Geschrieben am 1. September 2022 von für Crimemag, CrimeMag September 2022

Bloody Chops – Kurzbesprechungen September 2022

Kurzbesprechungen von Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Ingrid Mylo (myl) und Thomas Wörtche (TW):

Sibylle Berg: REC
Ingo Bott: Pirlo. Falsche Zeugen
Ken Bruen: Aliens Bändigung
James Lee Burke: Die Tote im Eisblock
Lukas Erler: Das letzte Grab
Cédric Fabre: Ein kurzer Moment
Peter Farris: Letzter Aufruf für die Lebenden
Jean Hanff Korelitz: Der Plot
Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
Petros Markaris: Verschwörung
Val McDermid: 1979 – Jägerin und Gejagte
Nevala & Karlsson: Dämmerung. Falsch
Liz Nugent: Auf der Lauer liegen
Thomas Perry: Pantherjagd
Sergio Ramírez: Tongolele konnte nicht tanzen
Yves Ravey: Die Abfindung
John Vercher: Wintersturm

Unverwechselbarer Stil 

(JF) Ein Auftragsmörder mit Freude am Beruf fliegt von London nach San Francisco, um seine Ex-Frau umzubringen. Das geht böse aus, nicht nur für sein Opfer. Ein anderer Killer erschießt einen Taxifahrer, nur um seine neue Knarre auszuprobieren. Später macht er einen Fehler, der ihn teuer zu stehen kommen wird. Doch der Roman endet, bevor man erfährt, wie. Das ist nicht weiter schlimm. Man kann es sich denken.

„Aliens Bändigung“ ist der Mittelteil von Ken Bruens „White-Trilogie“, die ihrerseits den Auftakt zur insgesamt sieben Bände umfassenden Reihe um eine Gruppe wenig zimperlicher Londoner Cops bildet, in deren Zentrum der hemmungs- und skrupellose Detective Sergeant Brant steht. Sympathieträger sehen anders aus. Aber an Alternativen gibt es wenig Auswahl in diesen Romanen. Vielleicht wäre ein schmeichelhafteres Porträt der Londoner Polizei entstanden,  hätte Scotland Yard positiver auf Bruens Bitte um Unterstützung seiner Arbeit reagiert. Aber man blieb stur und der Autor musste sich auf seine Erfindungsgabe verlassen. Und diese war vor allem durch Lektüre geprägt, von Jim Thompson über Ed McBain bis Derek Raymond. Wahrscheinlich war das auch besser so. Denn Ken Bruen orientierte ausschließlich an den Meistern des Genres und erschuf seinen eigenen, unverwechselbaren Stil. Über den hat Günther Grosser in seinem Nachwort zu „Aliens Zähmung“ allerhand Wissenswertes zu sagen (siehe diesen Text bei uns in dieser Ausgabe, d. Red). Die Übersetzungsleistung von Karen Witthuhn ist in diesem Zusammenhang nicht genug zu preisen.

Jetzt fehlen noch zwei Bände der Reihe, die bis 2024 im Polar Verlag erscheinen sollen. Dann kann die Lektüre von vorne beginnen. Es lohnt sich unbedingt.

Ken Bruen: Aliens Bändigung (Taming the Alien, 1999). Aus dem Englischen von Karen Witthuhn. Polar Verlag, Stuttgart 2022. 177 Seiten, 15 Euro.

Die Geheimnisse von Kiew

(TW) Im russischen Bürgerkrieg 1919 wird dem armen Samson ein Ohr von einem Kosakensäbel abgehackt, aber immerhin überlebt er die Attacke, im Gegensatz zu seinem Vater. Wenn man dieses Ohr aber nun in eine Blechschachtel steckt, dann kann Samson immer hören, was gerade gesprochen wird, auch wenn sich das Ohr weit weg von ihm befindet. Das ist nur eine sehr direkt gogolsche (man denke an dessen „Nase“) Episode unter anderen wunderlichen Begebenheiten in dem neuen Roman des in St. Petersburg geborenen, ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow, den man immer gerne in der Nähe von Gogol und Bulgakow verordnet.

Entstanden ist „Samson und Nadjeschda“ 2020, also noch vor dem Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine. Deswegen sollte man vorsichtig sein und die Bürgerkriegswirren von 1919 nicht direkt mit der aktuellen Lage synchronisieren.  Aber ein Kriminalroman kann zumindest narrative Ordnung schaffen, was der zum sowjetischen Polizisten in Kiew avancierte Samson und seine Liebe, Nadjeschda, die eine eifrige Genossin ist, tapfer versuchen, denn ein silberner Knochen und erlesene Herrenmode als Geheimnisse sind mindestens so rätselhaft wie die politischen Zustände. Und so tasten die beiden sich durch die Geheimnisse von Kiew, durch Keller, Geheimtüren und Gewölbe, die absurde, komische, tragische, rührende und stets sehr menschliche Geschichten preisgeben. Immer mit einem Touch Fantastik, der den Unterschied zu den handelsüblichen historischen Kriminalromanen ausmacht. Fortsetzung folgt.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda. Deutsch von Johanna Marx und Sabine Gerbing. Diogenes Verlag, Zürich 2022 364 Seiten, 24 Euro.

