Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – Dezember 2019

Bücher kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction – non fiction finden Sie nebenan. Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Günther Grosser (gg), Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Iris Tscharf (IT) über:

Scott Adlerberg: Graveyard Love
Qiufan Chen: Die Siliziuminsel
Candice Fox: Missing Boy
Alexander Häusser: Noch alle Zeit
Uta-Maria Heim: Toskanisches Blut
Paulus Hochgatterer: Fliege fort, fliege fort
Sam Jaun: Die Brandnacht
Michaela Kastel: Worüber wir schweigen
Fuminori Nakamura: Der Revolver
Ian Rankin: Ein Haus voller Lügen
Andrew Shaffner: Hope Never Dies

John Rebus sollte nun definitiv gehen

(hpe) Mit Serienhelden ist es so eine Sache. Man mag sie, wenn sie gut gezeichnet sind. Und viele solche Figuren haben eine große Fangemeinde, auch wenn oder vielleicht gerade weil sie immer gleich bleiben und sich nur der Fall ändert. Mich beginnt es bald zu langweilen, wenn sich der Protagonist im Lauf einer Serie nicht weiterentwickelt und vielleicht auch verändert. In der Regel laufen sich Serienhelden nach einer gewissen Zeit unweigerlich zu Tode – Meister wie James Lee Burke mit seinem Robicheaux gehören zu den Ausnahmen, welche diese Regel bestätigen. 

Auch bei Inspector John Rebus, den der Schotte Ian Rankin seit 1987 (auf Deutsch seit 2000) auf die Straßen von Edinburgh schickt, faszinierte mich die persönliche Geschichte von Rebus, die sich von Roman zu Roman entwickelte. Nach 17 Romanen schickte Rankin Rebus in Pension. Sicher mit guten Gründen. Mit Malcolm Fox führte er eine neue Figur ein. Doch nach zwei Fox-Romanen und fünf Jahren brachte er Rebus zurück, ließ in den neuen Rebus-Titeln aber auch Fox auftreten. Wahrscheinlich war der Druck der Rebus-Fans, und deshalb wohl auch der Verleger, groß. 

Jetzt ist der 22. Rebus-Roman, Ein Haus voller Lügen, erschienen. Neue Facetten des alten Helden lernten wir in den letzten Titeln kaum mehr kennen. Und bei der Lektüre des aktuellen Werks konnte ich mich des Eindruck nicht erwehren, dass nicht nur ich, sondern auch der Autor langsam aber sicher genug von Rebus hat. Shioban Clarke, die lange Jahre mit Rebus arbeitete und zu seinen wenigen Freunden zählt, hat hier die wichtigere Rolle. 

Nachdem die Leiche eines vor zwölf Jahren verschwundenen Privatdetektivs gefunden wird, werden auch die damaligen Ermittlungen, an denen auch Rebus beteiligt war und bei denen offenbar ziemlich gepfuscht wurde, für die neuen Ermittler zum Thema. Das ist durchaus unterhaltsam. Und die teils recht bissig behandelten Veränderungen in der Polizeiarbeit in dieser Zeit geben der Geschichte etwas Pfeffer. Zudem scheinen sich die schottischen Polizeibehörden hier in einer Art von Selbstzerfleischung zu befinden. Derweil reiben sich die Bösen, hier in der Person von Rebus’ langjährigem Gegenspeile Big Ger Cafferty, die Hände: »Brexit wird eine Goldgrube für Katastrophen-Kapitalisten.« 

Darüber werden wir gerne lesen. Aber Rebus brauchen wir dabei nicht mehr.

  • Ian Rankin: Ein Haus voller Lügen (In a House of Lies, 2018). Aus dem Englischen von Conny Lösch. Goldmann, München 2019. 512 Seiten, 22 Euro.

Virtouse Fährtenlegerin

(JF) Ein Junge verschwindet spurlos aus einem Hotel, während seine Mutter im Restaurant mit befreundeten Paaren den Abend genießt. Aus naheliegenden Gründen schaltet sie private Ermittler ein, anstatt der örtlichen Polizei die ganze Wahrheit anzuvertrauen. Schließlich könnte sie aufgrund ihrer Vorgeschichte selbst unter Verdacht geraten. 

