Geschrieben am 13. Februar 2019 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2019

Berlinale-Tagebuch # 2 – von Katrin Doerksen

Erde | Earth (AUT 2019), Regie: Nikolaus Geyrhalter © Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

Herbst und Winter auf den Feldern der Berlinale

Natürlich sind auch die Nachfahren der kanadischen First Nations, deren Land der Suche nach Öl zum Opfer gefallen ist, im schweren Wagen und per Motorboot unterwegs. Das ist nur ein winziger von sehr vielen Momenten, auf die uns Nikolaus Geyrhalter in seinem neuen Dokumentarfilm Erde (im Forum) einmal mehr stupst, um zu zeigen: Es ist kompliziert. Fracking-Gelände in der nordamerikanischen Weite, der Marmorsteinbruch im italienischen Carrera, Braunkohleabbau in Ungarn oder gleich eine völlig neue Stadt, die in Kalifornien entstehen soll, wo kürzlich noch grüne Hügel standen – der Mensch ist mittlerweile der bedeutendste geologische Faktor, bewegt pro Tag mehr von der Oberfläche unseres Planeten als etwa Naturkatastrophen. Geyrhalter zeigt uns all diese Schauplätze des Kampfes um die Erde zunächst aus der Vogelperspektive (oder wäre heute nicht eigentlich der Begriff „Drohnenperspektive“ zeitgemäßer?), um es im Anschluss richtig brutal zur Sache gehen zu lassen. Die Maschinen, die sich durch den kalifornischen Sand wühlen, erinnern entfernt an die Sandwürmer aus Dune und immer wieder erschüttern Sprengungen Fels und Boden. Dazwischen bilden kurze Interviews mit Sprengmeistern, mit Vorarbeitern und Ingenieuren ein Gegengewicht zu der schieren Wucht aus Metall und Gestein. Und auch hier macht es sich Geyrhalter nicht zu einfach. Seine Fragen sind kritisch, das schon. Aber ausgerechnet den täglich ihr Leben aufs Spiel setzenden Arbeitern in einer Mine die Schuld für ein globales ausbeuterisches System anzuhängen, wäre auch ein zweifelhafter Ansatz. Und so bleibt in Erde, und das mag im ersten Moment so klingen als stünde es im Widerspruch zum titelgebenden Element, alles in der Schwebe: Der Schrecken einer gemarterten Landschaft und die wilde Schönheit der Sprengungen, Entsetzen gegenüber dem abgestumpften Pragmatismus, mit dem man die Zerstörung jahrtausendealter Landstriche rechtfertigen kann und Faszination für Tagwerke, bei denen man sich fühlt, so erzählen es die Arbeiter, wie ein Astronaut oder ein Zeitreisender.  

Chun nuan hua kai | From Tomorrow on, I Will (DEU/CHN/SRB 2019), Regie: Ivan Marković, Wu Linfeng © Ivan Marković, Wu Linfeng

Am nächsten Abend zur gleichen Zeit sehe ich einen Film, wiederum im Forum, der ganz anders ist und doch offensichtlich in der gleichen Welt angesiedelt wie Erde. Die deutsch-chinesisch-serbische Koproduktion Chun nuan hua kai (From Tomorrow On, I Will) von Ivan Marković und Wu Linfeng folgt einem Mann am unteren Ende der Nahrungskette. Der seinen Beitrag zum reibungslos funktionierenden Alltag einer durchtechnisierten Megagesellschaft leistet und doch nur ganz an ihren Rändern existiert. Li ist Nachtwächter in einem hochmodernen Gebäude aus Stahl und Glas, tagsüber schläft er bis abends der Mitbewohner seinerseits in den gemeinsam bewohnten Verschlag zurück kehrt. Dieses System funktioniert bis es eben nicht mehr funktioniert. Lis Ausbruch kommt aber nicht einer Revolte gleich oder einer wohlüberlegten Kursänderung in seinem Leben. Es bedeutet nur, dass er sich ziellos durch die Straßen Pekings treiben lässt und sich auf einer Parkbank niederlässt. Auch hier alles in der Schwebe.