Knallhart und kompromisslos 

(hpe) Nicht nur der recht komplexe Plot um Rassismus, Freundschaft und Familie, den der US-Autor John Vercher für seinen Erstling Wintersturm entwickelt hat, ist eindrücklich, sondern vor allem auch, wie er diesen dann auf die Reihe bringt: knallhart, kompakt, kompromisslos, klug, kundig. Wie seine Hauptfigur Bobby hat der Autor eine weiße Mutter und einen schwarzen Vater. Er weiß also, wovon er erzählt, wenn er gemischtrassige Menschen als »Außenseiter unter Außenseitern« beschreibt: »Sie waren von ihren eigenen Leuten ausgegrenzt worden, weil sie zu weiß waren, und für ihre weißen Freunde waren sie Alibis, auf die sie schnell verweisen konnten, wenn jemand sie als rassistisch bezeichnete.«

Bobby, so hellhäutig, dass er als Weißer durchgeht, hadert damit, einen afroamerikanischen Vater zu haben. Er wusste das selbst lange nicht, als er bei seinem rassistischen weißen Großvater aufwuchs, dessen Weltbild er übernahm. Erst als er in den frühen Teenagerjahren mal das N-Wort benutzte, sagte ihm die Mutter, dass sein Vater ein Schwarzer war. Das war auch dem Opa neu, der Mutter und Sohn gleich rausschmiss. Das erfährt man in einer Rückblende. Am Anfang der Geschichte kommt Bobby in der Nacht aus dem Restaurant, in dem er arbeitet. Da wird er von seinem alten Freund Aaron überrascht, der nach drei Jahren aus dem Knast entlassen worden ist. In die Freude mischt sich schnell ein ungutes Gefühl. Denn aus dem schmächtigen Jungen, der ins Gefängnis einfuhr, ist ein muskelbepackter Mann mit Nazi-Tattoos geworden. In der Kneipe, in der sie ihr Wiedersehen feiern wollen, provoziert Aaron mit seinen Tätowierungen einen jungen Schwarzen. Dieser folgt den beiden auf die Strasse. Wo Aaron ihn mit einem Ziegelstein erschlägt.

Bobby hat Aaron nie gesagt, dass sein Vater schwarz ist. Er mag sich nicht vorstellen, was passiert, wenn Aaron das erfährt. Dazu kommen Probleme mit seiner Mutter, die Alkoholikerin ist und zu der er schaut. Sie begegnet in einer Kneipe zufällig Bobbys Vater. Obwohl sie ihrem Sohn vorgemacht hat, der Vater sei gestorben, will sie nun, dass sich Vater und Sohn kennenlernen. Ein Happyend darf man aber nicht erwarten, denn dies ist ein Noir-Roman, der, wie erwähnt, knallhart und kompromisslos ist.

John Vercher: Wintersturm (Three-Fifths, 2019). Aus dem Englischen von Sven Koch. Polar Verlag, Stuttgart 2022. 246 Seiten, 22 Euro.

Marseille Fight Club

(TW) Es gibt Bücher, die möchte man sehr gerne mögen, von Anfang an. So wie den Roman Ein kurzer Moment von Cédric Fabre aus dem Jahr 2017. Straßenschlägereien als politische Aktionskunst, um die bräsige französische Mehrheitsgesellschaft und ihre politischen Repräsentanten, die meisten aus dem rechten Lager, in Angst und Schrecken zu versetzen sind verbunden mit der Geschichte von Lang, einem desillusionierten Kriegsreporter, der in den vielen afrikanischen Bürgerkriegen der letzten Jahrzehnte nicht mehr neutral bleiben konnte und zur Waffe gegriffen hatte.

Seine geliebte Ex-Freundin Olivia wurde bei einem Terroranschlag in Tunesien getötet, neue Hoffnung lässt ihn Awa schöpfen, die anscheinend aus dem Nichts auftaucht und einen Gefallen von ihm einfordert, weil er sie – damals in Afrika – nicht vor einer Vergewaltigung gerettet hat. Dazu Old Maurice, ein Künstler, der surreal-bizarre, radikal politische Werke schafft und pausenlos mit Suizid droht, und Awas Sohn Arsène, ein stockschlaues, wenn auch altkluges Kind. Zusammen mit einer gesellschaftlichen Atmosphäre, die die Gelbwesten-Bewegung schon andeutet – daraus hätte ein großer Roman entstehen können. Was aber, weil Fabre allzu geschwätzig, wirr, manchmal sogar unnachvollziehbar und allzu machomäßig oversexed erzählt, leider nicht der Fall ist. Aber ein bisschen mögen geht schon. Und natürlich lässt Jean-Claude Izzo grüßen.

Cédric Fabre: Ein kurzer Moment (Un bref moment d’héroïsme, 2017). Aus dem Französischen von Beate Braumann und Jutta Nickel. Mit einem Nachwort von Estelle Surbranche. Polar Verlag, 330 S., 25.00 Euro.

Korruption und Elend in Nicaragua

(hpe) Dolores Morales ist ein desillusionierten Ex-Guerillero, der in den Kämpfen gegen die Somoza-Diktatur in Nicaragua ein Bein verloren hat. Bei der Polizei wurde er als Inspector inzwischen gefeuert, weil er unerbittlich den Finger auf die Korruption legte, die sich unter dem Regime von Daniel Ortega entwickelt hat. Morales war schon Protagonist zweier früherer Kriminalromane von Sergio Ramírez, jetzt ist der Abschluss der Trilogie erschienen: Tongolele konnte nicht tanzen. Der inzwischen als Privatdetektiv tätige Morales ist von Geheimdienstchef Anastasio Prado, genannt Tongolele, nach Honduras abgeschoben worden. Tongolele tat damit einem nicaraguanischen Oligarchen einen Gefallen, gegen den Morales belastendes Material gefunden hatte. Morales kehrt über die grüne Grenze zurück und ist mit Hilfe regimekritischer Priester rasch zurück in Managua. Wo er Zeuge der brutalen Niederschlagung von Protesten von Regierungskritikern wird, bei der Hunderte von Menschen durch Paramilitärs und Polizisten erschossen wurden.

Das ist 2018 tatsächlich geschehen. Ramírez spricht in seinem Roman Klartext über die Zustände in seinem Heimatland und über Ortegas despotisches Regime. Und Ramírez ist nicht irgendwer. 2017 ist er mit Cervantes-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten Preis für spanischsprachige Literatur, und er gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Lateinamerikas. Ramírez war aber auch einer der führenden Sandinisten, ein Weggefährte Ortegas. Er war Mitglied der fünfköpfigen Regierung nach dem Sturz der Somoza-Diktatur 1979 und von 1984 bis 1990 Vizepräsident des Landes.