Das zumindest erzählt Sara Farrow dem ehemaligen Polizisten Ted Conkaffey, der im  nordaustralischen Crimson Lake mit der exzentrischen Amanda Pharrell eine Detektei betreibt. „Missing Boy“ ist Candice Fox‘ dritter Roman um das ungewöhnliche Ermittlerpaar, und er hält die Qualität seiner Vorgänger. Conkaffey, den eine falsche Anklage Karriere und Ruf gekostet hat, bleibt ein „normales“ Leben noch immer verwehrt, während die genialische Detektivin Pharrell  ihre Außenseiterrolle zu kultivieren scheint. Was die gesündere Verhaltensweise ist, lässt der Roman offen, schließlich ist die Gesellschaft, die den beiden den Eintritt verweigert, wenig mehr als eine Ansammlung gestörter Individuen in einer lebensfeindlichen Umgebung.  Dass die Fenster an der Vorderseite von Conkaffeys Haus noch immer mit Brettern vernagelt sind, wirkt wie ein ironischer Kommentar auf die rührenden Bemühungen des tief verunsicherten Mannes, seine Einsiedelei in eine Idylle mit Garten, Hund und Gänseschar zu verwandeln. Auch der lang ersehnte Besuch seiner dreijährigen Tochter bedeutet mehr Anspannung als Vergnügen, denn die Suche nach dem verschwundenen Kind bleibt, allen Spuren zum Trotz, lange erfolglos. Fox erweist sich hier als virtuos im Anlegen falscher Fährten, so dass die Auflösung des Falles in ihrer schrecklichen Banalität zur Überraschung wird. Und es lässt sich tatsächlich so etwas wie ein Happy End erahnen, was aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass das Leben trotzdem weitergeht.

  • Candice Fox: Missing Boy (Gone by Midnight, 2019). Aus dem australischen Englisch von Andrea O’Brien. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 2019. 375 Seiten, 15,95 Euro.

Es lohnt sich

(gg) In der Speiseröhre einer Ordensschwester steckt Katzenfutter, wo eigentlich Fenchelrisotto sein sollte, während etwa zur gleichen Zeit draußen an der Uferpromenade einer fast skalpiert, an einer andren Ecke ein Auto abgefackelt wird, und der Entführer von Elvira ist viel zu nett und zuvorkommend für einen Entführer. So verschachtelt stellen sich die Sachverhalte dar in Fliege fort, fliege fort von Paulus Hochgatterer, und die Provinz irgendwo in Österreich gerät ins Wanken.

Es gibt einen Kriminalkommissar und es gibt einen Kinderpsychiater, und sie versuchen hinter Gründe und Verursacher einer Reihe von mysteriösen und kuriosen Vorfällen zu kommen, die – möglicherweise – mit dem Immobilienhai Konrad Fucking Seihs, mit der rechtsradikalen Aktion 18, mit dem Jugendzentrum Burg zu tun haben, aber auch mit der Tatsche „dass das Böse und das Richtige manchmal ganz nahe beisammen“ liegen, in der Vergangenheit aber, im Erziehungsheim damals, sehr sehr weit auseinander lagen. „Fliege fort, fliege fort“  ist ein langsam mahlendes Erzählwerk darüber, dass das Vergangene nie vergangen ist, und manchmal, wenn es allzu sehr schmerzt, nach der archaischen Art der Heilung schreit. Nein, Rache ist nicht süß hier, aber notwendig, Man muss sich ordentlich konzentrieren und mit Hochgatterers Manie zurechtkommen, uns immer mal wieder lange vorzuenthalten, um wen es eigentlich grade geht. Dann jedoch wird man mit einer prallen Geschichte reichlich belohnt.

  • Paulus Hochgatterer: Fliege fort, fliege fort. Deuticke Verlag, Wien 2019. 286 Seiten, ## Euro. 

