Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Bloody Chops September 2021

Kurzbesprechungen von fiction – Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Klaus Kamberger (KK), Markus Pohlmeyer (MP) und Frank Rumpel (rum) über:

Baoshu: Botschafter der Sterne
Max Bronski: Halder
Ken Bruen: Saubermann
Octavia Butler: Wilde Saat
Lee Child: Der Spezialist
Christian von Ditfurth: Endzeit
Stephen King: Billy Summers
Una Mannion: Licht zwischen den Bäumen
John Marrs: The Passengers
Chris Offutt: Unbarmherziges Land
James Sallis: Sarah Jane
Tade Thompson: Wild Card

Der Auftakt einer großen Serie

(JF) Sie sind korrupt, notgeil und gewaltbereit. Und die Rede ist von den Guten. Wenn der Ladenbesitzer mit pakistanischen Wurzeln keine Nazi-Angriffe zu fürchten hat, liegt das vielleicht auch an den Pfundnoten, die er Detective Sergeant Brant regelmäßig zusteckt. Tom Brant, der ‚Pitbull‘, ist der Schlimmste im Revier, aber sein Boss, Chief Inspector Roberts, kommt ihm recht nahe. Ausgedacht hat sich dieses ordnungshütende Traumteam der irische Autor Ken Bruen, bei uns vor allem bekannt durch seine sarkastische Reihe um den alkoholaffinen Ex-Polizisten Jack Taylor, der sich in Galway als Privatdetektiv durchschlägt. Sieben Bände sind zwischen 1998 und 2007 erschienen, drei davon hat der rührige Polar Verlag vor einigen Jahren ins Deutsche übersetzen lassen. Und nun folgt mit Saubermann der Auftakt der Serie, welcher wiederum den ersten Teil der so genannten „White-Trilogie bildet. „White“ deshalb, weil es Brant und Roberts immer wieder um den „White Arrest“, die „Saubermann-Verhaftung“, geht, einen polizeilichen Coup, der alles Versagen und Fehlverhalten der Vergangenheit auslöscht. Diesen Begriff, der angeblich auf den ‚Vater der englischen Polizei‘, Sir Robert Peel (1788-1850) zurückgeht, hat der Autor natürlich erfunden.

Bruens dysfunktionales Ermittlerensemble, das es in „Saubermann“ gleich mit mehreren psychopathischen Killern zu tun bekommt, gehört in eine literarische Reihe, deren Anfänge vor allem im 87. Polizeirevier liegen, Schauplatz von über fünfzig Romanen, die der amerikanische Autor Salvatore Lombini zwischen 1956 und 2005 unter dem Pseudonym Ed McBain veröffentlichte. (Allerhand Wissenswertes zu dieser Tradition lässt sich Alf Mayers kundigem Nachwort entnehmen.) Brant ist bekennender McBain-Fan, während sein Chef den klassischen Film noir bevorzugt. Traditionsbewusst sind jedenfalls beide, so dass die Möglichkeiten für entsprechende Anspielungen nahezu unerschöpflich sind. „Saubermann“ ist also nicht nur ein großartiger Spannungsroman, sondern auch ein literarisches Spektakel der besonderen Art. Sprachlich ist Prosa dieses Kalibers eine ziemliche Herausforderung, der sich die Übersetzerin Karen Witthuhn wacker gestellt hat. Nun sollten die nächsten beiden Bände rasch folgen, denn das Ende von „Saubermann“ lässt manche Frage offen. – Siehe auch Joachim Feldmanns Text zum Erscheinen von „Brant“: „McBain passt immer“ im CrimeMag Juni 2017, sowie das Interview mit Ken Bruen von Alf Mayer in dieser Ausgabe hier nebenan – d. Red.

Ken Bruen: Saubermann (A White Arrest, 1998). Aus dem Englischen von Karen Witthuhn. Polar Verlag, Stuttgart 2021. 224 Seiten, 14 Euro.

Höllentrip in Westafrika

(hpe) Vor fünfzehn Jahren hat Weston Kogi seine westafrikanische Heimat verlassen. In London arbeitet er als Wachmann in einem Supermarkt. Zur Beerdigung seiner Lieblingstante, die ihn aufgezogen hat, kehrt er erstmals zurück nach Alcacia. Weil er da großmäulig behauptet, er sei Detektiv bei der Polizei in London, gerät er zwischen die Fronten zweier rivalisierender Befreiungsbewegungen und gleichzeitig ins Visier staatlicher Organisationen. 