In seinem neuen Roman erzählt er poetisch und düster, aber auch mit beißendem Humor die Geschichte vom Niedergang von Tongolele, der Intrigen von Gegenspielern zum Opfer fällt. Er macht sich lustig über esoterische Verirrungen der Regierung, die auf der anderen Seite rücksichtlos zuschlägt. Eindrücklich schildert er das soziale Elend in Nicaragua und den Zerfall der moralischen und politischen Werte der Machthaber, die nur noch älter und korrupter werden. 

Der spannende Roman über eine verratene Revolution und auch seine sonstige Kritik am Ortega-Regime hatten für Ramírez letztes Jahr schwere Folgen: Wie gegen andere politische Gegner der Regierung wurde auch gegen ihn ein Haftbefehl erlassen. Ramírez befand sich da aber gerade in Costa Rica. Zurzeit lebt er in Madrid im Exil.

Sergio Ramírez: Tongolele konnte nicht tanzen(Tongolele no sabía bailar, 2021). Aus dem Spanischen von Lutz Kliche. Edition 8, Zürich 2022. 318 Seiten, 21,80 Euro.

Tradition, irritierend variiert

(JF) Seine Frau geht fremd, seine Tankstelle ist pleite, und wenn er Geld braucht, muss er seine Mutter beklauen. Jean Seghers ist nicht zu beneiden. Auch wenn er sich cool gibt. Leider ist Seghers nicht der Hellste. Dass er meint, die Lage im Griff zu haben, zeugt von einem erheblichen Maß an Selbstüberschätzung. Deshalb ist das „kriminelle Projekt“, mit dem er sich all seine Probleme vom Hals schaffen will, auch ausgesprochen dilettantisch in Planung und Ausführung, so dass es der Versicherungssachverständigen Brigitte Hunter sehr leicht fallen sollte, ihn zu überführen. 

Dass es doch anders kommt, hat der französische Autor Yves Ravey so gewollt. Sein schmaler Roman Die Abfindung ist eine irritierende Variation tradierter Handlungselemente des Noir-Genres. Er lässt Seghers selbst erzählen. Und zwar so betont sachlich, dass seine Prosa wie ein Fallbericht daherkommt. Die Dialoge wechseln zwischen indirekter und direkter Rede, allerdings unter Verzicht auf entsprechende Satzzeichen. Das macht die Lektüre nicht einfacher, und es ist zu vermuten, dass eben dieser Effekt die Absicht des Urhebers dieser reizvollen literarischen Spielerei war.

Yves Ravey: Die Abfindung (Adultère, 2021). Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, München 2022. 108 Seiten. 20 Euro.

Man erkennt das Übel

(myl) wir wissen seit so vielen jahrzehnten, was los ist, wir wissen auch, daß kein reden hilft und kein demonstrieren, es geht, ganz grob und grundsätzlich darum, was sehr einfaches zu begreifen: ein system (wie der kapitalismus, wie der damit einhergehende aktienmarkt) das von hunger, elend, kriegen profitiert, wird einen scheiß tun, um hunger, elend, kriege zu bekämpfen. wer gräbt sich schon selbst das wasser ab. dazu noch ein satz von malkovich: nur die bösen („bad people“ hat er, glaub ich, gesagt) streben nach macht. punkt. wie sinnvoll ist es also, freitags auf die straße zu rennen und schilder hochzuhalten, auf denen „there is no planet b“ steht: nach so einem sind die, die es können, längst unterwegs. man sollte all die unbelehrbar und bis zur blödheit naiven zum lesen von sibylle bergs neuem buch ‚rce‘ verdonnern, „roman“ hat sie das dicke rosafarbene ding genannt: in wirklichkeit hat sie informationen zusammengetragen über den zustand der welt, forschungsergebnisse von „weit über 100″ wissenschaftlern, mit denen sie gesprochen hat, blanke fakten zu themen wie überwachung, solutionismus, korruption, totalitarismus, soziale medien als „massenablenkungswaffen“ (bzw. „hirnvernichtungswaffen“), gesundheitspolitik, lobbyismus, cyberspace, geoengeneering, philantro-kapitalismus à la bill gates, transhumanismus, greenwashing (ah, da nennt sie als hübsches beispiel das „weltgrößte biomassekraftwerk“ in yorkshire, das mit 20,8 millionen tonnen mehr co2 in die luft jagt als 103 andere nationen: „und darum bis 2027 mit 13 milliarden pfund „gefördert wird“. der witz ist noch nicht zu ende: um es zu befeuern, wird in estland – in dem von der eu subventionierten naturschutzgebiet haanja – massenhaft wald für die pelletherstellung abgeholzt), sie schreibt über die „soliden öffentlichen medien“, die „nur noch zur hysterie-erzeugung“ eingesetzt werden, schreibt über die mittlerweile umgedrehten antifaschisten, die zu staatshörigen idioten verkommen sind und „die politik der nationalbanken“ feiern. und berg nennt, ohne in diesem zusammenhang das wort verbrecher zu benutzen, roß und reiter, sagt blackrock, sagt osze, sagt aldi, musk, dyson, amazon, netflix, google, peter thiel, sie muß nicht verbrecher sagen: man erkennt das übel, wenn man liest, was solche organisationen, solche leute tun. ein eklatant wichtiges buch, keine literatur: eher ein koffer voller radikaler wahrheiten, die so oder ähnlich zwar jedem bekannt sind, der noch halbwegs denken kann, aber nicht in dieser ungeheuren vielzahl von konkreten einzelheiten. („ich bin dir sehr dankbar“, hat eine freundin zu mir gesagt, „daß du mir zu diesem buch geraten hast.“ ja, es gibt einem waffen in die hand.) – Siehe von Ingrid Mylo auch „3 x 11 Spielworte (13)“ in dieser Ausgabe.