Im Abseits

(rum) Geschichten, in denen eine Waffe im Mittelpunkt steht, gehen ja selten gut aus. Dramaturgisch, das hat schon Anton Tschechow geraten, ist es sogar zwingend geboten, ein Gewehr, das man im ersten Akt zeigt, im letzten auch abzufeuern. So scheint der Ausgang von Fuminori Nakamuras Roman also klar zu sein, als der junge Student Nishikawa in Tokio zufällig auf die Leiche eines Selbstmörders stößt und dessen Revolver an sich nimmt. Die Waffe fasziniert ihn vom ersten Augenblick an, er poliert sie, holt sie heraus, wenn es ihm nicht gut geht. Der Revolver verleiht ihm, der bisher ein von gesellschaftlichen Zwängen eingeschnürtes Durchschnittsleben geführt hat, Selbstvertrauen. Das schlägt schließlich in blanken Egozentrismus um, wobei sich die Verwandlung vom schüchternen jungen Mann zum Psychopathen ganz allmählich vollzieht. Irgendwann wird ihm klar, dass er den Revolver nicht nur putzen, sondern auch abfeuern will. Schließlich ist das Ding allein dafür gemacht. Und klar ist ihm auch, dass er nicht auf etwas, sondern auf jemanden schießen muss. Willkürlich wählt er ein Opfer aus. Damit bekommt diese Geschichte auch eine gesellschaftliche Dimension. 

Nakamuras Ich-Erzähler ist ein genauer und reflektierter Beobachter, der auch seine innere Zerrissenheit kühl und sachlich schildert. Nishikawa besinnt sich zuweilen, zweifelt, fängt sich auch wieder, doch ist der in ihm gewachsene Fatalismus längst zu übermächtig, als dass er den Revolver einfach in den Fluss werfen könnte. 

Der 1977 geborene, in Tokio lebende Fuminori Nakamura, der je nach Quelle Verwaltung oder Soziologie studiert hat, ist in seiner Heimat Japan ein mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichneter, ziemlich produktiver Autor. Seit 2003 hat er 18 Romane veröffentlicht. Einige wurden verfilmt, darunter auch „Der Revolver“, sein schlank und schnörkellos, aber auch intensiv, weil konsequent erzähltes Debüt. Zuvor waren hier mit „Der Dieb“ und „Die Maske“ bereits zwei etwas aktuellere Romane Nakamuras erschienen. In allen drei Romanen sind es einsame Ich-Erzähler, die in Tokio ins gesellschaftliche Abseits rutschen. „Der Moment, wo etwas im Alltag vom Gewohnten oder Erwarteten abweicht, interessiert mich. Was da unter der Oberfläche geschieht, was jemand dabei denkt und empfindet, spielt in meinen Romanen eine wichtige Rolle“, sagte Nakamura in einem Interview. In „Der Revolver“ kann man zusehen, wie sich ganz allmählich der Abgrund auftut, in den der Protagonist sich und andere stürzt. 

  • Fuminori Nakamura: Der Revolver (Jú, 2003). Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 185 Seiten, 22 Euro.

Norman Bates lässt grüssen

(hpe) Als das amerikanische Kriminalliteratur-Portal »CrimeReads« kürzlich »25 Crime books you can finish in an afternoon« empfahl, war darunter auch Graveyard Love von Scott Adlerberg. Tatsächlich ist der unter dem Originaltitel auf Deutsch erschienene Roman ein schmales Bändchen, das sich schnell lesen lässt. Es hinterlässt aber einen nachhaltigen Eindruck.

Adlerberg ist ein Filmfreak, der auch über Filme schreibt. Und es sind vor allem Filme, die einem bei der Lektüre des dritten Romans des 57-jährigen New Yorkers einfallen. Die düster-dreckigen Thriller von Brian De Palma aus den 1980ern etwa. Und natürlich der Klassiker »Psycho«, denn bei Kurt Morgan, der bei seiner Mutter in einem Haus gegenüber eines Friedhofs lebt, fällt einem sofort Norman Bates ein. Auch an Protagonisten von Noir-Legende Jim Thompson erinnert er, diese Psychopathen, die uns als Icherzähler ein bisschen einlullen und ihr Tun als eigentlich normal schildern, wenn es das schon lange nicht mehr ist.