Wild Card war 2015 der erste Roman des englisch-nigerianischen Autors, Tade Thompson, der inzwischen mit einer vielfach ausgezeichneten, als innovativ geltenden Science-fiction-Thriller-Trilogie bekannt geworden ist (der erste Band, »Rosewater«, ist bei Golkonda auf Deutsch erschienen, Band zwei, »Rosewater – Der Aufstand« folgt in diesen Tagen). Nach dem Erfolg dieser sogenannten »Wormwood«-Trilogie ist sein Debüt – Originaltitel: »Making Wolf« – in England neu aufgelegt worden und hat dadurch den Weg in den deutschen Sprachraum gefunden. 

Thompson, der neben dem Scheiben im Süden Englands als Psychiater tätig ist, erzählt in seinem Debütroman eine irrwitzige Geschichte. Dabei spielt er originell mit dem Genre des Detektivromans. Gleichzeitig blickt er auf die Kolonialgeschichte und auf alte Rituale und Bräuche. Und er karikiert mit seinem fiktiven Yoruba-Staat Alcacia mit ätzendem Sarkasmus Bananenrepubliken und ihre Rebellengruppen.

Weston wird durch einen Mitschüler von früher, der damals schon ein Tyrann war und jetzt ein hohes Tier bei der Liberation Front von Alcacia ist gezwungen, sich als fachkundiger Detektiv an die Klärung der Ermordung eines Konsenspolitikers zu machen. Beziehungsweise den Anschlag der gegnerischen People’s Christian Army in die Schuhe zu schieben. Diese schnappt sich ihrerseits Weston, damit er umgekehrt die Liberation Front als Täter entlarve.

Die Ermittlungen werden für den zunächst etwas naiven Helden zu einem Trip durch die Hölle. Mehrmals wird er misshandelt und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Doch er lernt rasch, dass man in dieser ebenso korrupten wie gewalttägigen Gesellschaft ohne mit einem Bündel Dollar zu winken nirgends hinkommt und nichts bekommt. Sogar die Befreiungsfront will sich ihre Revolution zumindest teilweise mit Schmiergeldern erkaufen, erkennt Weston einmal leicht belustigt.

Die wilde Handlung mag nicht immer ganz schlüssig sein, doch die Geschichte zieht uns eine faszinierende Welt, deren extreme Gewalttätigkeit einen immer wieder erschaudern lässt. Das geht auch Weston so, der nur aus diesem Wahnsinn raus und zurück ins vergleichsweise beschauliche London möchte. Jedenfalls bis ihn die Möglichkeiten, die ihm seine alte Heimat bieten kann, doch zu reizen beginnen.

Tade Thompson: Wild Card (Making Wolf, 2015). Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 329 Seiten, 10,95 Euro.

Zu viel geklärt

(MP) Botschafter der Sterne wird als ein Trisolaris-Roman angekündigt. Bei aller Detailfülle fehlt diesem Buch die Größe und Weite eines Cixin Liu. Zu viele Leerstellen oder Ambiguitäten der Original-Trilogie glaubt der Autor Baoshu ausfüllen zu müssen. Es wird geklärt, es wird zugrunde gerichtet. Dadurch verliert das Geheimnisvolle seinen Reiz.

Der Roman strotzt vor mythologischer Belesenheit; das narrative Gerüst erweist sich letztlich als dünn (gleich einem Weihnachtsbaum, der, hat er alle seine Nadeln verloren, unter Flitter versteckt wird): eine Adam- und Eva-Geschichte (super innovativ), ein dualistischer Kampf Gut gegen Böse (super innovativ), die Schachtel in der Schachtel in der Schachtel, wo die Kämpfe weiter gehen (super innovativ). Und der Schluss erzählt, wie es zu Trisolaris kam. Etwas platt, etwas kitschig. Nur wenige Science Fiction-Autoren vermögen die Grenzen des Denkbaren und Phantastischen wirklich zu erweitern, wie Cixin Liu das kann. 