Sibylle Berg: REC. #RemoteCodeExecution. Roman. Kiepenheuer&Witsch, Köln 2022. 704 Seiten, 26 Euro.

Chaos gegen militante Idylle

(TW) Athen, 2021. Es herrscht ein harscher Lockdown, Corona hat alles im Klammergriff, die Bevölkerung murrt. Petros Markaris´ Serienheld, der Vizekriminaldirektor Kostas Charitos, hat in Verschwörung zwei Serien von Todesfällen an der Hacke, eine davon besonders bizarr: Alte Männer  bringen sich um, und hinterlassen Abschiedsbotschaften, in denen sie die Menschen auffordern, politisch aktiv zu werden. Man weiß nicht so recht, was die Motivation dahinter sein mag. Bei den anderen Untaten liegt sie klar zu Tage: Impfstofftransporte werden überfallen, Ärzte, die sich für die Impfung aussprechen, werden ermordet.

Militante Corona-Leugner und die gute alte Linke sind wohl involviert, wenn auch auf verschiedenen Seiten.  Petros Markaris gelingt auch hier, wie fast immer in seinen Charitos-Romanen komplexe gesellschaftliche Konflikte und Problemlagen zu ganz einfachen, fast schon schlichten Erzählungen herunterzubrechen, ohne deren Komplexität zu verleugnen. Dazu baut er die Familienwelt von Charitos zu einem fast militant idyllischen, radikal biederen Gegenentwurf zu dem Chaos der Realität auf – ein Prinzip, dem er vermutlich seine Popularität verdankt. Und so geraten ihm auch interessante politische Schwenks. Charitos, vor allem in den früheren Romanen, ein hartknochiger Law & Order-Mann macht hier allmählich seinen Frieden mit den alten Linken. Beziehungsweise die mit ihm, der doch lange Zeit „der Feind“ schlechthin war. Das ist schon geschickt inszeniert.

Petros Markaris: Verschwörung. Deutsch von Michaela Prinzinger. Diogenes Verlag, Zürich 2022. 280 Seiten, 25 Euro.

Ein Ziegel für Robicheaux-Aficionados

(hpe) »Creole Belle« ist der schöne Originaltitel des 19. Romans der Robicheaux-Reihe, im Original 2012 erschienen, von Altmeister James Lee Burke, der jetzt vom Pendragon Verlag im Rahmen der Gesamtausgabe nachgereicht wird. Eigentlich hätte man den Originaltitel für die deutsche Übersetzung stehen lassen können, doch diese heißt Die Tote im Eisblock. Aber es geht ja um den Inhalt. Und der ist zunächst einmal umfangreich. Das Buch ist ein wahrer Ziegel. An die siebenhundert Seiten stark. Aber, wie immer bei Burke, man würde gerne auch noch mehr lesen. Nicht nur die getreuen Follower des Ermittlers Dave Robicheaux vom Sheriff’s Office in New Iberia am Bayou Teche in Louisiana, der über sich sagt: »Immer waren Alkohol und Depressionen, Gewalt und Blutvergießen fester Bestandteil meines Weges gewesen.«

Wie der deutsche Titel schon ankündigt, wird in diesem Band ein rasch schmelzender Eisblock am Bayou angeschwemmt, in dem die Leiche einer jungen Frau steckt. Es ist die Schwester der Zydeco-Sängerin Tee Jolie Melton, einer Bekannten von Robicheaux, die verschwunden ist. Robicheaux will die Sängerin finden. Dabei wird er von seinem besten Kumpel Clete Purcel unterstützt, seinem ehemaligen Partner bei der Polizei in New Orleans, der jetzt privater Ermittler ist. Ein Mann, der keine Hemmungen kennt, wenn jemand böse ist oder seinen Freunden Schlechtes will. Robicheaux vermutet, dass der Fall der beiden Schwestern mit der katastrophalen Ölpest an der Küste zusammenhängt, die von den Ölfirmen und der Politik kleingeredet wird. Doch die Geschichte ist komplex und zunächst undurchsichtig. Unter anderen lernen wir da böse Bosse, korrupte Politiker und ein paar Gangster kennen, eine mysteriöse Profikillerin und einen bigotten Prediger. Und einen alten SS-Nazi aus Deutschland, der sich als KZ-Opfer ausgibt, und dessen Enkel gleichzeitig sein inzestuöser Sohn ist.

Der inzwischen 85-jährige James Lee Burke packt das alles und noch viel mehr eine fesselnde Geschichte. Es ist ein bunter Reigen aus schlagfertigen Dialogen, gnadenloser Brutalität, poetischen Betrachtungen, Philosophischem über das Böse im Menschen und einer trockenen Art von Galgenhumor. Das ist nicht nur höchst unterhaltsam, Burke stattet Robicheaux hat auch mit einem scharfen Blick aus für den »vergifteten Cocktail aus Dummheit, Armut und Rassismus«, den Politiker verbreiten: »Die Politiker in Louisiana gehören zum korruptesten menschlichen Abschaum, den ich kenne.«

James Lee Burke: Die Tote im Eisblock (Creole Belle, 2012). Aus dem Englischen von Bernd Gockel. Pendragon Verlag, Bielefeld 2022. 684 Seiten, 26 Euro. 

Großer Auftritt

(JF) Faruk Maliki ist ein schmächtiges Kerlchen, das gerne auf dicke Hose macht. Schließlich ist er ein prominentes Mitglied eines Familienunternehmens mit albanischen Wurzeln, dessen Aktivitäten nicht immer ganz legal sein. Mord gehört allerdings nicht dazu. Zumal es eher unwahrscheinlich ist, dass Maliki den Rockerboss Rainer Waßmer, einen Schrank von 1,92, erstochen hat. Doch die Indizien, vor allem seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe, sprechen gegen den jungen Mann.