Kurt Morgan, 35, erfolgloser Schriftsteller, ist zur Mama in die Kleinstadt im Norden zurückgekehrt, nachdem er in New York seine Freundin und seinen Job verloren hat. Nun hilft er der Mutter, ihre Memoiren zu schreiben. Das führt zu innerfamiliären Auseinandersetzungen, etwa wenn Kurt die frühen sexuellen Erlebnisse seiner Mutter beschreiben sollte.

Mit Spaziergängen auf dem Friedhof gleich gegenüber dem Haus seiner Mutter lenkt er sich ab. Da ist ihm eine rothaarige Frau aufgefallen, die regelmässig eine Gruft besucht. Er stellt sich vor, wie es wäre, sie kennenzulernen. Mit einem Teleskop beobachtet er die Rothaarige aus seinem Zimmer bei ihren Friedhofsbesuchen. Er beginnt ihr nachzustellen. Und er lernt Catherine schliesslich kennen. 

«Graveyard Love» ist ein düsterer Roman über Voyeurismus, psychische Störungen, Besessenheit und Gewalt, der raffiniert mit Elementen von Noir-Krimi, Horrorstory und Psychothriller spielt. Adlerberg bildet ein bizarres Dreieck aus den Personen – ein schwacher Mann, seine Mutter, die ihn unter der Knute hat, und die mysteriöse Fremde  –, die alle von ihren eigenen Obsessionen besessen sind. Trotz des munteren Tons, mit dem der Icherzähler heimtückisch über seine düsteren Seiten hinwegzutäuschen versucht, wird die Geschichte mehr und mehr gruselig und schliesslich auch gewalttätig. Dabei mein Kurt es doch gar nicht böse: »Das Laken, das ich für meinen Knebel benutzte, war aus Seide, Spitzenqualität, und ich kaufte es speziell zu diesem Zweck. Ich hoffte, Catherine vermitteln zu können, wie sehr ich wollte, dass sie sich gut behandelt fühlte, während sie den Knebel im Mund hatte.«

  • Scott Adlerberg: Graveyard Love (Graveyard Love, 2016). Aus dem Englischen von Jürgen Bürger. ars vivendi, Cadolzburg 2019. 222 Seiten, 18 Euro.

Toskanische Kuckuckseier

(rum) Schon mal vom Stendhal-Syndrom gehört? Den Begriff prägte 1979 die italienische Psychologin Graziella Magherini. Es ist eine Art kunstgeschichtliche Überreizung, die zu Panikattacken und wahnhaften Bewusstseinsveränderungen führen kann und eben zunächst vom  französischen Autor Stendhal beschrieben wurde. Magherini veröffentlichte eine Studie, in der sie die Symptome an über 100 Florenz-Touristen diagnostizierte. Ein irres Phänomen, das wie gemacht ist für einen Roman von Uta-Maria Heim. Und so spielt es nun im dritten Band ihrer zwischen Florenz und Konstanz angesiedelten Geschichte, in dem selbst Leonardo einen Auftritt hat, eine zentrale Rolle. 

Heim spannt den Bogen von familiären Spannungen zu den globalen Verschwörungen. Ihre Protagonistin, eine aus Konstanz stammende, in Florenz lebende Maklerin, hat sich zu Weihnachten ihre alte Familie eingeladen, eine Konstellation, die einigen sozialen Sprengstoff birgt. Mit dabei ist ihr Ex-Mann samt neuer Familie, die eigenen, entfremdeten Kinder samt Partnern und uneingeladen kommt noch ihre Mutter dazu, die vor ihrer Pensionierung ein hohes Tier beim Landesamt für Verfassungsschutz war. Der Abend verläuft bei gutem Essen wider Erwarten harmonisch. Für Dynamik sorgen eher äußere Umstände: eine Leiche im Dom, seltsame Begegnungen. Sie ist schließlich überzeugt, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein. 