Baoshu: Botschafter der Sterne. Ein Trisolaris-Roman (The Redemption of Time. A Three-Body Problem Novel, 2011). Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Heyne Verlag, München 2021. Klappenbroschur, 400 Seiten, 14,99 Euro.

Nichts mehr wie vorher

(KK) Familienverhältnisse sind per se problembeladen, oder? Die Verhältnisse unter jungen Leuten auch (Geschlecht, Pubertät, Abgrenzung, Reviere). Soweit alles normal. Doch wenn dann in derart „normale“ Welten irgendetwas hineinplatzt, sagen wir: ein erschütterndes Ereignis, stimmt schnell gar nichts mehr. Una Mannion (Pa., irischstämmig) lässt eine 15jährige Irischstämmige aus Pennsylvania erzählen, was sich da so plötzlich tat in einem ganz alltäglichen Leben in den waldigen Outskirts Philadelphias. 

Das Ereignis: Die drei Jahre jüngere Schwester der Erzählerin wird, weil sie ein wenig widerborstig ist und die überforderte Mama ziemlich nervt, von dieser auf der Heimfahrt einfach aus dem Auto gesetzt. Ella weiß zwar, dass sie das nicht tun soll, hält trotzdem ein fremdes Auto an, steigt ein, wird prompt belästigt, springt aus dem fahrenden Wagen, holt sich ein paar böse Schrammen, findet aber endlich doch durch den Wald nach Hause. Das kann auf keinen Fall, beschließen die empörten Geschwister, ungesühnt bleiben. Nur: Die Mama darf von alldem nichts erfahren. Der Täter wird dann auch gefunden, und ein Freund „mischt ihn auf“.

Alles erledigt? Mitnichten. Neben der Angst, mit einem Gegen-Rachefeldzug könnte alles noch eskalieren, sickert allen Beteiligten, und das ist weit nachhaltiger, ins Bewusstsein, dass sie allesamt tun können, was sie wollen – nichts ist mehr so, wie es war, und nichts war vorher so, wie sie geglaubt hatten. Beschützte Kindheit? Gab es nie bei rundum kriselnden Ehen. Frohgemutes Erwachsenwerden? Wo denn und wie denn in dieser Nachbarschaft? Die Gnadenlosigkeit der Normalität schlägt zu. Was helfen da schon Blütenträume?  

Una Mannion: Licht zwischen den Bäumen (A Crooked Tree, 2021). Aus dem Englischen von Tanja Handels. Steidl Verlag, Göttingen 2021. 344 Seiten, 24 Euro.

Wie man eine Geschichte erzählt

(JF) Jetzt fange die „eigentliche Geschichte“ an, meint Sarah Jane. Wir befinden uns im sechsten Kapitel des neuen Romans von James Sallis. Sarah Jane Pullman ist sowohl Titelheldin als auch Erzählerin dieses ungewöhnlichen Buches, das nur sehr bedingt der Kriminalliteratur zuzurechnen ist. Menschen kommen gewaltsam zu Tode oder werden lebensgefährlich verletzt. Es wird ermittelt. Auch von Sarah Jane. Denn sie ist der Sheriff des Städtchens Farr, irgendwo in der amerikanischen Provinz. Die Dienstgeschäfte hat sie übernommen, als ihr Vorgänger Cal Philips verschwand. Nun kümmert sie sich um Verkehrsrowdys und vermisste Jugendliche, sucht aber gleichzeitig weiter nach dem Mann, der sie eingestellt hat, weil er in ihr die geborene Polizistin sah.

Sarah Jane Pullman hat eine bewegt Vergangenheit hinter sich. Mit 16 ist sie von zuhause, einer Hühnerfarm, die ihr Vater mit wachsendem Misserfolg betrieb, weg, kommt in einem Haus für jugendliche Herumtreiber in St. Louis unter, gerät mit dem Gesetz in Konflikt, meldet sich zur Armee, überlebt um Haaresbreite einen Auslandseinsatz, arbeitet als Köchin und heiratet einen gewalttätigen Polizisten, den sie beinahe umbringt. Später lernt sie am College, wie man eine Geschichte erzählt. Und darum geht es in diesem Roman. Wenn Sarah Jane, scheinbar willkürlich und unchronologisch, biografische Episoden aneinanderreiht, wirkt es, als ob das Wesentliche ausgespart werde. Aber es lässt sich denken. Denn hier erzählt jemand um sein Leben und gegen die Vergangenheit, die einen, so will es nicht nur die Fiktion, immer wieder einholt.