Kein leichter Fall, aber ein großer Auftritt für seine Strafverteidiger, sachkundig und rasant inszeniert von Ingo Bott, hauptberuflich Fachanwalt für Strafrecht in Düsseldorf. Falsche Zeugen ist der zweite Band seiner Reihe um die unorthodoxen  Anwälte Anton Pirlo und Sophie Mahler. Ein echter Schmöker von fast 500 Seiten. Damit diese nicht langweilig werden, braucht es natürlich mehr an Plot, als der kleine Maliki liefern könnte. Und was eignet sich besser dafür als die Familiengeschichten der Hauptfiguren. Pirlo zum Beispiel hieß nicht immer so, doch das weiß nicht einmal seine Partnerin. Die wiederum liegt im Dauerclinch mit ihrem Vater, Mitbegründer einer international erfolgreichen Anwaltssozietät. Wie und warum all das zusammengehört,  erzählt Bott dialogfreudig, flott parataktisch und betont auktorial. Manchmal würde man sich ein Komma anstelle eines Punktes wünschen. Denn auf langer Strecke kann das inflationäre Aufkommen verkürzter Sätze ermüdend wirken. Doch der Autor mag Ellipsen. Warum auch nicht. Gibt der Kritiker klein bei. Schließlich hat er bis zum nicht allzu überraschenden Ende durchgehalten. Und sich nicht gelangweilt.

Ingo Bott: Pirlo. Falsche Zeugen. Scherz Verlag, Frankfurt 2022. 490 Seiten, 16 Euro.

Der Plot – Eine todsichere Geschichte von Jean Hanff Korelitz

Thriller über Autoren und das Schreiben

(hpe) Ich mag Bücher, die vom Schreiben beziehungsweise von Schreibenden handeln oder überhaupt im Literaturbetrieb angesiedelt sind. Zum einen schreiben die Autorinnen und Autoren da über etwas, von dem sie wirklich etwas wissen und verstehen. Und das kann erhellend sein, jedenfalls, wenn es nicht zu selbstreferenziell ausfällt, sondern einen vielleicht auch selbstironischen Blick auf den Bereich wirft. Das ist bei Der Plot der Fall. Die New Yorker Autorin Jean Hanff Korelitz nimmt da ihre Zunft mit ätzendem Humor und einer gehörigen Portion Sarkasmus aufs Korn. Im Mittelpunkt steht Jacob »Jake« Finch Bonner. Der galt nach seinem ersten Roman als hoffnungsvolles Talent. Sein zweites Buch floppte, das dritte wollte kein Verlag herausbringen, mit dem vierten hadert er. Notgedrungen und widerwillig unterrichtet er kreatives Schreiben am Ripley College in Vermont. Einer seiner Studenten, Evan Parker, behauptet, einen genialen Plot zu haben, der garantiert zum Bestseller werde, hält ihn aber geheim. Als er ihn schließlich seinem Lehrer Bonner erzählt, muss der – neidvoll – zugestehen, dass der Plot tatsächlich brillant ist. Doch auch Jahre nach dem Kurs am Ripley College ist Parkers Buch nicht erschienen. Jake Bonner forscht nach und stellt fest, dass Evan Parker tot ist. Da kann Jake nicht widerstehen. Er verwendet den Plot für einen eigenen Roman. Und der wird ein Riesenerfolg. Doch dann versetzen ihn bedrohliche anonyme Nachrichten in zunehmende Panik. «Du bist ein Dieb», schreibt ihm jemand. Und nach und nach werden die Nachrichten von TalentedTom – der Deckname spielt auf Patricia Highsmiths talentierten Mister Tom Ripley und damit auf das Ripley College an – konkreter. Jake macht sich auf die Suche nach der Person, die sich hinter TalentedTom versteckt. »Ein Plot, für den man töten könnte, dachte Jake, obwohl er nichts dergleichen getan hatte; er hatte ihn lediglich aus der Versenkung geholt.«

Auch der Plot von Korelitz funktioniert. Das Buch lebt aber vor allem von den kenntnisreichen und empathischen Schilderungen der Welt der Autoren. Da geht es um von Ehrgeiz und Selbstzweifel, Narzissmus und Neid. Nebenbei auch um geistiges Eigentum und Urheberrechte. dies aber immer spannend und unterhaltsam. So unterhaltsam, dass der Streamingdienst Hulu daraus eine achtteilige Serie macht; Mahershala Ali (»True Detective«) wird die Hauptrolle spielen.

Jean Hanff Korelitz: Der Plot (2021). Aus dem Englischen von Sabine Lohmann. Wilhelm Heyne Verlag, München 2022. 352 Seiten, 16 Euro. 

Nach allen Regeln der Kunst 

(JF) Der internationale Handel mit Raubkunst ist ein Milliardengeschäft. Vor allem für das organisierte Verbrechen. Wer hier mitmischen will, darf keine Skrupel haben. So wie Felix Winter, ehemals mit der Frankfurter Anwältin Carla Winter verheiratet. Den Nachnamen hat sie behalten, von ihrem geschiedenen Mann allerdings gibt es seit Jahren keine Nachricht. Dass sie schon vorher wenig von ihm gewusst hat, wird Carla Winter klar, als sie von seinem Tod erfährt. Angeblich ist er bei einem Autounfall in der Türkei ums Leben gekommen. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Einbruch, Mord, Erpressung. Es geht um eine goldene Statue von unschätzbarem Wert, die Felix Winter gestohlen haben soll und die nun verschwunden ist. Carla muss handeln, ob sie will oder nicht. Und das kann sie besser  als gedacht.

