Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Burghard Schlicht, Textauszug „Im Augenblick der Freiheit“

Film und andere Leidenschaften

Eine Tochter will wissen, was ihre Mutter im Nachklang der Achtundsechziger-Bewegung gemacht hat, als vom „Augenblick der Freiheit“ noch etwas zu spüren war. Sie lebte damals in der Filmszene Münchens – und nein, dies ist KEIN Fassbilder-Roman. Ihre wichtigste Informationsquelle ist Gottfried, ein Chronist der Szene, der damals unsterblich in in ihre Mutter verliebt war und ihr Zugang verschafft in eine Welt voller Hoffnungen und voller Abenteuer, aber auch der Eitelkeiten und Wichtigtuereien, oft mit dem überheblichen Anspruch, die Welt grundsätzlich neu zu erfinden.

Eine Besprechung folgt in unserer nächsten Ausgabe. Im „Kulturcafé“ von HR 2 gab es ein ausführliches Gespräch mit Burghard Schlicht. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag hier schon einmal ein Textauszug aus:
Burghard Schlicht: Im Augenblick der Freiheit. Ein Roman wie ein Film. Verlag Olga Grueber, Frankfurt 2020. 528 Seiten, 26 Euro.Die Internetseite des Autors hier.

Ein weißer Cadillac 

Schnelle Aufblende aus dem Schwarz – außen Tag, steil von oben gesehen (Flugaufnahme) blicken wir auf eine sonnenbeschienene Stadtlandschaft. Ein großes weißes Cabriolet fährt über eine Allee in die Landeshauptstadt hinein, in gleichmäßigem Rhythmus wird der Wagen durch die grünen Alleebäume verdeckt. Es ist Freitag, der 19. Juni 1970, dieser legendäre Freitag, an dem Gottfried den Großen Kantlehner und späterhin auch Sonny und Jenny kennenlernen wird. 

Wir sehen einen jungen Mann dort am Steuer dieses Cabriolets, dreiundzwanzig Jahre alt ist er, hat aus existentieller Verlegenheit angefangen, Augenheilkunde zu studieren, obwohl seine Träume nur von Filmen handeln. Heute heißt der Film Schmutzige Stadt, und Gottfried ist unendlich glücklich, so was wie einen Kabelträgerjob bei dieser Produktion gefunden zu haben. 

Es ist sein erster Tag beim Film, und gleich am ersten Tag fährt er in diesem riesigen weißen Cadillac-Cabriolet, das er vom Drehort in die sogenannte Filmfabrik überführen solldem Sitz der legendären Provo-Film, jener sagenhaften Filmkommune, die immer wieder die Zeilenschinder der Klatschpresse wie auch die Feingeister des Feuilletons erregt. 

Alles ist in der Tat wie ein Film: Wir erleben einen filmischen Morgen, blauen Filmhimmel, goldene Sonne in Cinemascope und Technicolor leicht unscharf überstrahlt, leuchtender Frühsommer blau abgefiltert, und Gottfried fährt, nein, segelt dahin durch diesen Tunnel der Alleebäume. Seine damals noch langen Haare flattern im Fahrtwind. Ihm kommt es so vor, als säumten nun dunkelgrüne, im Wind sich biegende Dattelpalmen diese Allee. So schön warm und hell, so voller Glücksversprechen ist die Welt einstweilen noch. Hollywood ist neuntau- sendsechshundertfünfzig Kilometer entfernt, und doch rollen türkisblaue, schaumgekrönte Wellen von Malibu Beach quer über die atlantisch-pazifischen Ozeane hinweg und branden gegen die Bordsteine der gewundenen heimatlichen Lindwurmstraße. 

Jung ist er, dieser Student der Augenheilkunde, noch ohne Glatze, ohne schlaff herunterhängende Hamsterbacken. Dazwischen die ausgewachsene Habichtsnase, noch kein sperriger Gesichtshaken, eher Kennzeichen eines Charakterkopfs. Sogar sein Führerschein sieht frisch gebügelt aus, so nagelneu, dass Gottfried den ungewohnten Schlitten nur ruckartig um die Straßenecken der der Stadt bugsiert. 

In seinen dunkelgrünen Augengläsern jedoch spiegeln sich bereits – das Schicksal vorwegnehmend – Actionszenen voller Melancholie und die sich abzeichnende Verzweiflung der Zeit. Schmutzige Stadt heißt der traurigste Film, den der Große Kantlehner sich bisher ausgedacht hat – eine Geschichte voller Sehn- sucht, voller Aussichtslosigkeit, Szenen aus einer geschlossenen Gesellschaft. Auftritte von deprimierten Gangstern in frisch gebügelten weißen Anzügen werden wir sehen, Borsalinos tief in die Stirn gedrückt, die Lippen in maskenartigen Gesichtern schmal zusammengepresst, die Smith & Wesson demonstrativ im Anschlag – und immer kurz vor einem läppischen, total sinnlosen Tod. 