James Sallis ist Literaturwissenschaftler und war früher einmal Autor von „richtigen“ Kriminalromanen. In den letzten Jahren hat er sich darauf verlegt, traditionelles Erzählen zu simulieren. Die so erzeugten Leerstellen machen die Lektüre zu einer Herausforderung, die anzunehmen sich unbedingt lohnt. – Siehe auch das Interview von Joachim Feldmann mit James Sallis bei uns: „Unsere Welt ist trostlos„, d. Red.

James Sallis: Sarah Jane (Sarah Jane, 2019). Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger. Liebeskind Verlag, München 2021. 216 Seiten, 20 Euro.

Vom Fluch, ein unsterblicher Gott zu sein

(MP) Wilde Saat von Octavia Butler (hier gelesen ohne den größeren Kontext) läuft ab wie die Unaufhaltsamkeit eines griechisches Dramas. Gleichwohl ein offenes Kunstwerk, irgendwo beginnend, irgendwann endend. Doro, ein Unsterblicher, trifft Anyanwu, eine Gestaltwandlerin. Mehr nicht. Beide umkreisen, umwerben sich; ein ständiger Machtkampf, wer wen beherrsche. Sklaverei als ständiger Sub- und Prätext. Der Unsterbliche möchte eine besondere Art von Menschen mit besonderen Fähigkeiten hervorbringen. Unheimlich, wie Männer und Frauen zu Zuchtobjekten degradiert werden – aus purer Angst vor Doro fügen sie sich. Denn dieser kann einfach so Körper übernehmen. So entsteht eine Parallelsklaverei der Gene. Was ist Identität, was Menschlichkeit, Liebe? Was wird aus einem, der nicht sterben kann? Solche Einsamkeit vermag nur Anyanwu zu durchbrechen.

Im Grunde geht es in diesem Roman immer um das Gleiche, aber immer anders. Von Afrika nach Nordamerika. Durch Äonen hindurch. Menschsein wird fluide. Beeindruckend die Schilderungen und Erlebnisse, wenn Anyanwu sich in Tiere verwandelt. Ständige Metamorphosen. Mann- und Frausein werden fluide: beide Hauptakteure können nach Belieben das andere Geschlecht annehmen. Bleibt die Liebe? Dann Initiationen: der harte Übergang der ‚Zuchtobjekte‘ zu einer besonderen Begabung, die oft wie ein Fluch auf den Betreffenden lastet, wenn nicht kontrollierbar. Doro ist auch nur eine andere Art Sklavenhalter, dessen Macht einzig Anyanwu eindämmen kann. Vieles hier ambig und unerklärt, was das Gespenstische dieses Romans ausmacht, der sich wie eine ständige Flucht inszeniert – vor der Unsterblichkeit: „Begreifst du denn nicht! Er lebt seit mehr als siebenundreißighundert Jahren. Als Christus, der Sohn Gottes, den die meisten Weißen hier in den Kolonien verehren, geboren wurde, war Doro schon unfassbar alt. Jeder andere war für ihn nur wie Rauch, der verweht: Frauen, Kinder, Freunde, ja sogar Stämme und Völker, Götter und Dämonen. Alles und jeder verging und starb – außer ihm.“ Vom Fluch, ein unsterblicher Gott zu sein. Ein Gott, der die Menschheit umbaut.

Octavia Butler: Wilde Saat (Wild Seed, 1980). Aus dem Amerikanischen von Will Platten. Heyne Verlag, München 2021. Broschur, 480 Seiten, 9,99 Euro.


