Geschrieben am 9. Januar 2010 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Carlos Krimischmiede

„Dieses blöde 46!“

Folgen Sie Carlo Schäfer in seine Krimischmiede, in der er alle 14 Tage auf dem Wahnsinn der Welt herumhämmert, auf dass die Funken sprühen. Heute: Carlo feiert Geburtstag …

Vor einer Woche, am 2. 1., wurde ich 46 Jahre alt. Das ist so richtig Scheiße. Das Datum hat ohnehin nie etwas getaugt und jetzt werden die Zahlen auch immer dumpfer und vorläufig nichtssagender (weder alt noch jung), demnächst dann aber nur allzu beredt (alt). Ich habe mir jegliche Feierlichkeit verbeten, um das Billanzieren der bisher verbrachten Erdenzeit kommt man, komme zumindest ich (in Wahrheit ja romantische, zarte Seele) nicht herum.

1964 – Geburt. Au!.

1965 – Umzug nach Pforzheim – kein Kommentar.

1966 – Erste Erinnerungen: Papa bringt den Milchschoppen ans Gitterbett, Milchschoppen ist zu heiß. Deutschland verliert gegen England. (Echt! Ich weiß es noch!)

1967 – Ich werde drei. Meine Schwester sagt: „Dieses blöde drei!“ Ich weiß nichts zu entgegnen. Oma Paula hat einen Herzschrittmacher in I-Phone-Größe. Die fromme Frau lässt ihn mich ein ums andere Mal ertasten, weil sie völlige Asexualität unterstellt. Sie irrt kaum, aber beim Schaukeln die Beine zu spreizen verursacht ein eigenartig jauchziges Gefühl.

1968 – Ich werde vier, sage meiner Schwester: „Jetzt kannst du nicht mehr sagen ‚Dieses blöde drei!‘“ Sie sagt: „Dieses blöde vier!“ Auch dem kann ich nichts entgegnen.

1969 – Feststellung, dass ich schlecht sehe. Erste Brille und viele hilfreiche Tipps. „Wenn du hinfällst, zerbricht die Brille, die Splitter zerschneiden deine Augen und du wirst blind!“ „Ho, Ho, Hojimin!“ für Lied gehalten und auf der Straße gesungen.

1970 – Einschulung. Erste Prügelei des bis dato etwas kasparhauserigen Lebens. Große Freude am Niederringen und Verhauen. Fünf im dritten Diktat, Mutter heult.

1971 – Oma Paula (inzwischen mit geringfügig kleinerem Nachfolgemodell, das ich noch immer durch ihre gewaltige Leiblichkeit hindurch erfühlen darf), isst Fleischfonduestück direkt von der fetttriefenden Gabel und häutet sich beträchtlich die Lippen. Im Fernsehen Lederstrumpf, Angst vor Huronen – eigentlich bis heute.

1972 – Olympia in München. Sympathie für den ganz dicken amerikanischen Ringer und das deutsche Hockeyteam. Anfertigung einer Strichliste für alle Tage bis zum Abitur.

1973 – Jahreszahl hässlich empfunden, irgendwie dick, klobig, nichtssagend. Ölkrise spannend! In Sachen Krieg für Israel Daumen gedrückt.

1974 – Fanatisches Verfolgen der WM. Hass auf DDR. Unbeschreibliches und so wohl nie wiedergekehrtes Glücksgefühl nach Niederzwingung der Oranjes im Finale. Gymnasium. Angst.

1975 – Eigentlich nichts, allenfalls gleichgültig wahrgenommene Tendenz zu Spontanerektionen, verwundert und gelangweilt aufgeklärt geworden. Mittlerweile 11 Dioptrien. Stolz drauf.

1976 – Hoeneß verschießt.

1977 – Heftig, tierhaft, täglich zwei Mal wichsen – von jetzt auf nachher. Sex im Schädel. Immer. Immer. Immer.

1978 – Partys mit Stehbluesschwerpunkt. Zahllose bittere Blamagen. Darf Oma nicht mehr abtasten, will das auch nicht.

1979 – Wichsen.

1980 – Erste Freundin, Mitwirkung in Schülerband. In beiden Tätigkeitsfeldern ist nachgerade erheblicher Dilettantismus einzuräumen. Kondomkauf: „Ich brauche Kondome. Was haben Sie denn da?“

1981 – Zweite Freundin, Fahrschule.