Mit dabei ist ein als katholischer Geheimbund getarnter Mafiaableger, ein vatikanischer Geheimdienst namens Pro Deo Due, der schon mal Dienstfahrzeuge nutzt, in deren Kennzeichen sich die 666 findet, und ein chinesischer Geheimdienst mit dem schönen Namen „Das dritte Büro“, den es, wie weitere Büros der chinesischen Staatssicherheit tatsächlich gibt. Zum Figurenpark gesellen sich ein gefallener katholischer Pfarrer aus Konstanz, der nach einem Burnout mit einer Frau zusammen ist, die aus einem Pietistenclan von der Schwäbischen Alb stammt, für den IS in Syrien kämpfte und sich nun geläutert, aber unzufrieden in einer schwierigen Paarbeziehung versucht. Eine illustre Gesellschaft also, die ergänzt wird durch einen totgeglaubten Mafioso und eine Gruppe, die zupackend gegen Frauenmorde und häusliche Gewalt kämpft. 

Wieder mal ein wilder Ritt, sprunghaft und assoziativ. Heim pfeift auf Logik und Plausibilität, nimmt sich lieber alle erzählerische Freiheiten und tritt aufs Gas. Dabei verdichten sich die Erzählfäden nun nicht unbedingt zum großen Fresko, sie sind mal mehr, mal weniger miteinander verknüpft, immer wieder lässt die Autorin einen solchen Faden liegen, spinnt einen anderen weiter oder löst ihn auf. Heim erzählt mit scharfkantigem Witz, präzise gezeichneten, regional verortbaren Figuren und aktuellen gesellschaftlichen Bezügen. Das sind definitiv keine anheimelnden Florenz-Romane, sondern ziemlich widerborstige Geschichten, so etwas wie Kuckuckseier im Regionalkrimi-Nest. 

  • Uta-Maria Heim: Toskanisches Blut. Gmeiner-Verlag, Messkirch 2019. 312 Seiten, 15 Euro.

Spannend, obwohl schon oft erzählt

(IT) Vor einem Jahr konnte mich die österreichische Nachwuchsautorin Michaela Kastel mit ihrem Debütthriller „So dunkel der Wald“  überzeugen. Doch die junge Autorin hat mehr zu bieten, wie sich jetzt zeigt, denn ihr zweiter Thriller Worüber wir schweigen ist ganz anders als ihr erster: viel komplexer, viel anspruchsvoller, aber nicht weniger unterhaltsam und vor allem: dramatisch. Ein kleiner beschaulicher Ort in Österreich ist auch hier wieder Schauplatz eines Dramas. Wir Thrillerleser wissen: Manches Sein ist oft nur Schein. So auch hier. Denn hinter den Wänden geht es ganz schön dramatisch zu. Betrügerisch. Das dies keine Familien-Wiedersehens-Soap und kein gemütliches Klassentreffen wird, ist schon auf den ersten Seiten klar. Nina weiß schon bei der Hinfahrt, wen sie mit „bloßen Händen“ töten könnte.

Vor zwölf Jahren ist sie übereilt aus dem Ort geflohen und genauso überrascht sind ihre ehemaligen Freunde, sie nun wiederzusehen. Besonders ihre ehemals beste Freundin Mel weiß nicht so recht, wie sie das alles einordnen soll. Misstrauen macht sich breit, es ist mehr als angebracht. Verschiedene zeitliche Episoden (2006, 2007, 2019) wechseln sich mit unterschiedlichen Perspektiven (Nina, Tobias, Gregor) ab. Die Geschichte liest sich wie ein spannendes Puzzle, das erst nach und nach zusammengefügt werden kann. Und zusammengefügt muss hier jede Menge werden, denn die Risse in die Vergangenheit wirken tief und auf so manchem Handgelenk auch vernarbt.

