Krimis können durchaus eine Lehrfunktion Richtung Polizei haben.
Lehmann: Auch Polizisten lesen Krimis.
Büttner: Aber es ist schon so, dass, wenn es sich um entsprechend dramatische Sachen handelt – Kapitaldelikte in irgendeiner Form –, dann sind überwiegend erfahrene Fachleute dabei, weil das sehr, sehr institutionalisiert abläuft. Da kommt es nicht vor, dass jemand vernommen wird und der Anwalt sitzt nicht dabei. Das gibt es einfach nicht. Das ist nur im Fernsehkrimi so.
Lehmann: Was mich sehr beschäftigt, ist der Profiler, weil der heute in unsere Krimis Einzug hält. Deswegen ist mein Kapitel über den Profiler, der eigentlich ein Fallanalytiker ist, relativ lang geraten, weil mir klar geworden ist, dass alle Profiler, die in deutschen Krimis vorkommen, vollkommen falsch dargestellt sind. In zwei, drei Jahren mag das gar keine Rolle mehr spielen, aber jetzt ist das völlig daneben. Die werden als Psychologen mit genialer Intuition dargestellt, aber es sind in Wirklichkeit Polizisten, die mit Statistiken arbeiten. Und auch das wiederum in einer sehr streng formalisierten Art und Weise. Das ist meines Erachtens in Krimis bisher noch gar nicht dargestellt worden. Wird auch in amerikanischen Krimis nicht dargestellt. Der Profiler ist derzeit diese neu aufkommende Figur, die wieder den genialen Detektiv zurückbringt, einen, der sich auf seine Spürnase verlässt, der sich in den Täter hineinversetzt, dessen Gefühle nachvollzieht und dann praktisch dessen Verbrechen begeht. Also der alte Father Brown. Das ist in der Realität überhaupt nicht so. Und trotzdem ist die Arbeit der Fallanalytiker sehr, sehr spannend.
Büttner: Wenn so etwas zumindest ansatzweise im Krimi auftaucht, dann ist das schon näher an der Realität.
Lehmann Abgesehen davon macht es die Krimis auch schöner. Denn manchmal steckt in der Polizeiarbeit selbst oder in einem Ermittlungsansatz schon eine Geschichte. Wenn man das weglässt, hat man die Geschichte gar nicht. Oder man hat in den Hierarchien der Polizei bereits ein Drama, das man für einen Krimi verwenden kann. Also ich finde, dass in der Realität oft Geschichten stecken, die wir nicht entdecken, wenn wir nur fantasieren.
Reimers: Herr Büttner, Sie kommen eher von der Wirtschaftsseite, oder? Was machen Sie genau?
Büttner: Ich bin von Haus aus Steuerfahnder und habe seit einigen Jahren sowohl an der Hochschule für Finanzen als auch an der Hochschule der Polizei Lehraufträge, sodass ich auch im Fortbildungsbereich tätig bin. Auf diese Weise habe ich recht vielfältige Berührung mit der Polizeiausbildung. Aber mein eigentlicher Schwerpunkt sind Wirtschaftsstrafsachen.
Lehmann: Manfred Büttner berät mich seit Jahren, wenn ich Fragen zu juristischen Dingen und Wirtschaftsdelikten habe. Seine Informationen sind immer wieder in meine Krimis eingeflossen, nur dass ich sie halt sonst selbst in die Maschine getippt habe. Das Handbuch ist tatsächlich das erste Buch, das wir gemeinsam geschrieben haben.
Reimers: Frau Lehmann, Sie schreiben nicht nur Krimis, sondern sind auch journalistisch tätig.
Lehmann Ja, ich bin beim SWR Nachrichtenredakteurin und Politikredakteurin.
Reimers: Hat das Einfluss auf Ihre Krimis?
Lehmann: Gar nicht! Natürlich gibt es da die spektakulären Fälle, dass ein totes Kind in einem Blumentopf gefunden wird oder dass ein Mann seine Frau und seine Kinder erschießt. Diese Sachen kommen mir natürlich auf den Schreibtisch, und man meldet das dann als Nachricht. Aber ich habe noch keinen Krimi geschrieben, in dem so etwas eine Rolle gespielt hätte, und zwar deswegen, weil der Krimi etwas anderes ist. Normalerweise ist ein Verbrechen relativ schnell aufgeklärt mit den Mitteln, die man heute hat. Die echte Kriminalität ist ja meist recht banal. Der Krimi aber erzählt ein menschliches Drama. Und er macht es kompliziert, auch die Aufklärung. Da weiß man halt nicht sofort, wer’s war – zumindest in meinen Krimis, aber es gibt natürlich auch andere Formen. Aber deswegen spielen die realen Fälle in meinen Krimis kaum eine Rolle.
Reimers: Gut, die realen Fälle nicht, aber doch der soziale Hintergrund von Fällen oder Themen, oder?
Lehmann: Ja, aber das wüsste ich auch, wenn ich ganz normal fernsehen würde. Dazu muss man nicht Nachrichtenredakteurin sein, denke ich. Vielleicht muss man Journalistin sein, um zu recherchieren. Da spielt es sicherlich eine Rolle, aber die Nachrichten selbst haben keine große Bedeutung für meine Krimis.
Reimers: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Kirsten Reimers
Christine Lehmann & Manfred Büttner: Von Arsen bis Zielfahndung.
Das aktuelle Handbuch für Krimiautorinnen und Neugierige.
Ariadne im Argument Verlag 2009. 250 Seiten. 16,90 Euro.