Geschrieben am 4. März 2019 von für Crimemag, CrimeMag März 2019

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – März 2019

Bücher kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Iris Tscharf (IT) und Thomas Wörtche (TW) über:

Harry Bingham: Fiona: Unten im Dunkeln
Larry Brown: Joe
Franzobel: Rechtswalzer
Burt Glinn: Kuba
Frank Göhre & Alf Mayer: King of Cool. Die Elmore Leonard Story.
Bernhard Jaumann: Der Turm der blauen Pferde
Jonathan Lethem: Der wilde Detektiv
Niklas Natt och Dag: 1793
Sara Paretsky: Kritische Masse
Daniel Pennac: Der Fall Malaussène: Sie haben mich belogen
Santo Piazzese: Blaue Blumen zu Allerseelen
Iain Reid: Enemy
Jonathan Robijn: Kongo Blues
Christian Schünemann, Jelena Volić: Maiglöckchenweiß
Gary Victor: Im Namen des Katers
Klaus-Peter Wolf: Ostfriesennacht
Jeong Yu-jeong: Der gute Sohn

Extrem vergnüglich und lehrreich

(TW) Ein Virtuose ökonomischen Erzählens, dessen Einfluss auf die Literatur- und Filmgeschichte unserer Zeit gar nicht überschätzt werden kann, war Elmore Leonard (1925-2013). King of Cool. Die Elmore Leonard Story ist ein “Lesebuch” von Frank Göhre und Alf Mayer – nach der bewährten Methode der beiden Verfasser (und natürlich exzellenten Kennern ihres Gegenstands), die sie schon in ihrem Ed McBain-Buch „Cops in the City“ ausgefaltet hatten: Möglichst viel Information, also Bio-, Biblio- und Filmographie, möglichst viele Zeitzeugen und schlaglichtartige, ausführlichere Exkursionen zu ausgewählt wichtigen Werken so zu montieren, dass nicht nur eine möglichst konsistente Lebens- und Werkgeschichte sichtbar wird, sondern auch alle möglichen und relevanten Kontexte aufgerufen werden.  

So entsteht hier zum Beispiel noch eine subkutane, aber interessante und wichtige Geschichte der Produktionsbedingungen von Texten und Filmen, die ja auch immer ihren ästhetischen Niederschlag finden, wie subtil der auch sein mag. Das ist eine letztendlich sehr objektivierende Methode, zumal sich Göhre & Mayer kalten Analysen und spekulativer Interpretationen enthalten, genauso wie sie der Falle des Hagiographischen entgehen. Sie machen Elmore Leonard einladend, die Lektüre des mit Anekdoten gespickten Bandes extrem vergnüglich und lehrreich, wie es sein soll.
Über die Qualitäten und den Rang Leonards müssen wir hier nichts sagen, das alles ist evident und nicht verhandelbar. Vielleicht nur eines: Elmore Leonard gehört zu den Autoren, deren Literatur nie nach den Parametern des globalen Literaturbetriebs geschielt haben. Er war viel autochthoner „amerikanisch“ als die vielen Feuilletonlieblinge von der Ostküste, ein Schicksal, das er mit George V. Higgins oder auch Ross Thomas teilte. Das hatte gerade bei uns eine sehr snobistische und defiziente Rezeption als „Krimiautor“ zur Folge, den man meinte, übersehen zu dürfen und so können. Welch intellektuelle Enge und Beschränktheit. King of Cool ist das geeignete Antidot. Kaufpflichtig.

  • Frank Göhre & Alf Mayer: King of Cool. Die Elmore Leonard Story. CulturBooks, Hamburg 2019. Klappenbroschur, 240 Seiten, 15 Euro. Siehe auch den Textauszug „Ein Mann wie Bronson“ in dieser CrimeMag-Ausgabe.

Opak, bizarr, vieldeutig – und neu

(TW) Erst gewinnt Donald Trump die Präsidentschaftswahl, dann stirbt auch noch Leonard Cohen – zwei Schläge im November 2016, die Phoebe Siegel, Medienprofi aus Manhattan, schwer treffen. Sie fällt in ein tiefes Loch, ist verzweifelt, deprimiert, orientierungslos. Um nicht ganz katatonisch zu werden, begibt sie sich auf die Suche nach der verschwundenen Tochter ihrer besten Freundin. Eine Suche, die sie nach Kalifornien zu einem Privatdetektiv mit dem bezeichnenden Namen Charles Heist führt (heist, engl. = Raub; heist novel = Subgenre der Kriminalliteratur), auch bekannt als der „wilde Detektiv“. Zusammen machen sich die beiden auf einen Roadtrip in die Wüste, wo übrig geliebene Hippie-Communities im Lauf der Jahrzehnte zu mehr oder weniger atavistischen „Stämmen“ mutiert sind: Zu den eher pazifistischen „Kaninchen“ und zu den eher aggressiven „Bären“. Bei Letzteren wiederum ist Charles Heist aufgewachsen, ihren blutigen Ritualen muss auch er sich unterziehen, damit Phoebe und er die verschwundene, junge Frau heimholen können.