Eine Stärke der Autorin sind die Charaktere. Dividiert man den Inhalt des Romans auseinander, bleibt eigentlich eine schon tausendmal erzählte Substanz übrig: Rache. Dividiert man weiter, bleiben Betrug, Geheimnisse, Misstrauen und Hass, deren Ursprung natürlich die Liebe ist. Also eigentlich alles alte Bekannte der Thriller-Lektüre. Michaela Kastel schafft es, diese altbewährten, schon oft erzählten Grundideen zu einem neu wirkenden Stoff zu verarbeiten, der durch seine Erzählweise eine Sogwirkung besitzt, der sogar mich ergriffen hat – und ich mag normalerweise keine Teenager-Cliquen-Geschichten. Außer aus Kastels Feder: Die darf diese Substanzen mischen, und sie mischt sie richtig gut. Love it!

  • Michaela Kastel: Worüber wir schweigen. Emons Verlag, Köln 2019. 320 Seiten, 20 Euro.

Spaß mit Joe und Barak

(JF) „Heiliger Bimbam“, stellt der Amateurdetektiv auf Seite 103 „zerknirscht“ fest. „Wir wurden übers Ohr gehauen.“ Wir, das sind Joe Biden, ehemaliger Vizepräsident der USA und, davon können wir in Andrew Shaffers bereits im vergangenen Jahr erschienener Kriminalposse „Hope Never Dies“ leider noch nichts lesen, ein von allerlei Intrigen geplagter möglicher Gegenkandidat des unglaublichen Trumps, nebst seinem früheren Chef Barack Obama. Der mysteriöse Tod eines altgedienten Schaffners auf jener Bahnstrecke, die von Bidens Wohnort Wilmington im Bundesstaat Delaware zu seinem Arbeitsplatz Washington D.C. führt, lässt das ungleiche Paar gemeinsam ermitteln. Das ist nicht ungefährlich, wenig spannend und gelegentlich amüsant zu lesen. 

Lustig wird die Sache, wenn Shafffner seinem Helden, der die Geschichte selbst erzählen darf, den bilderreichen Wortschatz hartgekochter Ermittler alter Prägung unterjubelt. Da kann die Laune schon mal so „finster wie irisches Guinness“ sein. Diese bessert sich übrigens im Laufe der Nachforschungen, dafür stellen sich körperliche Blessuren ein, die genreüblich mit Tiefkühlkost gelindert werden. Am Ende gibt es noch mehr Action, es wird geschossen, und fast erwischt Biden selbst eine Kugel. Doch der Fall ist geklärt, die beiden Herren haben ihren Spaß gehabt, und auf geht es zum nächsten Abenteuer, dessen Originalausgabe bereits lieferbar ist, Titel: „Hope Rides Again“. 

  • Andrew Shaffner: Hope Never Dies. Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné. Droemer Verlag, München 2019. 318 Seiten, 14,99 Euro.

Die Müllmenschen

(IT) Früher wurde hier Reis angebaut und in den Gewässern gefischt. Jetzt ist die Insel nur noch ein Müllberg, ein giftiges Ungetüm inmitten bleiverseuchten Wassers. Der chinesische Science-Fiction-Schriftsteller Quifan Chen fasst mit seinem Debütroman Die Siliziuminsel wortwörtlich heiße Eisen an. Er selbst stammt aus der Region Shantou, wo sich die Stadt Guiyu mit einem der weltweit größten Recyclingzentren für Elektroschott befindet und eine Umweltverschmutzung ungeahnten Ausmaßes stattfindet.

Die Geschichte spielt in naher Zukunft, in der Elektroschrott hauptsächlich aus ausrangierten Prothesen, Chips und Implantaten besteht, denn die Reichen wechseln „ihre Körperteile so beiläufig, wie man früher seine Armbanduhr gewechselt hat“. Der Berg aus giftigen Elektroschrott ist etwas makaber anzusehen, denn tote Hunde können – dank Hirnimplantaten – durchaus trotzdem mal zubeißen. Scott Brandle verschlägt es geschäftlich auf die Insel. Er soll für das führende Recyclingunternehmen Wealth Recycle lukrative Geschäfte startklar machen. Sein Dolmetscher Chen Kaizong alias Caesar Chen soll ihn dabei unterstützen, er hat Wurzeln zu einen der drei Clans, die auf der Insel über den Müll herrschen.