Lukas Erlers „Das letzte Grab“ ist ein perfekt konstruierter Spannungsroman mit Überraschungsmomenten. Es wird nach allen Regeln der Kunst getäuscht und getrickst. Dabei geht es genrekonform brutal zu. Die realen Schrecken der Welt sind präsent, doch sie verlieren im unterhaltsamen Thriller-Format ihre Bedrohlichkeit. Denn es besteht kein Zweifel daran, dass Carla Winter selbst brenzligste Situationen unbeschadet übersteht. Die souverän agierende Heldin hat Serienpotential. Und dass es einen zweiten Fall für sie geben könnte, erscheint angesichts der letzten Kapitel nicht ausgeschlossen. 

Lukas Erler: Das letzte Grab. Ein Fall für Carla Winter. Tropen Verlag, Stuttgart 2022. 284 Seiten, 17 Euro.

Speckbrötchen und Zeitgeschichte

(TW) Mit ihrem neuen Roman 1979 geht dies schottische Autorin Val McDermid zurück zu ihren eigenen Erfahrungen als Reporterin bei einer Lokalzeitung in Glasgow. Wir dürfen also durchaus autobiographische Züge bei ihrer Heldin Allie Burns vermuten, die es als Frau nicht leicht hat in der testosteronlastigen Männerwelt beim Glasgower „Clarion“.  Gut, dass es dort auch den Kollegen Danny gibt, der sie fair und anständig behandelt. Danny deckt einen Geldwäscheskandal auf, an dem auch sein Bruder, ein gar schlimmer Finger, beteiligt ist. Allie Burns unterstützt Danny mit ihren brillanten Formulierungskünsten. Zusammen sind sie ein wunderbares investigatives Team. Das zeigt sich auch bei dem nächsten Coup der beiden. Es gelingt ihnen, eine kleine Gruppe schottischer Ultranationalisten zu infiltrieren, die mit Hilfe der I.R.A. auch in Schottland Bombenterror verbreiten wollen, um das „englische Joch“ abzuschütteln.  Dank der journalistischen Arbeit von Allie und Burns können die eher trotteligen „Terroristen“ verhaftet werden. Nur einer entkommt. Und als Allie mit Danny ihren Erfolg feiern möchte, findet sie ihn mit eingeschlagenem Schädel in seiner Wohnung vor.

„1979“ ist ein Roman, der eine Menge Zeitkolorit aufruft, hauptsächlich über Mode, Musik und Lektüre, die Burns konsumiert. Besonders auch über die Lektüre von Kriminalromanen, die auch einen kleinen Katalog der literarischen Einflüsse auf Val McDermid ergeben könnten. Und über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit. Schottland ist stockkonservativ, Homosexualität steht unter Strafe, was die Lebensumstände für den schwulen Danny nicht einfach macht, und Allie Burns denkt auch nur sehr zögerlich darüber nach, ob sie möglicherweise lesbisch sei.  Das Verschweigen und Verdrängen von Konfliktlagen ist für diese Gesellschaft genauso ungesund, wie die Mengen fetttriefender Speckbrötchen, die die handelnden Personen permanent in sich hineinstopfen. Frauen werden erst einmal nicht ernstgenommen. Um sich durchzusetzen, müssen sie sich enorm anstrengen, um sich von den Männchen nicht unterbuttern zu lassen. Die Polizeimethoden sind mehr als rüde, die wirtschaftliche Situation flau. Kein Wunder, der Roman spielt an der Schwelle zur Thatcher-Ära, die atmosphärisch schon deutlich zu spüren ist.

McDermid erzählt betont langsam und betulich, erklärt viel für das heutige Publikum, um die alten Zeiten zu erläutern. Sie verzichtet fast vollständig auf Effekte, zugunsten kleinteiliger Schilderungen von Alltag. Die journalistische Recherche dominiert über die kriminalistische Aufklärung, wobei beide Methoden der Wahrheitsfindung letztendlich parallelisiert werden.  Dafür braucht es konsequenterweise keine raffinierten Plot-Twist oder überraschende Pointen, vermutlich würde der Roman sogar ganz ohne Leiche funktionieren.  Eine Fundgrube also für alle Menschen, die sich für den gesellschafts- und genderpolitischen Status quo Schottlands im Jahr 1979 interessieren.

Val McDermid: 1979 – Jägerin und Gejagte (1979, 2021). Deutsch von Kirsten Reimers. Droemer-Knaur, München 2022. 430 Seiten, 12,90 Euro.

Expertin für familiäre Abgründe 

(JF) Am Anfang steht ein Mord. Von da an wird es schlimmer, obwohl körperliche Gewalt in Liz Nugents Roman „Auf der Lauer liegen“ nur sehr dosiert und ohne großen Erfolg eingesetzt wird. Als erheblich effektiver erweisen sich die von grenzenlosem Egoismus motivierten Manipulationen, derer Lydia Fitzsimons, die sinistre Hauptfigur dieses Psychothrillers, fähig ist. 

Dublin 1980: Scheinbar führt die Familie von Richter Fitzsimons das angenehme Leben der oberen Mittelschicht. Doch hinter der Fassade sieht es anders aus. Ein betrügerischer Anlageberater hat das gesamte Vermögen veruntreut. Es muss gespart werden. Man verkauft Familienerbstücke, Sohn Laurence wird von der teuren Privatschule abgemeldet, und Gatte Andrew kündigt seine Mitgliedschaft im Golfclub. Nur Ehefrau Lydias Bedürfnisse, und die sind nicht nur materiell, werden nicht angetastet. Mit tödlichen Konsequenzen.

Wie in ihrem Erfolgsroman „Kleine Grausamkeiten“ (Little Cruelties. 2020) erweist sich die irische Schriftstellerin bereits in diesem früheren Buch als Expertin für familiäre Abgründe und monströse Mutterfiguren. Ähnlich ist auch die auf multiperspektivisches Erzählen setzende formale Gestaltung. Allerdings unterscheiden sich die den individuellen Figuren zugeordneten Passagen vor allem inhaltlich, während der Stil einheitlich berichtend ist. Das ist angesichts der Ungeheuerlichkeit des gelegentlich konstruiert wirkenden Plots nicht unbedingt eine Schwäche und macht die Lektüre zu einer heilsamen Zumutung.