Seit „Motherless Brooklyn“ (1999), dem Roman über einen Privatdetektiv mit Tourette-Syndrom, hat Jonathan Lethem immer wieder mit allen möglichen Formen und Themen der Populärkultur jongliert, meistens hybrid, meisten mit deutlichen Akzenten auf der Meta-Ebene. So scheint auch Der wilde Detektiv zunächst ein klassischer Privatdetektivroman zu sein: Ein exzentrischer Ermittler, der zwar ein Opossum statt einer Whisky-Flasche im Schreibtisch hat, und eine Klientin, die anscheinend Aussichtsloses verlangt. Aber im Lauf der Handlung verdrehen sich die Verhältnisse: Phoebe wird die treibende Kraft, ohne sich zur genretypischen femme fatale herauszustellen. Das „Monster im Turm“ verändert alles, die alten Parameter der amerikanischen Gesellschaft geraten durcheinander, die atavistischen Stämme werden zu ironisch-alternativen Optionen, das Amerika, das Phoebe und Heist durchreisen, erscheint wie ein surreales Panorama, zusammengesetzt aus „Mad Max – Fury Road“, J.G. Ballards „Hello, America!“ und Baudrillards „Amérique“. Opak, bizarr, vieldeutig und undurchsichtig, manchmal wie ein schlechter Trip im gleißenden Licht der Wüstensonne, dann wieder von Regen und Schlammlawinen verdüstert. Aber nicht hoffnungslos, was Lethem in das wunderbare Bild einer Bikerin übersetzt: Ein „goldenes Mädchen“ auf einer „chromgelben Harley“ auf dem Weg in ein „fabelhaftes Nirgendwo“ – der Weg, den auch Phoebe nehmen wird.

Gleichzeitig „modernisiert“ Lethem den guten, alten Privatdetektivroman: Er belässt ihm sein Kerngeschäft der Aufklärung, bei allem Zweifel an der Aufklärbarkeit der Welt. Aber Lethem macht auch klar, dass neue Erzählstrategien dafür nötig sein werden. Solche zum Beispiel, wie sie Der wilde Detektiv anbietet.

  • Jonathan Lethem: Der wilde Detektiv (The Feral Detective, 2018). Übersetzt von Ulrich Blumenbach. Tropen Verlag, Stuttgart 2019. 335 Seiten; gebunden, 22 Euro.

Raffinierter Zukunftsthriller mit Stil

(IT) Iain Reid hat mit Enemy eine stilistisch äußerst raffiniert erzählte Zukunftsgeschichte geliefert, die sich mit künstlicher Intelligenz, der Datensammlung, der Besiedelung des Weltalls und dem freien Willen beschäftigt. Dieses Buch verzichtet auf Action, der Schrecken kommt heimlich, durch die Hintertür, durch den Stil.

Die Story beginnt allerdings nicht irgendwo im All, sondern in einer einsamen Gegend inmitten von Rapsfeldern, auf denen Hybridgewächse angebaut werden. Fast beschaulich fängt der Text im ländlichen Setting an. Hier wohnen Henriette und Junior zurückgezogen auf einem Hof. Junior arbeitet in einer Fabrik für Saatgut, Freunde und Verwandte gibt es keine. Überhaupt ist hier alles einsam. Als sich Scheinwerfer über die Zufahrt dem Hof nähern, ist spürbar, dass dies ein ungewöhnliches Geschehen ist. Etwas nicht Alltägliches, hier im Nirgendwo.

Terrence, so heißt der Mann von OuterMore, der vor Junior steht und ihm mitteilt, dass er für ein Forschungsprojekt in Frage kommt und die Regierung für seine Frau während seiner Abwesenheit sorgen würde. Schnell ist klar: Dieses Forschungsangebot ist eine Aufforderung und kein Angebot. Ohne eine Zusage von Junior abzuwarten, beginnen die Vorbereitungen für das neue Projekt von OuterMore, bei dem man immer mehr merkt, dass Junior keine Entscheidungsfreiheit hat, ob er an diesem Projekt teilnehmen will oder nicht.
OuterMore ist sowieso allgegenwärtig. Die Zukunft ist künstlich! Die Zukunft gehört OuterMore, einem Konzern, das mit autonomen Fahren a la Tesla angefangen und die Forschung in diesem Bereich vorangetrieben hat, so dass sich OuterMore nun der Luft- und Raumfahrt zugewendet hat. OuterMore bietet aber noch mehr, viel mehr. OuterMore ist überall, wenn auch völlig unbemerkt, wie ein Schatten.

Iain Reid hat hier eine gruselige Zukunftsversion einer Welt mit künstlicher Intelligenz entworfen. Von Anfang an begleitet das Lesen ein ungutes Gefühl, ein Gefühl der Nötigung, der Gefahr, aber all das ganz leise, ganz unterschwellig zwischen den Zeilen. Raffiniert hat Reid dies stilistisch in der Geschichte umgesetzt, denn schon nach den ersten Seiten fragt man sich, warum einzig die Hauptfigur in indirekter Rede spricht und stellt erste Vermutungen an. In einer Welt, in der künstliche Intelligenz so integriert ist, dass man keinen Unterschied mehr zwischen Echt und Falsch erkennen kann, in einer Welt, in der Datensammlung ungeahnte Ausmaße annimmt, in einer Welt, in der Konzernmitarbeiter uneingeschränkte Befugnisse haben, tja, so eine Welt sorgt für Schrecken beim Lesen. Auch ganz ohne Action, dafür mit viel Stil. Zitat:

„Alles verändert sich. Veränderung, Wandel gehört zu den wenigen Gewissheiten im Leben. Menschen machen Fortschritte. Wir können gar nicht anders. Wir entwickeln uns weiter. Wir kommen voran. Wir expandieren. Was weit hergeholt und extrem erscheint, wird normal und ist schon bald überholt.“

  • Iain Reid. Enemy. Psychothriller. Aus dem kanadischen Englisch von Anke und Eberhard Kreutzer. Droemer Knaur, München 2019. 304 Seiten, 14,99 Euro.