Der Anblick der Müllinsel ist wie aus einer anderen Welt. Berge von Metallgehäusen, kaputten Displays, Leiterplatten, Plastikteile, Drähten und anderem Schrott. Öfen und Säurebecken verströmen giftige Gase, die nicht nur die Atemluft beißend machen, sondern als Schmutzpartikel direkt auf der Haut kleben. Und mittendrin: Menschen, die diesen Müll durchkämmen. Ohne Mundschutz, ohne Handschuhe, kaum vom Müll zu unterscheiden, so dreckig sind sie. Sie erledigen die Drecksarbeit für den Kreislauf „Made in China“. Denn der so gewonnene Plastikmüll wird zu Kügelchen verarbeitet, der wiederum für die Herstellung aller möglichen billigen Produkte dient, die in den Westen verkauft werden, bis er irgendwann wiederum als Müll in China landet. 

Mittendrin die Wanderarbeiterin Mimi. Eine von Hundert Millionen in diesem Land, die Tag für Tag schuften und entsorgt werden, wenn sie nicht mehr funktionieren. Die Clans behandeln diese Arbeiter wie Müll, erniedrigen sie, misshandeln sie, lassen sie verschwinden. Schläge und Elektroschocks, Brand- und Schnittwunden, Verstümmelungen, simuliertes Ertränken oder Begraben-Werden bei lebendigem Leib sind ihre Spezialitäten. Einer dieser Clans verschleppt Mimi. Ihre Tortur schlägt in schwarze Magie mit Science Fiction auf chinesische Weise um, nimmt unmenschliche Auswüchse an, hat einige sehr brutale Szenen. Leider gibt es lange Passagen, die den Lesefluss trüben. Am Ende blieb eine Geschichte, die thematisch kaum zu toppen ist, aber Lesedisziplin verlangt, weil zu viel und zu oft erläutert wird und ziemlich emotionslos erzählt wird. Dem Autor gebührt dennoch Dank, dass er dieses heiße Eisen angefasst hat.

  • Qiufan Chen: Die Siliziuminsel (Huang chao). Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Klappenbroschur, 480 Seiten, 16,99 Euro.

All das Ungesagte

(IT) Das Unausgesprochene liefert in diesem Roman die Substanz. Und das Nichtvorhandene lässt die Geschichte beginnen. Zwei Figuren teilen eine Eigenschaft: Die Vergangenheit lässt sie nicht los, das Unausgesprochene ist allgegenwärtig und wirkt auf das Leben drastisch ein.

Eine Woche nach der Beerdigung seiner Mutter fällt Edvard auf, dass im Zimmer seiner Mutter ein Bild fehlt: Das letzte Foto auf dem Edvard mit seinen Eltern zu sehen war. Entstanden vor 52 Jahren, an Edvards zehnten Geburtstag, kurz vor dem Verschwinden seines Vaters. Auf der Suche nach dem Foto findet Edvard nicht nur das Bild, sondern auch ein Sparbuch mit einem beträchtlichen Guthaben, das auf seinen Namen ausgestellt ist und viele Fragen aufwirft, zumal die Überweisungen alle aus norwegischen Städten stammen. Da er ohnehin nie an den Tod des Vaters geglaubt hat, macht er sich auf nach Norwegen um Antworten zu finden und die Bruchstücke seiner Vergangenheit zusammenzufügen.