Ist denn die Welt heute immer noch aus reiner Zukunft gemacht? Zukunft aus zukünftigen Mondlandungen, zu- künftigem Gleichgewicht des Schreckens, zukünftigen Ster- nenfahrten, zukünftigen Atomexplosionen, zukünftigen Hochkonjunkturen – auch wenn dieser Traum-Cadillac mittlerweile überwiegend von Mördern gesteuert wird. Nur im Film natürlich. Aber die Welt ist Film. Und Film ist keineswegs Illusion, Film ist gesteigerte Wirklichkeit. Nicht rosig geschönt, sondern bitter gezeichnet wie die schreckliche Wahrheit von Schmutzige Stadt – so abscheulich, wie nur der Große Kantlehner sie sehen kann. 

Denn, so argumentieren Gottfrieds DIALEKTISCHE MEISTER, die ihn laufend mit den theoretischen Stützen seines kritischen Denkens versorgen: Der Mensch in der spätkapitalistischen Gesellschaft – kritisch-dialektisch betrachtet – ist nicht mehr als nur Sand im Getriebe der großen globalen Gesellschaftsmaschi- nen, der internationalen Konzerne, der weltweiten Atomwaffenarsenale. Nehmen wir dieses Filmauto als Beispiel: Unter einem phänomenologischen Gesichtspunkt betrachtet, scheint dieser Cadillac auf den ersten Blick gut in Schuss zu sein. 

In Wahrheit jedoch leidet diese Karre bereits unterm Einfluss der ständig sinkenden Profitrate, steht kurz vorm Zusammenbruch: dem Zusammenbruch des Imperialismus natürlich. Überall Rost. Profile plattgefahren. Auspuff löchrig, das Faltdach funktionsunfähig, Sitze klatschnass, Zahnkränze ohne Zähne: ein Einerlei aus Schrott. Schrott? Jawohl! Vietnam ist überall. Der Rost sitzt tief, wie der Vietcong frisst er sich durch die Kotflügel, und alles folgt dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Siehe hier. Siehe oben! Siehe unten! Siehe: Kainsmale des Untergangs: Alle Menschen werden Brüder, Brüder wie Kain und Abel – die ersten Brüder der Menschheit. Die Geschichte der Menschheit begann mit einem Brudermord. So ist es. Und das müssen wir zeigen! 

*

Die Filmfabrik erstreckte sich, bevor sie kurze Zeit später restlos niederbrannte, über ein weitläufiges Hinterhofkarree neben der Lindwurmstraße und war Teil einer ehemaligen Schreibmaschinenfabrik. Später, nach dem Niedergang der Schreibmaschinenproduktion, hat die mysteriöse Mäzenin diese Fabrik in einen coolen Loft umbauen lassen. Die Mäzenin, deren Name für alle Zeiten ein Geheimnis bleiben wird, hatte die Idee, eine Art Gewächshaus zu errichten, in dem Künstler aufgezogen und gepflegt werden und Früchte bringen sollten. Ursprünglich war es für Maler und Bildhauer gedacht, stand allerdings aus Man- gel an geeigneten Künstlern lange Zeit leer. 

Dann, über Nacht, besetzte die Filmkommune – von der Mäzenin nicht nur geduldet, sondern regelrecht dazu animiert – das Gelände. Die Boulevardpresse schrie auf, ein Blatt verstieg sich sogar, die Provo-Film als anarchistische »Räuberbande« zu bezeichnen. Aber genau das war ja geplant. 

Über den Großen Kantlehner ist viel gesagt, geschrieben, interpretiert und kritisiert worden, oft waren es Schönfärbereien, durchaus gepaart mit Bösartigkeiten. Seine Feinde – und davon gab es anfänglich mehr als Freunde – meinten, er brauche dringend ein Deodorant, andere dachten, seine Filme könnten mehr Handlung vertragen. Was ihm fehlte, glaubten wiederum andere, sei der revolutionäre Schwung, da sei zu viel kleinbürgerliche Sehnsucht, rein persönlich empfundenes Unglück. Andere dagegen versicherten, er sei ein Berserker, berühmt für seine produktive Schlaflosigkeit. Seine Verehrer − und die wurden rasch immer mehr − hielten ihn für einen großen Künstler, für einen unersättlichen Macher, ja, sogar für ein Genie. 