U-Wert auf höchstem Level

(TW) Als Rowohlt den Relaunch der Fiona-Serie von Harry Bingham startete, gab es zurecht viel Lob und Applaus – siehe auch bei CrimeMag: „Absolute Spitzenklasse“. Jetzt, beim vierten Buch, Fiona – Unten im Dunkeln, ist es ein bisschen ruhiger geworden. Das ist schade, denn Binghams Production Design setzt auf Concept Art, was wahrlich nicht für jede beliebige Serie gilt. Will sagen: Die Entwicklung der Figur Fiona ist für den jeweiligen Roman konstitutiv wichtig. Detective Constable Fiona Griffiths von der Waliser Polizei leidet unter dem Cotard-Syndrom, eine Krankheit, die die Patientin glauben lässt, sie sei tot – einhergehend mit Persönlichkeitsstörungen, Wahnvorstellungen, sozialer Desorientierung, Depressionen und merkwürdig verteilter Empathie. Fiona, die sich auch blitzschnell in die Putzfrau Fiona Grey verwandeln kann, kennt ihre Probleme genau und versucht, auf dem „Planeten Normal“ zu landen, mittels sozialer Mimikry. Und sie ist ein Genie der Mustererkennung, deswegen sieht sie Zusammenhänge, die anderen Menschen verborgen bleiben. Im Fall Unten im Dunkeln gibt es nur mikroskopisch kleine Hinweise, dass ein Versicherungsbetrug, ein anscheinender Selbstmord und ein anscheinender Unfall Mosaiksteinchen eines gigantischen Betrugsszenarios sind, das mit der Schnelligkeit von Datenübertragungen bei Finanzoperationen zu tun hat. Und somit mit Kabeln, die im Atlantik verlegt werden.

Nach einigen Twists und Wendungen, die auch in die reichlich abgedrehte Welt von Hochrisiko-Kletterern führt, landet Fiona zunächst auf einem Folterstuhl mitten im ländlichen Wales – eine irre Situation, denn wie will man jemand foltern, der denkt, er sei schon tot? Und schließlich heuert sie, die schlechteste Köchin der Welt, als Smutje auf einem Fischtrawler an, der alles andere als Fischen im Sinn hat. Diesen Wahnsinnsplot, der auch noch in andere Richtungen zielgerichtet mäandert, lässt Bingham von Fiona selbst erzählen, die sozusagen ihre eigene, selbstreflektive Metaebene mitliefert. Das ist extrem komisch (Fiona und das Soziale), radikal (Fiona und die Folter), provozierend (Fionas Obsession für Leichen) und sehr erfreulich intelligent und elegant in beste Prosa umgesetzt. Wenn wir weiter darauf bestehen wollen, dass sich Kriminalliteratur nicht der U/E-Schere ergeben soll, brauchen wir dringend Bücher mit hohem U-Wert auf höchstem Level. Binghams Fiona-Serie ist ein Paradebeispiel dafür.

  • Harry Bingham: Fiona: Unten im Dunkeln (This Thing of Darkness, 2015). Fiona Griffiths, Band 4. Übersetzt von Kristof Kurz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. Taschenbuch, 608 Seiten, 9,99 Euro.

Ungemein erfolgreich

(JF) „Ein Mörder geht um in Ostfriesland“, kann man auf der Rückseite des neuen Romans des „Spiegel Online Bestseller-Autors“  Klaus-Peter Wolf lesen. Er töte Frauen dort, „wo sie sich am sichersten fühlen“, nämlich in Ferienwohnungen. Und zwar“ nur nachts“. Ein Fall für Kommissarin Ann Kathrin Klaasen, die mehr Serienkiller überführt habe als sonst jemand in Deutschland. Vermutlich halte sie „sogar in ganz Europa die Spitze“, vermutet ihr Kollege Winfried Kleinert vom Einbruchsdezernat. Frau Klaasen weiß zu diesem Zeitpunkt – wir befinden uns erst auf Seite 79 von 456 – natürlich noch nicht, was die Produktbeschreibung längst verraten hat und geht von einem „einfachen Mordfall“ aus. Zur Freude des treuen Publikums dieser ungemein erfolgreichen Serie blutrünstiger Regionalkrimis wird sie bald eines Besseren belehrt. Der Serienmörder lauert bereits seinem nächsten Opfer auf. Und wie es eines der Gesetze dieses seltsamen Genres will, wird er nicht nur von Rachegedanken heimgesucht, sondern sieht sich auch als verhinderten Künstler. „Ja vielleicht hätte er wirklich Filmregisseur werden müssen, um seine Phantasien zu verwirklichen. Mehrfach war er am Set dabei gewesen, als in Ostfriesland eine berühmte Krimireihe verfilmt wurde.“

Metafiktionale Spielereien dieser Art sind eines der Markenzeichen der Reihe. Damit einher geht die Aufnahme realer Personen ins Figurenensemble, „Authentizität“ nennt das der Autor in einem Interview am Ende von Ostfriesennacht. Er wolle „richtige Menschen erzählen“. Erfunden habe er nur die Morde. Den richtigen Menschen, die massenhaft Wolfs Bücher erwerben, ist dieses ästhetische Konzept sympathisch. Und deshalb benötigen sie auch keine literaturkritische Beratung. Mit „wirklich guter Kriminalliteratur“, die wie Wolf sagt, „ein gesellschaftlicher Seismograph“ sei, hat das allerdings nichts zu tun.