Im Auto

(rum) Eine konzentrierte und brandaktuelle Geschichte erzählt Max Bronski in seinem neuen Kriminalroman, in dessen Zentrum ein Kurt Halder steht, Präsident des Verfassungsschutzes. Beim Lesen schiebt sich da immer wieder das Bild jenes Verfassungsschützers in den Vordergrund, der sich seinerzeit so gern mit AFD-Abgeordneten unterhielt. Bronskis Halder jedenfalls sitzt im Dienstwagen, lässt sich von Köln nach München kutschieren, um dort an einer Soko-Sitzung teilzunehmen. In München wurde ein Polizeiauto angezündet, ein Polizist kam ums Leben. Der beobachtete ein linkes Wohnprojekt und die linke Szene ist es auch, die die Behörden als Täter vermuten. Auch Halder hat da keinerlei Zweifel. Zugleich erledigt er bei dem Ausflug aber noch etwas Persönliches. Er trifft sich mit einer Frau, die er noch aus Schulzeiten kennt und in die seinerzeit alle Jungs verschossen waren. Er aber vermutet, ihr damals auf einer Freizeit näher gekommen zu sein, allerdings so hackedicht, dass er keinerlei Erinnerung mehr hat. Ihn treibt also die Hoffnung, sich endlich Gewissheit verschaffen zu können. Der Jugendliebe indes ist er noch immer nicht gewachsen: „Du hattest früher immer etwas von einem Häschen an dir“, sagt sie. Doch bis er das zu hören bekommt, muss er die Untersuchungen zu dem Brandanschlag koordinieren und gleichzeitig die Vorstöße eines intriganten Kollegen parieren. 

Und währenddessen bekommt dieser Halder Profil, wird deutlich, was ihn prägte und wie er auf die Welt blickt. „Der Staat hatte Feinde. Punkt! Hauptsatz ohne Einschränkungen im Nebensatz.“ Und diese Feinde sieht er rechts wie links, allerdings mit dem Unterschied, dass sich „rechtsradikales Potential gliedern, leiten und in politische und militärische Ordnungseinheiten überführen“ ließ. Linke dagegen sind für ihn ein „unbelehrbarer Feind“, der den Gedanken ablehnte, „dass man Teil einer national gewachsenen Kultur war“. Halder ist überzeugt: „Wer sich auf den Universalismus berief, log immer.“ Doch Bronski lotet eben nicht nur die Untiefen des Verfassungsschützers Kurt Halder aus, der sich das alles aus Akten und Erinnerungen zusammenklaubt, ergänzt durch aktuelle Lageberichte seines treuen Stellvertreters, sondern er schält dabei eben auch Verbindungen aus Polizei und Verfassungsschutz ins rechtsextreme Lager heraus, erzählt von rechten Seilschaften in der Polizei, von Chatgruppen und Drohbriefen mit Informationen aus polizeiinternen Datenbanken. Sein Halder ist dabei nicht der Strippenzieher, aber eben ein Ideologe, der die Macht hat, einiges laufen zu lassen, anderes zu forcieren, selbst ohne alle Zusammenhänge zu kennen.

Bronski legt diese Schichten präzise und mit kantigem Witz nach und nach frei und hat dazu noch eine schöne, wenngleich auch etwas absehbare Pointe eingebaut. Denn die von der Polizei beobachtete linksradikale Szene, die sie im Verdacht hat, für den Brandanschlag verantwortlich zu sein, scheint sich erneut zu wappnen, kauft Material, das sich für einen Anschlag, mehr aber für ein Grillfest eignen könnte.

Max Bronski: Halder. Nautilus, Hamburg 2021. 157 Seiten, 16 Euro.

Ein »Müllmann mit Waffe« will in Rente gehen

(hpe) Irgendwie hat Billy Summers von Anfang an ein ungutes Gefühl bei diesem Auftrag. Aber er bringt 2 Millionen ein. Die kommen ihm gerade recht, denn er will seinen Job als Auftragskiller aufgeben. Dass das kaum gut gehen kann, wissen wir aus dem Genre. Doch aus dem Krimigenre kommt der 73-jährige Stephen King, der die Geschichte von Billy Summers erzählt, ja gar nicht. Berühmt ist der Superstar vor allem für seine Horrorromane, von denen wir viele auch aus dem Kino kennen.

Billy Summers ist ein ziemlich schlauer und belesener Irakkriegsveteran. Er will nur schlechte Menschen umbringen, versteht sich als »Müllmann mit Waffe«. Seinen Auftraggebern gegenüber gibt er den Einfältigen; er wird lieber unterschätzt. Unter der Tarnung als Schriftsteller richtet er sich in einer Provinzstadt ein, um nach monatelangem Warten aus seinem Büro in einem Hochhaus einen Mörder auf der Treppe des nahen Gerichtsgebäudes zu erschießen. 

