Geschrieben am 1. August 2021 von für Crimemag, CrimeMag August 2021

Bodo V. Hechelhammer zu „Die fremde Spionin“

Eine Rezension und „Auf ein paar Worte mit …“ Titus Müller – von Bodo V. Hechelhammer.

Titus Müller, 1977 in Leipzig geboren, studierte Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften und ist seit rund zwanzig Jahren als Autor sehr aktiv. Er hat zahlreiche Sachbücher und Romane veröffentlicht und dafür Preise und Auszeichnungen gewonnen; 2016 den HOMER Literaturpreis als »bester Gesellschaftsroman« für Berlin Feuerland. Besonders zeithistorische Stoffe haben es dem Mitglied im PEN-Club angetan, wie sein jüngstes Werk zeigt, welches sich mit der deutsch-deutschen Thematik im Kalten Krieg beschäftigt. Es ist ein Spionageroman: Die fremde Spionin.

Wir befinden uns im Jahr 1961 und der Kalte Krieg nähert sich mit schnellen Schritten einem seiner ersten einschneidenden Höhepunkte: dem Mauerbau am 13. August. Doch von dieser geheimen Operation, der die Sektorengrenzen zur DDR schließen und damit das bevölkerungstechnische Ausbluten des Arbeiter- und Bauernstaates verhindern sollte, wusste die Öffentlichkeit nichts. Und die Geheimdienste konnten nur ahnen. Der Kalte Krieg war die heiße Zeit der Spionage und das geteilte Berlin galt als der Tummelplatz der Spione. Die fremde Spionin, die Protagonistin der Geschichte, ist die Ostdeutsche Rita Nachtmann. Die knapp Zwanzigjährige führt ein scheinbar politisch angepasstes Leben in Ostberlin und fängt im DDR-Ministerium für Außenhandel als Sekretärin an zu arbeiten. Eine große berufliche Chance, gerade für sie, denn ihr Vater, ein früherer Minister, war zehn Jahre zuvor politisch in Ungnade gefallen, von der Stasi verhaftet und ihre Familie auseinandergerissen worden. Rita sucht seit dieser Zeit verzweifelt nach ihrer Schwester, war sie selbst doch in einer systemtreuen Pflegefamilie untergebracht und umerzogen worden. 

„Das Ministerium war der logische Schlusspunkt der Geraden, auf die Brigitte und Gerd sie gesetzt hatten. Nach Schule und Ausbildung folgte »Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden«, und es war eine Ehre, dass sie ihn im Ministerium für Außenhandel antreten durfte.“ (Seite 36)

Nach außen erscheint sie politisch linientreu zu sein, doch in ihrem Inneren wächst der Widerstand. Sie durchlebt Rachefantasien, würde am liebsten im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ein Blutbad anrichten. Diese Konstellation, ein emotional durchtränktes persönliches Motiv, ist ein wunderbarer Ansatzpunkt, um jemanden zur Spionage zu verleiten. Und so dauert es auch in Titus Müllers Roman nicht lange, bis der bundesdeutsche Auslandsgeheimdienst, der Bundesnachrichtendienst (BND) auf die Sekretärin im Machtbereich von Alexander Schalck(-Golodkowski) aufmerksam wird und sie für eine Mitarbeit gewinnen kann. Rita agiert naiv und blauäugig, erhofft sich durch ihrer Spionagetätigkeit Hilfe bei der Suche nach ihrer Schwester. Sie wird von Stefan Hähner, ihrem Verbindungsführer, geschickt geführt. Aber auch die Spionageabwehr schläft nicht. Die junge Sekretärin gerät in die Optik von Stasi und KGB, dessen Mitarbeiter Fjodor Sorokin aktiv wird. Dieser ist ein erfahrener Spezialist, der auch vor »nassen Sachen« in der Vergangenheit nicht zurückschreckte. Doch auch die Tektonik seiner inneren Überzeugung hat inzwischen Risse bekommen, denn er würde sich am liebsten aus dem Spionagegeschäft zurückziehen. Es entwickelt sich ein Katz-und-Maus-Spiel der Geheimdienste, bei dem anhand der Protagonisten auch die Frage der Moral, was geheimdienstliche Arbeit im Auftrag der Politik kann und darf, ausgelotet werden.