Alva, die eigentlich Bianca heißt, ist die zweite Person, die unterwegs nach Norwegen ist. Offiziell will sie für eine Reportage recherchieren, doch viel mehr ist es wohl eine Flucht vor ihrem Mutterdasein und vor ihrer neuen Beziehung, von der sie nicht weiß, ob es die richtige für sie ist. Die Beiden treffen in der Bar auf dem Schiff aufeinander. Ein sehr ungleiches Paar, beide aber können die Vergangenheit nicht loslassen, beide leben mit unausgesprochenen Dingen vor sich hin und versäumen dadurch viel Leben und Chance zur Veränderung. Der Roman lässt vieles unausgesprochen, zeigt Gedanken und Gefühle, wertet jedoch nicht und urteilt dann doch durch das Ende, die Wende, die die Figuren erfahren. Literarisch äußert feinfühlig geschrieben, keine Unterhaltung für zwischendurch. Ein Roman, der im Nachhinein die volle Wirkung entfacht, während er beim Lesen äußerst still und zurückhaltend wirkt. Eine Abwechslung.

  • Alexander Häusser: Noch alle Zeit. Pendragon Verlag, Bielefeld 2019. 256 Seiten, gebunden, 24 Euro.

Genauigkeit des Blicks

(AM) Er trat aus dem Wald, und plötzlich lag das Land vor ihm, sich wölbend, Hügel um Hügel, abfallend zum Talgrund, wieder ansteigend zum Horizont. Die Wiesen, grün mit bunten Sprenkeln, wo das Gras der zweiten Magd entgegenwuchs, hell- oder sattgrün, wo es jeden Morgen Streifen um Streifen geschnitten wurde, und die Getreidefelder, ergilbend – die Farben bald leuchtend im Licht, bald stumpf unter dem Wind. Die Häuser mit den roten oder grauen Walmdächern und den hölzernen Rundbogen unter dem Giebel, an die Hänge geduckt, in den Obstgärten lauernd. Die grauweisen Bänder der Fahrwege, die sich von Hof zu Hof wanden. Die Sträucher und Hecken an den Runsen entlang, deren Rinnsale zu Tal rieselten, und die Hecken. Die hundertjährigen Linden, einzeln auf den Kuppen. Im Tal, einer tiefen Mulde zwischen den Hügeln, deren Abhänge aus der Ferne täuschend sanft wirkten, nur der hölzerne Turm der Kapelle sichtbar, die neben dem Dorf auf einer Erhöhung stand. Darüber das ausgewaschene Blau des Julihimmels. Ringsum rauchst, raschelte, summte, zirpte und zweitschert es. Tausend Gerüche, Er ergriff den Koffer, setzte die Sonnenbrille auf, und der Himmel wurde postkartenblau …

So hebt Die Brandnacht an, ein Klassiker der Schweizer Kriminalliteratur des im Februar letztes Jahres verstorbenen Sam Jaun. Jetzt ist das Buch bei LenosPolar wieder zugänglich. Die Erstausgabe war 1986 bei Benziger als Hardcover erschienen, 1987 erhielt Jaun dafür in Hamburg den „Glauser – Autorenpreis deutsche Kriminalliteratur“ der Autorengruppe deutsche Kriminalliteratur DAS SYNDIKAT. Dass er als Lieblings-Autor damals Friedrich Glauser benannte, verwundert nicht. Er hat mit ihm viel gemein. Seinen Protagonisten, den Zürcher „Fürsprech“ (Rechtsanwalt) und Rechtsanwalt Peter Keller verschlägt es in ein Tal südlich von Bern, in eine trügerische Idylle voller Frömmler, Heuchler, Intriganten, Spekulanten, Sektierer, Lustmolche, Gastwirte und Erbschleicher. Sam Jauns Ermittler arbeitet bedächtig, die Atmosphäre ist dicht. Als Autor interessierte ihn in seinen insgesamt fünf Kriminalromanen – drei davon mit traumschönen Covern beim feinen Berner Cosmos Verlag -, wie eine Gemeinschaft auf Nachforschungen reagiert. Der Detektiv als Katalysator. – Der Roman wurde 1991/92 von Markus Fischer für das ZDF verfilmt, Bruno Ganz spielte emblematisch die Hauptrolle.

  • Sam Jaun: Die Brandnacht. Erstmals erschienen 1986. Lenos Polar, Basel 2019. 284 Seiten, 16 Euro.

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