Liz Nugent: Auf der Lauer liegen (Lying in Wait, 2016). Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Steidl Verlag, Göttingen 2022. 269 Seiten, 28 Euro.

Kriminelle Naturtalente 

(JF) Vielleicht sind die Zeiten, als millionenschwere Oligarchen die Preise für Kunstwerke hochtreiben konnten, vorbei. Im vergangenen Jahr jedoch, als „Dämmerung. Falsch.“,  der erste Band einer neuen Krimireihe des schwedischen Autorenduo Nevala und Karlsson,  erschien, war die Vorstellung, dass Bilder eines fast vergessenen Künstlers aufgrund steigender Nachfrage, vor allem in Russland, zum Spekulationsgegenstand avancieren könnten, nicht unrealistisch. Ivan Botkin heißt der als „europäischer Edward Hopper“ gehypte Maler, dessen Oeuvre ziemlich unübersichtlich ist und so eine Einladung für gewiefte Fälscher und deren Auftraggeber darstellt. „Dämmerung. Falsch.“ zum Beispiel, das Gemälde, dem der Roman seinen Titel verdankt, ist nicht echt. Angefertigt hat es die geniale Fälscherin Nadezhda im Auftrag eines zwielichtigen Kunstschiebers. Das Geld braucht sie, um ihre Familie in der Ukraine zu unterstützen. Die Frage nach Gut und Böse scheint also geklärt. Das gilt auch, als die Kunststudentin ihrer Dozentin Nea Hallgren Hilfe anbietet, deren Gatte exorbitante Spielschulden bei gewaltbereiten Kriminellen angehäuft hat. 

Wir haben es also nicht in erster Linie mit einem „Stockholm-Krimi“ zu tun, wie der Verlag vermeintlich werbewirksam auf dem Cover behauptet, sondern mit einer sehr unterhaltsamen „Breaking Bad“-Variante im Kunstbusiness. Denn die beiden Heldinnen erweisen sich als kriminelle Naturtalente, die sich unliebsamer Konkurrenz nachhaltig zu erwehren verstehen. Dass ihnen dennoch unsere Sympathie gehört, dürfte aufgrund der Ausgangssituation keine Frage sein. Der bereits angekündigte zweite Band wird zeigen, ob diese Parteinahme weiterhin gerechtfertigt ist.

Nevala & Karlsson: Dämmerung. Falsch (Gryning. Falsk, 2021.) Aus dem Schwedischen von Karoline Hippe. Dumont Verlag, Köln 2022. 382 Seiten, 12 Euro.

Töten nach Zahlen 

(TW) Peter Farris´ Roman Letzter Aufruf für die Lebenden aus dem Jahr 2012, funktioniert so: Hicklin soll für die Aryan Brotherhood, nachdem er aus dem Knast heraus ist, eine Bank irgendwo im ländlichen Georgia überfallen. Das tut er auch, er erschießt die schwarze Filialleiterin und nimmt den Kassierer Charlie als Geisel mit auf die Flucht. Allerdings hält er sich nicht an die Abmachung mit seinen kriminellen Kumpanen, sondern zieht das Ding auf eigene Faust durch.  Jetzt sind sie alle hinter Hicklin her: Zwei ultrabrutale Schurken der Brotherhood, der Country Sheriff Lang und die Ermittlerin des Georgia Bureau of Investigation, Sallie Crews. Zwischen Hicklin und Charlie entwickelt sich eine Beziehung, die man als Stockholm Syndrom   bezeichnen könnte, wobei sich andeutet, dass Charlie möglicherweise Hicklins Sohn sein könnte. Nach einer langen Reihe von Gräueltaten, Folterungen und flächendeckenden Schießereien, unter anderem in der Kirche einer Schlangenanbetersekte, kommt es zum großen, bleihaltigen Showdown à la „The Wild Bunch“ (und nicht etwa „Butch Cassidy and the Sundance Kid“, weil der Roman absolut komik- und humorfrei ist).

Die Bausteine sind klar erkennbar: Viel Jim Thompson und „The Getaway“, ein Häppchen Cormack McCarthy, ein Spritzer Daniel Woodrell, ein bisschen Pulp Fiction – die beiden Brotherhood-Killer sind deutlich an Tarrantino angelehnt -, dazu White Trash inklusive Meth, Suff, unappetitlicher Sex, Südstaaten-Rassismus und Southern Pride, religiöser Wahn, ein versoffener Dorfsheriff, der diesmal alles richtig machen will, und ein paar Vignetten aus dem miesen Knastleben, pseudotiefsinnige Dialoge und eine Menge autotelischer Gewalt.  Diese Elemente sind – fast wie „Malen-nach-Zahlen“ – miteinander verschraubt, allerdings leider nicht sehr geschickt. Das hat unter anderem mit dem irritierenden Einsatz kursivierter Textpassagen zu tun, bei denen jedes Mal unklar ist, ob sie Flashbacks darstellen sollen oder inneren Monolog oder Element von Multiperspektivität. Und ein Plausibilitätsproblem hat der Roman zudem: Hicklin nimmt Charlie als Geisel, ohne anfangs zu ahnen oder gar zu wissen, dass der sein Sohn sein könnte, hat aber keinen einzigen Grund für diese Geiselnahme, denn er könnte problemlos ungesehen entkommen.  Er quält den eher nerdigen Charlie, demütigt ihn nach Strich und Faden – und wandelt sich dann zur aufopfernden Vater-Figur, während aus dem Muttersöhnchen Charlie mit zunehmendem Gewaltlevel endlich ein „richtiger“ Mann wird, der auch gewalttätig sein kann. Da, glaube ich, liegt das Manko des Romans: Es passt alles nicht richtig zusammen, weil alles wild übereinander aufgehäuft wird.  Oder es fehlt an origineller Variationskraft für Standardsituationen des Subgenres. 