  • Klaus-Peter Wolf: Ostfriesennacht. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2019. 475 Seiten, 10,99 Euro.

Finster unterhaltsam

(JF) Vom menschlichen Elend in all seinen Facetten erzählt der Debütroman des schwedischen Journalisten Niklas Natt och Dag. Nur vordergründig geht es in 1793 um die Suche nach einem perfiden Mörder mit Sinn für ausgeklügelte Grausamkeiten. Nach gut einem Drittel des Buches ist das genretypische Ermittlerpaar, ein tuberkulosekranker genialer Jurist und ein kriegsversehrter Trunkenbold, in der sprichwörtlichen Sackgasse gelandet, aus der ihnen nur noch jemand helfen kann, der „mehr“ wisse, aber dem es „noch nicht begegnet“ sei. Selbstverständlich gibt es diese Person, deren Protokoll in Form von nicht abgesandten Briefen auf den folgenden 80 Seiten zu lesen ist. Doch noch halten die beiden Detektive die Beweismittel nicht in Händen. Um das zu bewerkstelligen wird eine weitere Figur benötigt, deren Geschichte den dritten Teil des Romans einnimmt. Die Entlarvung des Mörders im abschließenden Teil IV erfolgt erwartungsgemäß auf unkonventionelle Weise. Dass ihm die intellektuelle Hälfte des Ermittlerduos allerdings  mithilfe eines raffinierten Tricks seine Verachtung der Welt und ihrer menschlichen Bewohner austreibt, damit er bereitwillig seine Hinrichtung als gerechte Strafe akzeptiert, ist eine überraschende, aber folgerichtige Pointe am Ende dieses finsteren, aber sehr unterhaltsamen historischen Romans, der virtuos mit den Strukturelementen gleich mehrerer Populärgenres spielt, um  letztendlich als Exerzitium in misanthropischer Dialektik im Gedächtnis zu bleiben.

  • Niklas Natt och Dag: 1793 (2017). Aus dem Schwedischen von Leena Flegler. Piper Verlag, München 2019. 495 Seiten, 16,99 Euro.

Korruption auf Balkanart

(IT) In 25 Jahren kann eine Menge passieren. Kleine Jungs werden erschlagen, der Ministerpräsident umgebracht, Serbien langsam in die EU integriert. 25 Jahre liegen zwischen zwei Männern, die einst beste Freunde waren und deren Wege sich getrennt haben und nun wieder zusammenführen. Auf tödliche Weise.

Christian Schünemann und Jelena Volić schreiben nicht nur lesenswerte Krimis, sondern blicken auch hinter die Fassade von Serbien und beleuchten die Konflikte eines zerrissenen Landes. Raffiniert flicht das Autorenduo serbische Politik und Kultur in die Handlung ein und lässt so ein spannendes Panorama eines zweigeteilten Landes entstehen.

In Maiglöckchenweiß, dem dritten Band der Milena-Lukin-Reihe, wird schnell klar: In Serbien verläuft Aufklärung anders. Korrupter. Besonders wenn die Spuren in die serbische Oberklasse führen, wird da schnell mal der Deckel auf die Akte gelegt und geschwiegen. Aber Milena schweigt nicht, stolpert in den Fall und beißt sich nicht nur an Geleebananen fest, sondern auch an dem Mordfall, den niemand aufklären will. Mittlerweile hat sie zwei Jobs, ist alleinerziehende Mutter und bleibt gnadenlos und unkonventionell am Fall dran. Der vor 25 Jahren erschlagene Junge war ein Roma-Kind, der nur mal schnell ein paar Bonbons vom Kiosk holen wollte und nie wieder zurückgekehrt ist. Einer der jugendlichen Schläger wurde damals verurteilt, der andere nicht. Und einer der beiden Schläger ist jetzt – 25 Jahre später – tot. Doch dieser Deckel auf der Akte wiegt schwer und zeigt, wie korrupt ein Land sein kann. Stillschweigen. Nur ein Maiglöckchen in einem Glas vor dem Kiosk erinnert noch heute an den getöteten Zehnjährigen.

  • Christian Schünemann und Jelena Volić: Maiglöckchenweiß. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 352 Seiten, 12 Euro.

Regionalität, sinnvoll

(TW) Santo Piazzese war, neben Jean-Claude Izzo, sicher einer der profiliertesten Autoren des sich in den 1990er und frühen 2000er Jahren allmählich formierenden noir méditerranée. Seine Romane über Palermo (am bekanntesten der Klassiker: „Die Verbrechen in der Via Medina-Sedonia“) integrierten Regionalität in die großen Zeitströmungen – besonders was den Zusammenhang von Organisierter Kriminalität und Politik anging. Jetzt hat die winzige Edition Converso einen bislang unübersetzten Roman, Blaue Blumen zu Allerseelen (von 2002), endlich auf unseren Markt gebracht. Ein mit allen Wassern der Moderne gewaschener Text, der anhand eines Mafia-Mordes, der aussieht wie ein Beziehungstat, aber genau deswegen ein Mafia-Mord ist, ein unglaublich detailliertes und nuanciertes Porträt von Palermo als Stadt im Wandel liefert – irgendwo zwischen Tradition (Katholizismus) und Moderne, zwischen Gewalt und Hoffnung, Pracht und Rott. Und immer voller wollüstiger Sinnlichkeit. Selten bekommt man den Unterschied zu den ganzen elenden neuen „Tourismus-Grimmis“ so deutlich um die Ohren geschlagen. Grandios.