In den Wochen des Wartens beginnt Billy tatsächlich zu schreiben. Seine Lebensgeschichte. Eine tragische Jugend treibt ihn früh ins Militär; im Irakkrieg ist er Scharfschütze. Seine Geschichte zu erzählen, gefällt ihm: »Er hatte keine Ahnung, wie gut man sich beim Schreiben fühlen kann.« Nach der Ausführung des Jobs setzt sich Billy ab, denn die Auftraggeber trachten ihm nach dem Leben. Durch Zufall kommt er in seinem Versteck mit Alice zusammen, einer jungen Frau, die gerade eine Gruppenvergewaltigung hinter sich hat.

Es ist eine raffiniert aufgebaute und gekonnt erzählte Story, wie man das von einem wie Stephen King erwartet. Mit gut 700 Seiten gehört »Billy Summers« zu den eher kürzeren Werken des Vielschreibers. Langweilig wird es über diese Strecke nie. Denn King hat verschiedene Geschichten eng miteinander verflochten. Da ist einmal die Auftragsmordsache, die dann zu einer Auseinandersetzung unter den Gangstern führt. Die Lebensgeschichte von Billy und der Krieg im Irak samt blutigen Szenen in Falludscha werden sozusagen zum Roman im Roman. Dann Alices Vergewaltigung, die Billy nicht einfach so stehen lassen will. Über weite Strecken sind wir wie in einem Roadmovie unterwegs durch die US-Provinz. Und schließlich handelt das Buch auch ein bisschen vom Schreiben.

King erzählt packend und intelligent, auf Übersinnliches verzichtet er hier. Es gibt Bezüge zu Popkultur wie Comics und Musik, Reverenzen an Literatur von Emile Zola bis James M. Cain, politische Seitenhiebe etwa gegen einen zum Präsidenten gewählten Hochstapler und leicht selbstironisches Selbstreferenzielles, etwa zu seinem Frühwerk »Shining«. Und immer wieder kleine Oden an das Beglückende am Schreiben. 

Stephen King: Billy Summers (Billy Summers, 2021). Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt. Heyne, München 2021. 719 Seiten, 26 Euro.

Rasante Erzählprosa

(JF) Die Welt am Abgrund. Darunter macht es Christian von Ditfurth nicht. Mit Endzeit beschließt der Thriller-Routinier seine Reihe um den charismatischen Berliner Kriminalisten Eugen de Bodt, der aller Genialität zum Trotz zu einem Beamtendasein im gehobenen Dienst verurteilt scheint. Zu eigenwillig ist der Oberkommissar und seinen Vorgesetzten eine Pein. Gerne hätte man ihn längst abserviert. Doch da er sich immer wieder erfolgreich Verbrechen von globaler Dimension annimmt, genießt er die Protektion der Kanzlerin. Nun, da diese ihre politische Laufbahn beendet, darf auch de Bodt endlich in Pension. Dass er sich zuvor noch in einer internationalen Krise bewähren muss, versteht sich von selbst.

Als es gilt, die Morde an zwei philippinischen Hausangestellten in Paris und Berlin aufzuklären, führt die Spur direkt in die Botschaften Saudi-Arabiens. Dort führt man Ungutes im Schilde. Um die voraussehbare wirtschaftliche Schieflage des Wüstenstaates abzuwenden, scheint dem designierten Thronfolger Mohammed bin Salman, kurz MbS genannt, jedes Mittel recht. Das ist de Bodt und seinem Team schnell klar. Doch um hinter den eigentlichen Plan des durchtriebenen Schurken zu kommen, sind verwegene Aktionen, hartnäckige Verhöre und riskante Täuschungsmanöver notwendig, deren Schilderung mehr als 400 Buchseiten rasanter Erzählprosa erfordert. Wie gewohnt erweist sich von Ditfurth als ein Virtuose der Parataxe. Sowie der der Ellipse. Und des alleinstehenden Relativsatzes. Das ist über eine weite Strecke recht kurzweilig, verhindert aber nicht, dass sich die Lektüre spätestens im letzten Drittel des Romans ähnlich dahinzieht wie de Bodts zunehmend frustrierende Ermittlungsbemühungen. Der vorzeitige Ruhestand des philosophisch versierten Superhelden und seine lang verdiente Beförderung zum Kriminalrat finden deshalb unseren ehrlichen Beifall.