Insofern ist „Letzter Aufruf für die Lebenden“ eine Art C-Picture; für Sammler*innen, Liebhaber*innen oder Philolog*innen des Country Noir möglicherweise eine Art interessante  Fußnote. Das Strickmuster auf jeden Fall scheint beinahe zeitlos, denn dass der Roman schon zehn Jahre alt ist, ist ihm kaum anzumerken. 

Peter Farris: Letzter Aufruf für die Lebenden (Last Call for the Living, 2012). Roman. Dt. von Sven Koch. Stuttgart: Polar Verlag, 2022. 423 Seiten, € 16,00

Killerpaar gegen Detektivpaar

Auch in Südkalifornien kann es zuweilen heftig regnen. An einer Kreuzung in North Hollywood läuft das Wasser nicht mehr ab und beginnt zu steigen. Eine Leiche im Regenwasserkanal hat eine Verstopfung verursacht: James Ballantine war mit zwei Schüssen in den Kopf getötet worden. Nachdem sich die polizeilichen Ermittlungen im Nichts verlaufen haben, setzt der Arbeitgeber des ermordeten afroamerikanischen Chemikers Privatdetektive auf den Fall an. 

Die Ausgangslage im Roman Pantherjagd des routinierten US-Autors Thomas Perry ist unspektakulär. Besonders machen diesen Krimi vor allem die Hauptfiguren: Die Privatdetektive Veronica »Ronnie« und Sid Abel sind ein älteres Ehepaar. Sie haben beide Jahrzehnte bei der Polizei gearbeitet, sie haben Kinder und inzwischen auch Enkel. Sid findet, dass graue Haare in ihrer Branche, in der man sich gerne unauffällig bewegt, sehr nützlich sind. Dennoch gerät das Paar, kaum hat es die Ermittlungen im Fall Ballantine aufgenommen, ins Visier von Auftragskillern. Dabei handelt es sich witzigerweise ebenfalls um ein Ehepaar: Nicole und Ed Hoyt. Ronnie und Sid sind keine einfachen Ziele. Mehrere Anschläge scheitern, obwohl dabei nicht nur im Schnellfeuermodus geschossen wird , sondern auch Häuser abgefackelt und in die Luft gesprengt werden. Das Killerpaar hat alsbald nicht nur Abels im Nacken, sondern auch die Auftraggeber, die von ihren Fehlversuchen genug haben.

»Pantherjagd» bietet viel Action, ein paar unerwartete Wendungen, ist spannend und witzig – prima Unterhaltung, die nicht mit viel Tiefgang auftrumpfen will. Ronnie und Sid Abel könnten attraktive Serienfiguren sein. Doch Perry scheint das nicht vorgesehen zu haben – der Roman erschien im Original schon vor sechs Jahren, und in seinem halben Dutzend neueren Romanen kommen die Abels nicht mehr vor.

Thomas Perry: Pantherjagd (Forty Thieves, 2016). Aus dem Englischen von Alexandra Baisch. Knaur Taschenbuch, München 2022. 397 Seiten, 11,99 Euro. 

Und hier die Bloody Chops der letzten Monate

Juli/ August 2022:

Kaśka Bryka: Die Eistaucher
S. A. Cosby: Die Rache der Väter 
James Ellroy: Allgemeine Panik
Peter Farris: Letzter Aufruf für die Lebenden 
Max Korn: Talberg 1935
Max Korn: Talberg 1977
Max Korn: Talberg 2022
Manfred Rebhandl: Erster Mai
Barry Windsor-Smith: Monster 

Juni 2022:
Stephen Mack Jones: Princess Margarita Illegal
Eryk Pruitt: Das schnelle Leben
Jacob Ross: Die Knochenleser

Mai 2022:
Louis Bayard: Der denkwürdige Fall des Mr Poe
William Boyle: Brachland 
Manfred Ertel: Akte B. Wenn die Möwen tiefer fliegen
Herbert Genzmer: liquid
Peter Heller: Die Lodge
Katoro Isaka: Bullet Train
Nick Kolakowski: Payback is forever
Mindy McGinnis: Lost – in der Wildnis hört dich niemand 
Mary Paulson-Ellis: Die andere Mrs. Walker 
Marie Rutkoski: Real Easy
Lilja Sigurdatóttir: Betrug

April 2022:
Mathijs Deen: Der Holländer
Ellen Dunne: Boom Town Blues
Horst Eckert: Das Jahr der Gier
Wolf Haas: Müll
Chang Kuo-Li: Der grillende Killer
Martin Maurer: Der Kreis

Loraine Peck: Der zweite Sohn
Samira Sedira: Wenn unsere Welt zerspringt
Leonhard F. Seidl: Vom Untergang
Brian Selfon: Nachtarbeiter

Deb Olin Unferth: Happy Green Family
David Heska Wanbli Weiden: Winter Counts

März 2022:
Massimo Carlotto: Und es kommt ein neuer Winter
Patrick Findeis: Paradies und Römer
Thomas Hoeps und Jac Toes: Der Tallinn Twist
Riku Onda: Die Aosawa Morde
Fabio Stassi: Ich töte wen ich will

Februar 2022:
Herbert Heinrich Beckmann: Es sind Kinder
Thomas Christos: 1966
Candas Jane Dorsey: Drag Cop
Candice Fox: 606 
Zhou Haohui: 18/4. Der Hauptmann und der Mörder
Michael Jensen: Blutgold
Josef Kleindienst: Mein Leben als Serienmörder
Denise Mina: Totstück
Alan Parks: Bobby March forever
Scott Thornley: Der gute Killer

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