Titus Müller hat für seinen angenehm lesbaren Roman gut recherchiert und verwendet entsprechende Details und Fachtermini, auch wenn diese an einigen Stellen unscharf und mitunter zu zahlreich Verwendung finden. Doch anhand der historischen Fakten, Personen- und Ortsbeschreibungen erkennt man leicht, dass er aktuelle Fachliteratur herangezogen hat und für seine Geschichte lebendig zu nutzen weiß. So beschreibt er beispielsweise das Haus des BND-Präsidenten in der Pullacher Zentrale treffend: 

„Vor dem »Weißen Haus« hielt das Auto, und er stieg aus. Der steinerne Adler über dem Haupteingang trug kein Hakenkreuz mehr in seinen Klauen, aber man sah dem Gelände noch an, dass es einst die Reichssiedlung Rudolf Hess gewesen war, benannt nach dem »Stellvertreter des Führers«, ein rechteckiges Ensemble von dreißig Ein- und Zweifamilienhäusern, alles exakt ausgemessen und in symmetrischer Anordnung um einen begrünten Rechteckplatz platziert, am Kopfende die frühere Villa von Martin Bormann.“ (Seite 42 f.)

Der stimmige historische Hintergrund, das Ausmalen von Lokalkolorit, wird gekonnt eingesetzt, um authentisch Spannung aufzubauen und die fiktive Geschichte voranzutreiben. Hierbei gelingt es Müller geschickt, fiktive und historische Figuren und Ereignisse in Szene zu setzen und miteinander zu verknüpfen. Neben Walter Ulbricht, Erich Honecker und Alexander Schalck-Golodkowski treten auch John F. Kennedy und Reinhard Gehlen in Erscheinung und lassen die persönlichen Geschichten insgesamt in einem globalen Kontext glaubwürdig erscheinen. Die einzelnen Charaktere sind gut herausgearbeitet und durchaus facettenreich beschrieben, wodurch dem Leser Reibungsflächen angeboten werden; er Sympathien und Antipathien entwickeln kann.

„Sie hörte Schritte, und Schalck trat vor sie. Einen Meter neunzig groß und breit gebaut, rundes, glattes Gesicht, im dunklen Anzug und weißen Hemd. Eine Energie ging von ihm aus, die sie verblüffte. Waren es seine federnden Schritte? Die leuchtenden Augen? Der Schwung, mit dem er ihr die Hand reichte, während er seinen Namen nannte? Man sah, dass er gern lebte. Gleichzeitig wirkte er getrieben, wie ein Erfinder oder ein Seefahrer: getrieben von einer brennenden Neugier.“ (Seite 50)

Aber auch die ausgedachten Figuren sind nicht vollkommen frei aus der Luft gegriffen, sondern verweisen auf historische Vorbilder; so lehnt sich Ritas Vater an den ersten DDR-Außenminister Georg Dertinger an, der 1953 von der Stasi verhaftet und gefoltert worden war. Und der KGB-Killer Sorokin rekurriert auf Bogdan Nikolajewitsch Staschinski, den Auftragsmörder des ukrainischen Exilpolitikers Stepan Bandera. Diesem gelang die Flucht in den Westen, wenige Stunden vor Schließung der Sektorengrenze. Durch Perspektivwechsel kann der Leser in die einzelnen Charaktere eintauchen. Müller lässt den Leser an deren Gefühlsleben teilhaben. Doch es sind zerrissene Persönlichkeiten und es scheint, dass alle, die in die Welt der Geheimdienste eintauchen, am Ende charakterlich verwaschen. Allein bei der Hauptakteurin hätte ihre Gedankenwelt und ihr Gefühlskosmos, der innere Widerspruch im eignen Handeln, die Ambivalenz des Lebens durchaus noch stärker herausgearbeitet werden können. 

Erscheint Mai 2022

Obgleich der historische Rahmen vorgeben, ist durch zahlreiche unerwartete Wendungen die Handlung nicht vorhersehbar. So baut sich kontinuierlich der Spannungsbogen weiter auf, was bei einem Spionageroman ja nur von Vorteil sein kann. Und das Ende ist nicht grundlos ein Cliffhanger. Denn Die fremde Spionin ist nur der erste Band einer ganzen Trilogie, indem jeweils ein spezielles Jahr im Fokus der Geschichte stehen wird. Bereits für 2022 ist Das zweite Geheimnis angekündigt, welches sich um das Jahr 1973 dreht. In diesem Jahr wurde der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR ratifiziert. Und im Bonner Bundeskanzleramt wirkte ein DDR-Spion, der bald den Bundeskanzler zu Fall bringen sollte. Der letzte Auftrag, über 1989, dem Jahr des Mauerfalls, soll 2023 erscheinen. Drei Bücher, über drei Jahrzehnte deutsch-deutsche Spionagegeschichte. Der Aufschlag ist gemacht.