  • Santo Piazzese: Blaue Blumen zu Allerseelen (Il soffio della valanga, 2003). Deutsch von Monika Lustig. Edition Converso, Bad Herrenalb 2019. 326 Seiten, 21 Euro.

Groteske als Aufruf

(JF) Am 6. September 2024 gerät Malte Dinger, Besitzer eines florierenden Getränkevertriebs, in der Wiener U-Bahn in eine Fahrkartenkontrolle. Knapp drei Monate später wird er wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 25 Jahren verurteilt. Wie es dazu kommen konnte, erzählt der wortgewaltige österreichische Schriftsteller Franzobel in seinem dritten Kriminalroman Rechtswalzer auf drastische Weise. Und wie so oft, wenn wir Zeugen des unaufhaltsamen Abstiegs einer fiktiven Person werden, überkommt uns ein wohliges Schaudern ob der mit Verve geschilderten Unsäglichkeiten, die dem unschuldig Leidenden widerfahren. Das ist die schreckliche Natur des Menschen.

Während also der bedauernswerte Herr Dinger die Bekanntschaft mordlustiger Nazis und anderer abscheulicher Figuren macht, ermittelt Falt Groschen, Gruppeninspektor bei der Wiener Kriminalpolizei, aber inzwischen „wegen der Fernsehkrimis“ selbst von Kollegen als „Kommissar“ tituliert, in einem mysteriösen Mordfall, dessen Verbindung zum Schicksal des zu Unrecht in den Mühlen einer gnadenlosen Justiz gelandeten Getränkehändlers erst zum Ende des Romans aufgeklärt wird. Derweil gestaltet die rechtsradikale Partei LIMES, eine extrem verschärfte Version der populistischen FPÖ, die Verhältnisse im Alpenstaat nach ihren Vorstellungen um. Folgerichtig beschließt den Roman ein „Glaubensbekenntnis“, das mit dem Satz „Ich glaube an das Volk der Österreicher, an ein heiliges Reich und an den Sieg des LIMES“ anhebt. Ob Groschen, der den Text von zwei „geheimen Staatspolizisten“ zur Unterschrift vorgelegt bekommt, sich der neuen absoluten Staatsmacht fügen wird, bleibt offen.

Wie man am Datum unschwer merkt, handelt es sich bei dieser Krimigroteske um eine politische Dystopie, mit der Franzobel, wie er im Nachwort formuliert, gerade die junge Generation dazu aufrufen möchte, „allen gesellschaftlichen Tendenzen, die in Richtung Totalitarismus gehen, zu trotzen“. Ein Anliegen, das  unbedingt jede Unterstützung verdient. Ob allerdings ein auf satirische Übertreibung und behaglichen Grusel setzender Kriminalroman das richtige Mittel dazu ist, wäre zu diskutieren.

  • Franzobel: Rechtswalzer. 472 Seiten. Zsolnay, Wien 2019. xx Seiten, 19 Euro.

Krass und unterhaltsam

(TW) Hohen Unterhaltungswert bieten die Haiti-Romane von Gary Victor. Das liegt einmal an seiner Hauptfigur, Inspecteur Dieuswalwe Azémar,  der alles Mögliche ist: irre, gewalttätig, versoffen und verhurt, aufrecht und radikal, aber keine Sekunde langweilig. Das gilt auch für seine bizarren Abenteuer – das neuste heißt Im Namen des Katers, in dem es tatsächlich um einen entführten (?) Kater geht, um Katzenfleischesser, die zuhauf  abgemetzelt werden, um einen garde (einen Voodoo-Schutzzauber), der in Azémar implantiert ist, der aber plötzlich ziemlich abwegige Gegenleistungen fordert, wie zum Beispiel geliebte Menschen zu köpfen. Aber natürlich geht es dann letztlich um was ganz anderes. Denn es kommen ganz handfeste Elemente hinzu, die Haiti zu so einem chaotischen und blutigen Ort machen: Verteilungskämpfe von Gangs, politische Macht und blanke Ausbeutung, Regierungskriminalität und narcotráfico. Für einen anständigen Menschen wie Azémar bedeutet das: töten, töten und töten, die einzige Diskursform, die noch einigermaßen sinnvoll zu sein scheint. Eine grausige Dialektik, deren systemischem Zwang Victor mit seinem  grotesken, oft halluzinatorischen Humor begegnet, mit der Art von schwarzer Komik, die, ganz im Sinn von Jean Paul, „weltzernichtend“ sein muss, um überhaupt noch über die Welt erzählen zu können. Das ist krass, aber eben auch extrem unterhaltend.

  • Gary Victor: Im Namen des Katers (Cures et châtiments, 2013). Aus dem Französischen von Peter Trier. Litraduct Verlag, Trier 2019. 168 Seiten, Softcover, 12 Euro.