Genau deswegen war Gottfried darauf aus, eine Sondernummer von KINO, einem von ihm selbst gegründeten radikalkritischen Filmmagazin, über Hans-Peter Kantlehner herauszubringen. Denn die Reaktionäre von der Boulevardpresse zogen über dessen picklige Haut her, konnten aber trotz allem nicht verhindern, dass Kantlehner im Begriff war, wie ein Komet aufzusteigen, um die alten Säcke von »Opas Kino« in die Schranken zu weisen. 

Gehemmt, sogar verklemmt und schüchtern sollte er angeblich wirken, hatte Gottfried gehört, aber das täuschte wohl. Noch kannten ihn nur die Eingeweihten, aber da lag etwas in der Luft, ein Gerücht, Geflüster, Geraune, Gewisper, und das klang wie: MEISTERREGISSEUR! Das war es, worauf Gottfried hinauswollte, denn er wusste wohl: Große Kritiker wachsen nur mit großen Künstlern, über die sie schreiben. 

»Jedenfalls hat mich das an Hans-Peter Kantlehner immer wieder so berührt: Er konnte fast nichts, als er anfing. Doch er hatte einen Sinn für Poesie, hatte seine Verzweiflung und seine große Liebe zum Melodram. Wir haben uns damals in diesen ersten Tagen unserer Karriere doch nur getröstet über unsere eigenen inneren Verluste, unsere Verzweiflung und die Schönheit der verlorenen Paradiese. Er hatte ja nichts weiter als seine Filme, das war alles, was er hatte, und immer den Tod vor Augen.« 

Jetzt, am späten Vormittag, liegt die Filmfabrik verlassen in dem sonnenbeschienenen Häuserkarree. Der Ruhm der Film- kommune ist in dieser stillen Frühsommeridylle keineswegs zu spüren, und erst recht ahnt man nicht ihr fatales Ende, das doch schon so kurz bevorsteht. Ruckelnd quetscht Gottfried den breitärschigen Cadillac durch die Einfahrt zum Hinterhof und stellt ihn vor dem Tor der Fabrik ab. Nichts regt sich. Ein paar Spatzen streiten sich tschilpend um den besten Waschplatz in einer Pfütze vor dem Tor der Fabrik, deren Mauern teilweise mit Efeu berankt sind. Gottfried schaut auf das L-förmige Fabrikgebäude, auf die vereinzelten Holunderbäume, die ihre Äste mit schütterem Grün in den Hinterhofhimmel recken. 

Seit er »beim Film« arbeitet – und das ist exakt seit drei Stunden −, hat Gottfried es sich angewöhnt, in Kameraeinstellungen zu blicken. So tastet seine Kopfkamera mit einem fast schwebenden Links-rechts-Schwenk das Gelände behut- sam ab, Einstellungsgröße halbtotal. Anschließend schneidet er mit verschiedenen halbnahen Einstellungen Impressionen des Fabrikgebäudes zu einer ruhig fließenden Montage zusammen: die großzügig gestalteten, in weiße Gitterrahmen aufgeteilten Industriefenster; die chamois gehaltenen Klinker-steine der Fassade überblendet er nacheinander auf seinem inneren Schneidetisch, zögert jedoch, die Filmfabrik zu betreten und gewissermaßen mit einer entschiedenen Schienenfahrt durch das offen stehende Tor ins Innere der Fabrik zu zoomen. Schwellenangst nagelt ihn dicht neben dem Kotflügel des Cadillacs fest. Darf man denn das Heiligtum so ohne weiteres betreten? 

Gitarrenmusik blendet sich in die Stille und saugt Gottfried hinein in die Filmfabrik. Staunend steht er nun dort – in der ehemaligen Montagehalle der längst untergegangenen Schreibmaschinenfabrik. Oben im ersten Stock verläuft ringsum eine Galerie, von der aus man in die einzelnen Zimmer – die ehema- ligen Werkstätten und Büros – gehen konnte, die mit Glaswänden von der Halle abgetrennt sind. Norwegian Wood, summt Gottfried, das kurze Lied scheint kein Ende zu nehmen, und jetzt sieht er auch, woher der Klang kommt: Eine Jukebox steht gleich neben der offenen Stahltreppe, die hoch zur Galerie führt, eine Rock-Ola-Tempo ist es, in der sich eine kleine schwarze Scheibe mitten in einem glänzenden, von innen und außen pink und türkis beleuchteten Gehäuse aus Plastik, Glas und Chrom dreht. 