1982 – Fahrprüfung durchgefallen, dann doch bestanden, Mandeln raus, Freundin läuft nicht rund, jetzt volljährig. Rauchen.

1983 – Abi 83

1984 – Studienbeginn. Hilflosigkeit und Größenwahn halten sich die Waage und stabilisieren also den Alltag.

1985 – s. 1984.

1986 – Versuch das Rauchen zu lassen. Lächerlich misslungen.

1987 – s. 1984, zusätzlich Bier.

1988 – Beginn einer neun Jahre währenden Beziehung, Beginn eines neunjährigen, sinnlosen Leidens.

1989 – Beziehung verschlechtert sich bereits jetzt, Hautausschläge.

1990 – Nach Jahren der heimlichen Versuche jetzt etwas veröffentlichen wollen. Schlechte Texte, sehr, sehr schlechte Texte. Deutschland Weltmeister – Filmriss.

1991 – Nun doch Berufsabschlussnähe. Keine Lust zu arbeiten.

1992 – Berufsabschluss geschickt wieder etwas nach hinten geschaufelt. Beziehung wirklich nur noch Lachnummer, Hautausschläge werden trotzdem besser.

1993 – Ladendiebstahl (Bundstifte), Staatsexamen. Heirat! (Gut gemacht!)

1994 – Nun eben doch arbeiten: Kollegen: Ein Trinker, ein sexsüchtiger Zwerg, eine Diebin und eine wahnsinnige Ex-Rennfahrerin. Hat eigentlich Spaß gemacht.

1995 – Schulden, schlechte Ehe.

1996 – s. 1995 + 1987 + 1984

1997 – Scheidung, zwischenzeitlicher Bankrott, seltsam gute Stimmung.

1998 – Jetzt mal was Positives: Neue Familie und die hält!

1999 – Zunehmende Abneigung gegen Wohnsituation. Beginn eines sinnlosen, neunjährigen Leidens.

2000 – Dummes Jahr + Hörsturz.

2001 – Erstes Buch in der Mache. Euphorie.

2002 – Buch auf dem Markt: Euphorie lässt nach.

2003 – Zweites Buch. Beförderung. Hautausschläge kehren zurück.

2004 – Drittes Buch.

2005 – Burnout

2006 – Viertes Buch, WM war Klasse.

2007 – Fünftes, sechstes, siebtes Buch + 2005

2008 – Umzug auf Baustelle, kleinere, überlastungsbedingte Widerlichkeiten innerhalb der Familie.

2009 – Je nun.

Wenn man sich das so durchliest, im Geiste hinzufügt, dass Vieles und natürlich das Allerschlimmste, Dümmste, Peinlichste und Peinigendste noch weggelassen ist, dann darf man schon mal ein bisschen Grübeln, ob die reine Lebensverlängerung um jeden Preis, das einem allüberall entgegen geblökte – „Bleiben Sie gesund!“ – sich so leicht, gar recht begründen lässt.

Selbstbefleckung, WM, Getränke sowie ein totaler Zusammenbruch des bisherigen Lebensentwurfs sind nach Durchsicht der Liste ganz offensichtlich die Highlights meiner bisherigen Erdentage. Das ist jetzt schon ernüchternd genug, will man das wirklich noch potenziell denkbare 70–80 Jahre vor sich zugeben?

Allerdings: Ein paar Bücher sollen’s schon noch werden! Und im Sommer ist WM! Und wie ich so den Rettungshubschrauber durch den blauen Winterhimmel pflügend etwas von der Autobahn Gekratztes in die Uniklinik bringen sehe, spüre ich auch wieder, dass das Leben, die Welt natürlich auch, Schönes und Schönstes bereithält! Ohnehin geht es ja jetzt mit Mappus im Südweststadt voran!

Also wage ich zum Ausklang einen visionären Zahlendreher:

2028 – Vierundsechzigster Geburtstag! Zur Feier des Tages raus in die frische Gottesnatur! Kunstherz ist im Bollerwagen immer mit dabei! Glas Wein mit Gattin, man kann auch mal im Wachkoma einen draufmachen! Sohn gratuliert brieflich, da Telefon im Gefängnis defekt. Senile Schwester kabelt: „Dieses blöde 64!“

Krimi bekommen, weggeschmissen, glücklich.

Carlo Schäfer