Bodo V. Hechelhammer

Titus Müller: Die fremde Spionin, Heyne Verlag, München 2021. 401 Seiten, 16 Euro.

Empfohlene Zitierweise:
Bodo V. Hechelhammer: Die fremde Spionin, in: 
CulturMag/CrimeMag 8 (2021), 1.8.2021. 
Online-Ausgabe: http://www.culturmag.de/category/crimemag.

Titus Müller © Sandra Frick

Auf ein paar Worte mit … Titus Müller

Am 20. und 21. Juli. 2021 wurde – in Ergänzung zu übermittelten Presseinformationen ­– mit Titus Müller über seinen neusten Roman gesprochen.

Bodo V. Hechelhammer: Gab es einen konkreten Anlass, ein Ereignis, ein Buch oder Film, vielleicht sogar eine persönliche Begegnung, was Sie dazu gebracht hat, sich näher mit dem Thema der deutsch-deutschen Spionage zu beschäftigen?

Titus Müller: In meinem Roman Nachtauge habe ich von einer deutschen Spionin in England während des Zweiten Weltkriegs erzählt, Der Tag X lehnte sich an die Geschichte des KGB-Agenten Nikolai Chochlow und seinen Auftrag in Deutschland an. Geflirtet habe ich mit dem Thema also schon eine Weile. Diesmal aber geht es mir persönlich nahe, weil ich in Ostberlin aufgewachsen bin und die Mauer und auch den Mauerfall miterlebt habe. Mein Vater ist Pastor, wir hatten Stasi-Besuch zu Hause. Pakete, die uns aus dem Westen erreichten, waren aufgerissen und durchsucht worden, und in der Schule wurde mein Schulranzen nach kleinen Zetteln mit Botschaften gefilzt, die ich mit meinem Klassenkameraden ausgetauscht hatte. Dass es in der DDR Menschen gab, die ihr Leben riskiert haben, um für den BND zu spionieren, hat mich neugierig gemacht. Vor allem, dass darunter etliche junge Frauen waren. Alles aufs Spiel zu setzen, wenn man noch jung ist und Pläne schmiedet für die Zukunft, finde ich beachtlich.

In Ihrem neuen Roman tauchen Sie tief ein ins Geheimdienst-Milieu. Was ist der besondere Reiz einen Spionage-Roman zu schreiben?

Mich interessiert der Alltag der kleinen Leute, aber eben auch das Leben von denen, die am großen Rad gedreht haben. Wenn ich Aktionen des BND, des KGB und der Staatssicherheit schildre, kann ich auch historische Persönlichkeiten wie Erich Honecker, Alexander Schalck-Golodkowski und Reinhard Gehlen lebendig werden lassen. Die Spionagehandlung bietet mir die Möglichkeit, im Roman nah an die Mächtigen der damaligen Zeit heranzukommen und das Geschehen dort zu schildern, wo die Entscheidungen getroffen wurden. Selbst für den KGB-Killer in Die fremde Spionin gibt es übrigens ein historisches Vorbild, Bogdan Staschinski, seine Auftragsmorde und Mordmethoden sind verbürgt. Ebenso wie die Mittel und Tricks des BND und der Stasi. Geheimdienste täuschen und hintergehen. Wer andere täuschen will, muss die Menschen gut kennen, und was gibt es Faszinierendes als uns Menschen? Natürlich begeistern mich auch die technischen Mittel, die in der Spionage und in der Spionageabwehr eingesetzt wurden. 

Wie haben Sie sich als Autor dem Thema der Spionage genähert, welches doch nach wie vor vielfach intransparent und von zahlreichen Spionagemythen durchzogen ist?

Ich lese alles, was ich dazu in die Finger bekomme. Bei Sammlern wie Heinrich Peyers habe ich mir Original-Gegenstände angesehen. Wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich nach, wie etwa beim Bundesamt für Verfassungsschutz.