Christian von Ditfurth: Endzeit. Ein De-Bodt Thriller. Bertelsmann, München 2021. 439 Seiten, 16,50 Euro.

Der Superheld mit der Klappzahnbürste

(hpe) Der Mann, der mit leichtem Gepäck – Klappzahnbürste in der Jackentasche – durch die USA streift, ist längst zu einer Marke geworden. Jack Reacher, eine Art Mischung aus Superman und moralisierendem Outlaw, soll denn auch ohne seinen Erfinder Lee Child (eigentlich: James Dover Grant) weiter existieren. Child ist inzwischen 67-jährig, und sein 14 Jahren jüngerer Bruder Andrew Grant soll die Geschichte seines Superhelden weiterführen. Vorerst wollen sie ein paar Romane gemeinsam schreiben, der erste, »The Sentinel« ist letztes Jahr erschienen, noch in diesem Jahr wird »Better Off Dead« folgen. Es handelt sich dabei um die Reacher-Bände 25 und 26.

Die Übersetzungen haben etwas Rückstand auf die amerikanische Marschtabelle. Eben erschienen ist auf Deutsch Band 23, Der Spezialist. Davor hatte Childs in »Der Bluthund« mit einem in den USA gesellschaftlich und politisch brisanten Thema überrascht, der sogenannten Opioidkrise. Doch die Hoffnung, dass die vor allem auf actionreiche Unterhaltung fokussierte Bestsellerserie der großen Leserschaft – die Reacher-Gesamtlauflage liegt bei weit über 100 Millionen Büchern – nun vermehrt auch relevante Themen zumuten könnte, wird mit dem neuen Band nicht erfüllt. 

Reacher stößt auf seiner planlosen Reise durch die USA zufällig auf den Heimatort seines Vaters und will nach Spuren seiner Familie suchen. Das erweist sich als gar nicht einfach. Parallel dazu erzählt Child von seltsamen Vorgängen in einem Motel etwas außerhalb dieses Ortes. Dort wird ein junges Paar aus Kanada festgehalten, das schließlich zahlenden Gästen als Jagdobjekte dienen soll. Beide Handlungsstränge ziehen sich arg in die Länge. Dass Child seinen Helden in gewohnter Manier immer mal wieder ganze Gruppen von Widersachern oder anderen Bösewichten krankenhausreif prügeln lässt, hilft wenig gegen die rasch aufkommende Langeweile.

Lee Child: Der Spezialist (Past Tense, 2018). Aus dem Englischen von Wulf Bergner. Blanvalet Verlag, München 2021. 446 Seiten, 22 Euro.

Gewalt und Familienfehden in Kentucky

(hpe) In unwegsamem Gebiet in den Hügeln der Appalachen in Kentucky wird die Leiche einer Frau aus der nahen Kleinstadt gefunden. Linda Hardin, seit kurzem Sheriff des County, gerät unter Druck. Sie bittet ihren Bruder Mick um Hilfe, der gerade in der Gegend ist. Eigentlich sollte der erfahrene Militärermittler auf dem Army-Stützpunkt in Deutschland sein, von wo aus er in Irak, Syrien und Afghanistan eingesetzt wird. Doch er muss seine Beziehung zu seiner schwangeren Frau klären und liegt deswegen gerade mit einem schweren Kater in einer Waldhütte. 

Eine Leiche zum Auftakt, ein aufrechter Ermittler mit einem Alkoholproblem: Unbarmherziges Land von Chris Offutt beginnt, wie ein typischer Krimi. Doch der erste Eindruck täuscht, dies ist keine Standardware nach dem üblichen Muster. Der 62-jährige Autor aus Kentucky, der sich außerhalb der Kriminalliteratur einen Namen gemacht hat – vor über 20 Jahren sind zwei seiner frühen Werke auch auf Deutsch erschienen – und als Autor für TV-Serien wie »True Blood« und »Weeds« tätig war, setzt nicht auf das klassische Krimi-Schema. 