Scharfäugiger Zeitkommentar

(TW) Seit Jahren oder sogar Jahrzehnten war Sara Paretsky vom deutschsprachigen Buchmarkt verschwunden, vermutlich weil der Algorithmus ihrer Romane sich allmählich abgenutzt hatte. Jetzt ist sie mit dem 16ten Roman über ihre Privatdetektivin V. I Warshawski aus Chicago wieder da: Kritische Masse. Die Pause hat vermutlich gut getan, die Standardästhetik der 1980er und 1990er trägt (von heute geschaut: verblüffenderweise) immer noch einen stocksoliden, man möchte fast sagen gediegenen, klassischen PI-Roman, mit den Paretsky-typischen Kommentaren zur aktuellen Zeitgeschichte. Was damals fast formatiert erschien, kommt heute unaufgeregt, abgeklärt und souverän rüber. Das Riesenpanorama, das in den 1930er Jahren in Wien beginnt und sich über die amerikanische Atomrüstung bis zu heutiger Highend-Forschung zieht und nebenbei ein fiktionalisiertes Lebensbild der bedeutenden österreichischen Physikerin Marietta Blau liefert, ist brillant recherchiert, betont immer wieder die Relevanz des Historischen für das Heutige, setzt cool-zynischem Zeitgeist einmal mehr Empathie entgegen und bietet, auch weil die Figur Warshawski nicht wesentlich altert und schön gelenkig geblieben ist, jede Menge Action. Kritische Masse ist ein scharfäugiger, kritischer Zeitkommentar, verpackt in ein angenehmes Wohlfühldesign, bewährt, routiniert, gut. Zustimmungspflichtig auf jeden Fall.

  • Sara Paretsky: Kritische Masse (Critical Mass, 2013). Deutsch von Laudan & Szelinski. Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2013. Hardcover, 540 Seiten, 24 Euro. Als eBook Longplayer bei CulturBooks, 19,99 Euro. 

Hochkomplexe Angelegenheit

(TW) Punktgenau greift Der gute Sohn von Jeong Yu-jeong eine Säule der südkoreanischen Gesellschaft an: Die Familie. Yu-jin, der gute, stets gehorsame, pflichtbewusste, fleißige und brave Sohn, erwacht eines Morgens blutbesudelt und findet seine Mutter hingeschlachtet vor. Man hatte Yu-jin immer davon überzeugt, er sei Epileptiker und bedürfe deswegen des besonderen Schutzes seiner helikopterischen Mutter und seiner womöglich noch dominanteren Tante.
Yu-jin, der Ich-Erzähler des Roman, entpuppt sich allerdings im Verlauf der Geschichte als etwas ganz anderes: Als Psychopath reinsten Wassers, dessen nette Unauffälligkeit seine stärkste Waffe ist. Aber Der gute Sohn ist nicht noch einer der inzwischen üblichen, aus dem belly of the beast erzählten Serialkiller-Schwarten. Der Roman, obschon auch blutig robust und an vielen Stellen erfreulich makaber, ist eine hochkomplexe Angelegenheit, der nicht nur die Familie als Ort des stillen Schreckens auseinandernimmt, sondern weiter geht: Er diskutiert die Frage nach „dem Bösen“ in aller Dialektik zwischen (genetischer?) Veranlagung und Sozialisation. Und damit knallen gesellschaftspolitische und letztlich anthropologische Konzepte aufeinander, zugespitzt, pointiert, schmerzhaft. Nicht zustimmungspflichtig, aber großartig gemacht und faszinierend. Vor allem auch spannend und mitreißend, weshalb Jeong Yu-jeong in Südkorea den Status eines Popstars hat. Erfolg geht auch mit Qualität, hoffentlich auch bald bei uns.

  • Jeong Yu-jeong: Der gute Sohn. Thriller. Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel. Unionsverlag, Zürich 2019. 320 Seiten, 16,99 Euro.

Toxische Stille

(TW) Kongo Blues von Jonathan Robijn ist ein Debut-Roman aus Belgien, ein stilles, kleines Meisterwerk. Brüssel, Neujahrsnacht 1988. Morgan, ein „älterer afrikanischer Herr“, von Beruf Jazz-Pianist, findet eine junge Frau auf der Straße und nimmt sie bei sich auf. Sie krempelt sein von resignierter Melancholie bestimmtes Leben um, bis sie eines Tages einfach verschwindet. Die Suche nach ihr verwandelt sich zusehends in die Suche der eigenen Persönlichkeit von Morgan und führt direkt in die Horrorgeschichte des belgischen Kolonialismus. Es mag ein bisschen forciert sein – aber die toxische Stille, die beinahe schon bleierne Melancholie des schmalen Romans erinnert an ein Hauptwerk der belgischen Literatur: „Bruges-la-Morte“ von Georg Rodenbach, wobei natürlich der brutale Kolonialismus, der der Geschichte zu Grunde liegt, die subtilen symbolistischen Verschlüsselungen nicht mehr braucht. Am Ende bleiben sowieso mehr Fragen und mehr Ratlosigkeit, als das Aufklärungsgebot des Standardkrimis erlauben würde. Aber „Kongo Blues“ ist eben kein Standardkrimi und deswegen ein sehr origineller Kriminalroman.

  • Jonathan Robijn: Kongo Blues (Congo Blues, 2017). Aus dem Flämischen von Jan-Frederik Bandel. Edition Nautilus, Hamburg 2019. 176 Seiten, 16,90 Euro.