Haben sie neben der Literaturrecherche auch Originalquellen des MfS und des BND nutzen können, mit Zeitzeugen gesprochen oder die Normannenstraße, Karlshorst oder gar Pullach einmal aufgesucht?

Beschämenderweise – nein. Eine Lücke, die ich rasch schließen möchte.

Wie wichtig ist für Ihrer Romanheldin der moralische Kompass und kann man diesem überhaupt – Ihrer Meinung nach – im Spionagegeschäft folgen?

Ich bin davon überzeugt, dass gute Geheimdienstarbeit den Zweiten Weltkrieg deutlich verkürzt hat und damit Zigtausende Leben rettete. Andererseits machen mir Geheimdienste, die im Graubereich operieren, Angst. Es gehört zum Spionagegeschäft, dass man täuscht und hintergeht, um ein vermeintlich höheres Ziel zu erreichen. Ich kann nur hoffen, dass dabei so oft wie möglich der moralische Kompass hervorgezogen und überprüft wird, ob man noch in die richtige Richtung geht. Dabei werden Fehler passieren, und manches wird zu bereuen sein, aber nichts zu tun, kann mitunter ein genauso schwerwiegender Fehler sein. Insofern bin ich ein vorsichtiger Befürworter von Geheimdienstarbeit. Ria wird im Roman als moralisch empfunden, aber was ist zum Beispiel mit Sorokin? Interessanterweise sagen mir viele Leser, dass sie mit ihm trotz seines teils unmoralischen Handelns stärker mitgefiebert haben als mit ihr. Er hat einen weiteren Weg zu gehen, muss mehr dazulernen. Das begleiten wir als Leser gern.

Wie Ihre Protagonistin Rita Nachtmann sind auch Sie selbst in der DDR geboren und in Ostberlin aufgewachsen. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem politischen System gemacht?

Obwohl ich ein guter Schüler war, war ich als Pastorensohn unserer Klassenlehrerin suspekt. Morgens war oft eine Diskussion über Politisches angesetzt. Meldete ich mich, sah sie durch mich hindurch, als wäre ich nicht da. Wir hatten auch Besuch von der Staatsicherheit zu Hause. Mein Freund Mathias, der Pionierleiter war, musste einmal meinen Schulranzen durchsuchen, er kam mit zwei starken Jungs, als fürchtete er, ich könnte mich wehren, und entschuldigte sich mit ernstem Gesicht, bevor er zur Tat schritt. Wir waren danach weiter befreundet; ich wusste ja, et tat nur, was von ihm erwartet wurde. Aber wir sprachen nie darüber. Ich hatte eine glückliche Kindheit in der DDR. Mir wären aber als Pastorensohn, der weder bei den Thälmannpionieren noch bei der Freien Deutschen Jugend mitgemacht hat, kein Abitur und kein Studium möglich gewesen. Und ich hätte in der DDR sicher keine Bücher veröffentlichen können. Ich wäre Bäcker geworden, das war der Plan. 

Geplant für Mai 2023

Nun haben sie viele Bücher schon geschrieben. Die fremde Spionin ist sogar der erste Teil einer Trilogie über drei Jahrzehnte. Können Sie vielleicht schon einmal grob skizzieren, was die Leser in den beiden Fortsetzungen erwarten wird.

Im zweiten Band erzähle ich von einem spektakulären Gefängnisausbruch. Und von der Guillaume-Affäre: ein Stasi-Auslandsagent als persönlicher Referent von Bundeskanzler Willy Brandt. Im dritten Band wird es um die Wahlfälschung in der DDR gehen und um den Fall der Mauer.

Vielen Dank!

Empfohlene Zitierweise:
Bodo V. Hechelhammer: Auf ein paar Worte mit … Titus Müller, in: 
CulturMag/CrimeMag 8 (2021), 1.8.2021. 
Online-Ausgabe: http://www.culturmag.de/category/crimemag.

Bodo V. Hechelhammers Buch „Spion ohne Grenzen. Heinz Felfe – Agent in sieben Geheimdiensten“ von Alf Mayer hier besprochen. Seine Texte bei uns hier. Unter anderem ein großes Interview mit Oliver Kalkofe: SchleFaZ bedeutet Liebe und eines mit Oliver Hilmes zu dessen Buch „Das Verschwinden des Dr. Mühe. Zuletzt war er für uns auf den Spuren von … „Serenade für zwei Spione“ (1965) …