In einem der gläsernen Räume schleicht schattenhaft ein laut telefonierender Mann – das lange Kabel hinter sich herziehend – zur Schiebetür seines Büros und schiebt sie mit lautem Knall zu. Gottfried kennt den jungen Mann: Es ist Marcello, Mit-Kommunarde aus der NordbadkommuneMitarbeiter der Provo-Film. Mit seinen straff zurückgekämmten Haaren ist er einer der wenigen, der keine langen Haare trägt. Ein Beau ist er, man könnte ihn für einen Süditaliener halten, der für Rasierwasser Reklame macht. Marcello, der bei Kantlehner im Augen- blick einen Stein im Brett hat. Gerade vor kurzem allerdings hat ihm sein Spiel in Der Hass auf dies’ grausame Leben verheerende Kritiken gebracht. Politisch kein K-Gruppen-Typ, eher Anarchist. »Ich bin Sponti«, sagt er, und damit scheinen für ihn all die zerschmissenen Gläser, zertrümmerten Stühle und zerbrochenen Fensterscheiben, die links und rechts seines Lebenswegs liegen, hinreichend erklärt zu sein. 

Gottfrieds Kopfkamera schwenkt die große Halle der Filmfabrik ab. Rechter Hand öffnet sie sich zu einem noch größeren Raum. Der verchromte Tresen einer Bar glitzert hinten in einer Ecke, umgekippte Flaschen und Zigarettenkippen liegen darauf inmitten von Lachen aus Rotwein und eingetrocknetem Bierschaum, ein blinkender Flipperautomat, ein falscher Marmorsockel aus Styropor, auf dem eine in leuchtenden Farben angemalte Gipsmadonna mit Jesuskind steht, das mit seinem glatten Rundgesicht wie eine Werbung für Babynahrung aussieht. 

In einem Winkel des hinteren Teils der Halle entdeckt Gottfried schräg hingestreckt ein übermannsgroßes Kruzifix, die Dornenkrone des Schmerzensmanns ist schief in die Stirn gerutscht. Blutige Striemen hat sie auf der bleichen Stirn hinterlassen. Irgendein ungläubiger Spaßvogel hat übertrieben viel Filmblut über den Heilandskörper gegossen – heidnisches Massaker am göttlichen Holz. 

Gottfried schaudert, und gleichzeitig fühlt er Stolz und Begeisterung, für die Provo-Film arbeiten zu dürfen. Wo hat es das sonst in der Filmgeschichte gegeben? Ein revolutionäres Kollektiv, das Filme macht? Wie ein Komet sind sie – allen stürmisch voran Kantlehner, natürlich leider immer wieder diese Führerfigur, das lässt sich nicht leugnen – in den letzten zwei Jahren aufgestiegen, haben sie für Furore, Irritation und Verwirrung gesorgt. Wurden ausgebuht, angespuckt und ausgelacht, aber ihr Erfolg war nicht aufzuhalten, sie haben Preise gewonnen, und ihre Filmpremieren waren ausverkauft. 

Allein schon das Tempo ihrer Filmproduktionen begeisterte das Publikum, als handele es sich um eine neue olympische Sportart: die Disziplin des Schnellfilmdrehens, Siebene auf einen Streich, was hier bedeutete: sieben Spielfilme in nur einem Jahr! 

TEMPO, TEMPO, TEMPO: Es ist eine neue Art, Filme zu machen, spontan aus dem Bauch heraus, nicht im Studio, sondern auf der Straße wird gespielt und gedreht, eine neue Art, die Welt zu sehen – und immer wieder dieses Marktwort: NEU, NEU, NEU. Das alles wird gefeiert – Neuer Film, Neue Bilder, Neuer Stil, Neue Gesichter, Neue Stars. Der große, absolut neue Kantlehner zaubert sie aus seinem Neuen Zylinder, er liest sie von der Straße auf, aus dem Underground, neue schräge Figuren wie Ramona Weibel, eine ehemalige Sparkassenangestellte, die auf den Strich ging. Groß hat er sie herausgebracht: Anna Lund, Sonja Kowalczyk, Marcello Katz, Carl Maria Geyer, genannt Carlchen, und natürlich unseren Sonny Finn, der irgendwoher aus dem Aus der Vorstädte kam und den man jetzt den Belmondo von Milbertshofen nennt. 

Das alles ist nicht seine Welt, weiß Gottfried von Anfang an. Er gehört nicht dazu. Aber er bewundert ehrlichen Herzens und wider Willen diese fabelhafte Filmwelt. Es wird ihm genügen, als Zeuge alles gesehen zu haben, dabei gewesen zu sein, Bescheid zu wissen und dieses Wissen durch die Jahre hindurch zu tragen, zu behalten und vielleicht später an Ahnungslose und Nachgeborene, weiterzugeben fürs nächste Jahrhundert, fürs nächste Jahrtausend. Wer weiß? 

Tags : ,