Der Tod der Frau in den Bergen zieht weitere Todesfälle nach sich. »Tod brachte Tod hervor, und Mick war nicht in der Lage gewesen, dem Verderben Einhalt zu gebieten.« Wer der Mörder ist, wird im Verlauf der Geschichte immer unwichtiger. Mick Hardin bringt diese Ermittlung als inoffizieller Deputy seiner Schwester zwar zu Ende, aber ohne offizielles Resultat. Neben ihm spielen auch »The Killing Hills«, so der Originaltitel des Romans, eine Hauptrolle. Das ländliche Kentucky ist eine abgehängte Region. »Kein Politiker schüttelte jemandem aus den Appalachen die Hand, außer um den Diebstahl von Land und Ressourcen zu besiegeln.« Hier leben misstrauische Menschen, die letztlich nur ihrer eigenen Sippe vertrauen. Wo früher in den abgeschiedenen Gebieten illegal Schnaps gebrannt wurde, werden heute Drogen gekocht. Familienfehden und Rachefeldzüge überdauern Generationen.

Diese Gegend und den Menschenschlag, der da lebt, bringt uns Offutt packend näher. Dieser Landstrich ist nicht Lokalkolorit als Hintergrund, sondern tragender Teil der Geschichte. Die Übersetzung kommt teils etwas hölzern daher, doch »Unbarmherziges Land« ist ein beinharter und düsterer Country Noir der Extraklasse, brutal, aber auch gefühlvoll und mit trockenem Humor. Offutt reiht sich damit ein Liste von herausragenden Autoren aus dem ruralen Hinterland der USA, zu denen neben etablierten Meistern wie Daniel Woodrell und Donald Ray Pollock auch aufregende neue Stimmen wie Brian Panowich, Katherine Faw und S. A. Cosby zählen.

Chris Offutt: Unbarmherziges Land (The Killing Hills, 2021). Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Tropen/Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart 2021. 221 Seiten, 15 Euro.

PS. Chris Offutt, der an der University of Mississippi in Oxford lehrt, widmet sich auch leidenschaftlich der Fotografie und zeigt diese Arbeiten auf Instagram.

Die Politik der Algorithmen

(MP) John Marrs’ „The Passengers“ ist von erschreckender Aktualität. Selbstfahrende Autos. Ein handelsüblicher Psychopath. Die Passagiere: alle mit finsteren Geheimnissen. Was zuerst wie eine private Racheaktion rüberkommt, wendet sich in ein gesellschaftliches Drama: „Einige wenige ausgewählte Beamte haben, irgendwo hinter den Mauern von Westminster, beschlossen, unsere Daten gegen uns zu verwenden und sicherzustellen, dass kein ‚wichtiger‘ Mensch mehr Opfer eines Verkehrsunfalls wird. Die Verantwortlichen […] sahen darin eine Möglichkeit, die Gesellschaft von bestimmten Mitgliedern zu säubern, die in ihren Augen zu wenig für die Gemeinschaft leisten.“ 

Rasant, lesenswert. Wenn du denkst, du hast jetzt nach einer Horrortour sicheren Grund erreicht, tut sich die nächste Falltür auf. Fuck the Algorithm. (Siehe dazu K. Klöcker: Autoritäre Algorithmen. Wenn Künstliche Intelligenz Entscheidungen trifft, in: Herder Korrespondenz 7/2021, S. 37-39.) Nein, die Algorithmen sind nur Werkzeuge; gefährlich, wer sie anwendet, unkontrolliert, machtbesessen oder einfach nur, um mal wieder Geld zu sparen. Bis die Welt wieder mal in Flammen steht. „Nur wenn wir Algorithmen als politisch begreifen, können wir selbstbestimmt und demokratisch mit ihnen umgehen. Wenn wir die Politik der Algorithmen geschehen lassen, ohne sie gemeinsam zu verhandeln, unterwerfen wir uns ihr.“ (S. Müller-Mall: Freiheit und Kalkül. Die Politik der Algorithmen, Stuttgart 2020, S. 77.)

John Marrs: The Passengers. Du entscheidest über Leben und Tod (The Passengers, 2019). Aus dem Englischen von Felix Mayer. Heyne Verlag, München 2020. 370 Seiten, 15,99 Euro.


Tags : , , , , , , , , , , , , , ,