Stagnation

(TW) Nach fast zwanzig Jahren ein neuer Roman von Daniel Pennac aus dem Malaussène-Universum: Der Fall Malaussène: Sie haben mich belogen – das ist zunächst mal zustimmungspflichtig. Die Meta-Kriminalromane um den unwahrscheinlichen Pariser Familienclan der Malaussène waren in den 1980er und 1990ern Paradebeispiele für  „postmoderne“ Kriminalliteratur: Autoreferentiell, intertextuell, autoreflexiv, totalironisch.  Es waren die großen Zeiten von Jerome Charyn, Andreu Martín, Jerry Oster, Helen Zahavi, Paco Ignacio Taibo II, Derek Raymond und anderen, die die Standardversionen von Kriminalliteratur zerlegten.  Die überkommenen Erzählkonventionen lagen in Trümmern, das Zertrümmern selbst wurde im Lauf der Zeit zum fahlen Algorithmus wie jeder andere.

An diesen dekonstruktivistischen Prinzipien hält Pennac auch heute noch fest: Deswegen ist die Geschichte der Entführung, eines Kapitalisten die zunächst als „Kunstinstallation“ gedacht ist und dann aus dem Ruder läuft, konzeptuell sehr schön gedacht, aber unter dem ganzen Trommelfeuer von erzähltechnischen Kniffen, Tricks und Täuschungen, unter den Lawinen von Anspielungen, Zitaten, Abschweifungen, Perspektivwechseln und Brüchen fast unsichtbar oder besser: verschüttet. Natürlich ist das alles sehr gemütlich und vergnüglich: Exkursionen zum Erzählen an und für sich, satirische Zeitkommentare zur politischen Lage in Frankreich, mehr oder weniger subtile Seitenhiebe auf den Kulturbetrieb – nichts, über das man böse sein könnte. Aber auch nichts, was beißt. Nur: Dass eine einst so progressive Ästhetik so erschreckend museal werden kann, ist keine schöne Erkenntnis. Stagnation, Petrifizierung, leider.

  • Daniel Pennac: Der Fall Malaussène: Sie haben mich belogen (Le cas Malaussène – Ils m´ont menti, 2017). Deutsch von Eveline Passet. KiWi Verlag, Köln: 2019. 304 Seiten, Klappenbroschur, 15 Euro.
Joe von Larry Brown

Nicht noir, aber auch nicht nicht-noir

(TW) Larry Brown (1951 – 2004) war ein begnadeter Autor von Kurzgeschichten.  In seinem Roman Joe scheint diese Qualität des Öfteren auf: In einer großartigen Szene, in der ein hartgesottener Säufer eigentlich Lebensmittel für seine Familie im Supermarkt einkaufen soll, aber Produkt für Produkt ausrechnet, wieviel Kohle mehr er für Alk rauschinden kann, wenn er noch schlechtere Qualität für seine Leute kauft. Oder wenn Brown einen Arbeitstrupp schildert, dessen Job es ist, gesunde Bäume zu vergiften, damit Flächen für Monokulturen entstehen. Das sind schon Prosaperlen, kein Wort zu viel, konzentriert, sensibel und unendlich beredt. Leider trägt dieses Prinzip nicht für den ganzen Roman. Joe ist ein Ex-Knacki, der sich mühsam wieder in die Gesellschaft der späten 1980er Jahre im ländlichen Mississippi einlebt und Freundschaft mit einem verwahrlosten Jungen aus einer Tramp-Familie schließt, die dysfunktional zu nennen ein Euphemismus wäre. Weil der Vater des Jungen ein ausgemachter Drecksack ist, der auch nicht davor zurückschreckt, seine minderjährige Tochter zu prostituieren, läuft die Handlung weit über 300 Seiten auf den einen, finalen Konflikt hinaus. Dazwischen liegt viel poverty porn (danke, Sonja Hartl für diesen wunderbaren Begriff) und überhaupt ein ziemlich dumpfes Gesellschaftsbild, das nicht noir, aber auch nicht nicht-noir ist. Sich nicht waschen, an Schrottautos rumschrauben und den Staat Mississippi flächendeckend mit Bierdosen, Flaschendeckeln und Kippen zuzumüllen, steht für eine nicht gerade emanzipatorische Vorstellung von „Freiheit“ – nicht etwa deskriptiv (oder „authentisch“, falls es so etwas geben sollte), das wäre ja okay, sondern eher einvernehmlich. Selbst wenn man jedoch darin irgendetwas Faszinierendes oder Interessantes sehen wollte und könnte, dann stünde dem immer noch die zähe, redundante und undynamische Erzählstrategie entgegen. 

  • Larry Brown: Joe (1991). Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Heyne Hardcore, München 2018. Hardcover 352 Seiten, 22 Euro. Nachwort von Marcus Müntefering hier bei uns.

Das Bilderbuch des Monats

(TW) Am 31.12.1958 erfuhr der Magnum-Fotograph Burt Glinn, dass sich die Ereignisse auf Kuba zuspitzten. Er sprang in den nächsten Flieger und war am 1. Januar 1959, morgens um 7:00h in Havanna. Batista und seine Entourage waren schon geflohen, Castro und seine Leute noch  nicht angekommen, dass sollte erst am 10. Januar passieren.  Diese zehn Tage auf Kuba 1959 waren eine Zeit der Unklarheiten, des Chaos, des Schreckens und der Freude. Glinn fotographierte drauflos, notfalls auch unter Beschuss, denn noch wehrten sich die Schergen der Diktatur. Andere hatten resigniert und versuchten sich in Opportunismus; wer zu welcher Gruppierung gehörte, war oft nicht klar auszumachen.  Glinns Fotos, die hier zusammen mit knappen Kommentaren zusammengefasst sind, zeigen einen prekären Moment der Geschichte, the making of history, könnte man sagen, denn wie die ganze Sache ausgehen würde, wusste man damals natürlich noch nicht. Spannend und faszinierend die Gesichter der Menschen: Angespannt, glücklich, deprimiert, triumphierend, ängstlich, grimmig und skeptisch. Auch die spätere Ikonographisierung der Revolutionäre – Bärte, Zigarren, Knarren, muchomacho – wird schon sichtbar, ganz einfach, weil die Leute damals so aussahen. In diesem Moment war die Revolution noch sexy und genau das fängt Glinn ein. Grandios.

