
Große kleine Kunst
Den Jahrhundertroman „Der letzte Huelsenbeck“ schrieb ich unter anderem, weil ich der Meinung war, dass es in Deutschland keinen Film, keine Serie, keinen Roman über die Siebziger Jahre gibt, „in dem erzählt wurde, wie es wirklich gewesen war. Nicht einmal ansatzweise.“ (Huelsenbeck, S. 220) Auch ich unternahm dazu gar nicht erst den Versuch. Das sei unmöglich, glaubte ich. Stattdessen sollten in meinem Roman die Siebziger Jahre in der Gegenwart wiedererschaffen werden.
Zu meiner großen Überraschung zeigt mir HP Daniels nun in seinem Debütroman „Runaway“, dass ich unrecht hatte. Hier wird die Geschichte zweier pubertierender Sechszehnjähriger erzählt, die Ende der Sechziger – die sich vom Anfang der Siebziger nur marginal unterscheiden – aus München nach Hamburg und später nach Bad Oldesloe abhauen. Ich weiß nicht, wie Daniels es macht, aber er scheint sich tatsächlich haargenau an jedes Gefühl und jeden Gedanken erinnern zu können, die einem Jungen in diesem Alter und zu dieser Zeit durch den Kopf spukten. Die ganze Schüchternheit gepaart mit jugendlicher Vermessenheit und der Ablehnung der Welt der Erwachsenen. Zumindest schreibt es er exakt auf. Auch die lakonische Art, wie zwei befreundete Jungs, die sich zugleich als Konkurrenten empfinden, miteinander umgehen, wird ohne einen falschen Ton geschildert.
Überhaupt stimmt in dem Roman sprachlich alles. Durch kleine Redundanzen schafft Daniels einen seltsamen Sound, der einen ganz kirre macht und wie von selbst immer tiefer in die Geschichte hineinzieht. Nichts wird aufgebauscht, nicht das Kiffen, das genau wie damals ganz nebenbei geschieht, nicht die Auftritte der Band „The Enemies“, nicht die zarten Mädchengeschichten, alles passiert wie beiläufig. Das ist eben nicht ganz große Kunst – zumindest keine, die das die ganze Zeit von sich behauptet -, sondern eine kleine, die umso schwieriger zu machen ist. Und wie gesagt: Wie der Mann das alles fertigbringt, habe ich auch nach der Lektüre nicht verstanden. Aber vielleicht muss ich dazu noch einmal um fünf Jahre altern. Das ist nämlich die erstaunliche Zeitspanne, die HP Daniels älter ist als ich.
Christian Y. Schmidt

- HP Daniels: Runaway. Roman. Transit Verlag, Berlin 2019. Hardcover, 184 Seiten, 20 Euro. Verlagsinformationen.
Tina Manske in unserem MusikMag über die Musik im „Letzten Huelsenbeck“. Karsten Herrmann und Alf Mayer in CulturMag über „Der letzte Huelsenbeck“: Dada-Screwball & Die perfekte Endlosschleife.