  • Burt Glinn: Kuba. Übersetzt von Claudia Koch. Midas Verlag, Zürich, 2016. 192 Seiten, vierfarbig, 59 Euro.

Unterhaltsamer Kunstkrimi mit NS- Hintergrund – hier zwei Mal besprochen

(IT) So ein Kunstkrimi muss doch eigentlich grottenlangweilig sind, könnte man meinen, wenn man mit Kunst nicht viel am Hut hat. Wenn der dann aber in einem Tunnel beginnt, der vermeintlich von der NS bewacht wird und in dem zwei Jugendliche wegen eines Fundes und der Loyalität zum toten Führer zu streiten anfangen, tja, dann liest man sich doch fest. Auch als Kunst-Banause.

Der Turm der blauen Pferde heißt das verschollene Gemälde von Franz Marc, das sich der damalige Reichsmarschall Hermann Göring eingesackt hat. Während in Berchtesgaden die Amis und Franzosen einmarschieren, entdecken zwei Jungs einen Tunnel, in dem acht Waggons versteckt sind. In einem der Waggons finden die Jugendlichen das Gemälde. Kurz darauf ist einer der Jungs tot. Erschlagen.
Viele Jahre später taucht dieses Gemälde wieder auf. Oder auch nicht. Denn die Frage lautet: Ist das Bild echt oder eine Kopie? Hier beginnt der erste Fall für die Kunstdetektei Schleewitz, für die Klara Ivanovic arbeitet. Sie soll herausfinden, ob es sich um das Originalbild oder eine Fälschung handelt, denn das Hauptgeschäft der Detektei ist die Provenienzforschung.
Dass so eine Herkunftsforschung ganz spannend sein, beweist der deutsche Autor Bernhard Jaumann, der bereits mit dem Deutschen Krimipreis und dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Denn dieses Gemälde gilt seit der NS-Zeit als verschollen und so Kunstsammler haben einige Tricks auf Lager, sich Originale zu sichern, die sie eigentlich nicht behalten dürfen.
Bernhard Jaumann vermischt hier Realität und Fiktion in einer unterhaltsamen Handlung, so dass man überrascht sein darf, wie spannend so ein Kunstthema als Krimi funktioniert. All dies verpackt in glaubwürdige Handlungsverläufe, mit wechselnden Perspektiven und tiefen Einblicken hinter die Kulissen der Kunstbranche. Lesenswert – nicht nur für Kunstliebhaber – und sehr amüsant.

Und hier der Bloody Chop von (JF): Wer Franz Marcs 1913 entstandenes Gemälde „Der Turm der blauen Pferde“ sehen will, muss seit 1945 auf Reproduktionen zurückgreifen. Gegen Ende des 2. Weltkriegs ging das Bild, das sich zuvor Hermann Göring unter den Nagel gerissen hatte, verloren. Aber man stelle sich vor, es wäre damals gefunden worden. Und hätte seitdem in einer bayrischen Bauernstube gehangen.

Bernhard Jaumann, bekannt durch seine in Italien und Namibia angesiedelten Kriminalromane, hat als Auftakt seiner neuen Serie um eine Kunstdetektei eben diese Ausgangssituation erfunden. Ein als Schraubenfabrikant schwerreich gewordener Sammler behauptet nämlich, das Gemälde zum Schnäppchenpreis von drei Millionen Euro erstanden zu haben. Der führende Marc-Experte habe bereits die Echtheit bestätigt. Nun geht  es nur noch darum herauszufinden, wo „Der Turm der blauen Pferde“ seit 1945 gesteckt hat und wie das Bild in den Besitz des zwielichtigen Verkäufers gekommen ist. Provenienzforschung nennt sich das und ist eine der Spezialitäten der Kunstdetektei von Schleewitz, bestehend aus dem Inhaber Rupert von Schleewitz, der promovierten Kunsthistorikerin und dem studierten Bibliothekar Max Müller. Ein heterogenes Ermittlerteam mit divergierenden Privatinteressen, die im Laufe des Romans durchaus eine Rolle spielen. Niemand scheint hier mit offenen Karten zu spielen – es wird geschwindelt und getrickst, was das Zeug hält. Und das passt zum Gegenstand der Ermittlungen.  Denn die Frage „Original oder Fälschung“ ist ungeklärt und bezieht sich nicht nur auf das Gemälde. So wird Bernhard Jaumanns gewitzt konstruierter Kunstkrimi zum intelligenten Spiel mit Illusion und Wirklichkeit,  auf das man sich mit Vergnügen einlassen mag.

  • Bernhard Jaumann: Der Turm der blauen Pferde. Kunstkrimi. Galiani Berlin, Berlin 2019. 336 Seiten, 15 Euro.

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