James Norton in Mr. Jones ( POL/GBR/UKR 2019), Regie: Agnieszka Holland © Robert Palka / Film Produkcja

In einer Szene in Mr. Jones entwischt Gareth Jones (James Norton) seinem schlafenden Aufpasser und verlässt heimlich sein gemütliches Reisezugabteil, springt über die Gleise und steigt in einen anderen Waggon und plötzlich herrscht das blanke Elend. Leere, ausgezehrte Gesichter, aus denen der Hunger blickt. Die Kamera beginnt bei Jones Gesicht, schweift dann aus, tastet den Raum ab und landet wieder bei Jones, düster und wackelig. Es gibt viele solche Szenen im neuen Film von Agnieszka Holland, in denen der Journalist, jung, idealistisch und hochmotiviert, von der bitteren Realität vor den Kopf gestoßen wird. Von ihr lernt, lernen muss, aber nicht einknickt. Gareth Jones gab es wirklich, er sorgte entgegen enormer Widerstände dafür, dass im Jahre 1933 die Hungerkatastrophe im Westen bekannt wurde, die Stalin durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine ausgelöst hatte. Holland fiktionalisiert seine Biografie hier und da, aber ohnehin handelt es sich bei Mr. Jones nicht in erster Linie um ein Biopic. Darauf weist schon die Klammer des Films, in der George Orwell an seiner Fabel Farm der Tiere schreibt. Es geht um etwas Größeres. Um die feine Linie zwischen Idealen und einer Agenda, die Integrität des Journalismus, um die Frage, ob sich das eine Übel auf der Welt manchmal nicht nur mit einem anderen Übel bekämpfen lässt. Bevor Jones in den Zug nach Charkow steigt, verbringt er einige Tage in Moskau, wo der Sozialismus so aussieht, wie ihn die Sowjetunion nach außen hin verkaufen will. Im Eiltempo hochgezogene Prachtbauten, ein internationales Publikum, rauschende Parties, man tanzt nackt zu Jazzmusik und setzt sich hinterher einen Schuss. Und während einen noch der Rausch umfangen hält – Agnieszka Holland inszeniert ihn vor allem auf der Zeitebene, Dehnungen und Raffungen in schneller Abfolge – tönt einige Hundert Kilometer weiter westlich aus dem Radio schon das Gekeife von Hitler. 

Am schönsten ist in Mid90s eigentlich der Abspann. Da sehen wir in verzerrter Fischaugenoptik die Aufnahmen, die eine der Figuren während des Films mit einer kleinen Amateurkamera gemacht hat und der Funke springt über. Der Funke, der uns die Wärme nachempfinden lässt, die wir in einem der uns ab und an vergönnten Heureka-Momente unserer Leben spüren, wenn wir an unsere Vergangenheit denken und uns aufgeht, wie sehr uns ein bestimmter Augenblick geprägt und zu dem gemacht hat, was wir geworden sind. Das Regiedebüt von Jonah Hill ist ein Bro-Film voller persönlich empfundener, weil autobiografisch inspirierter Nostalgie, angesiedelt in der immer ein wenig ungewaschenen Skaterszene des Los Angeles der 1990er Jahre. Auf 16mm hübsch gefilmt und vollgestopft mit Reliquien der Ära, mit Skateboards, Nintendo und ordentlich sortierten CD-Regalen. Aber am schönsten ist eigentlich der Abspann.

Am wichtigsten an dem kleinen Dorf in A Tale Of Three Sisters (Kiz Kardeşler) ist die Schotterpiste die hinführt. Oder wieder weg, je nachdem. Das Dorf liegt idyllisch da, auf einer weich begrünten Hügelkuppe und in alle Richtungen von den schneebedeckten Gipfeln Zentralanatoliens umgeben. So wie es sich Städter gern in ihren Fantasien von einem gesunden Landleben vorstellen. Wenn Emin Alper in seinem Film etwas gelingt, dann diese Fantasien gründlich zu entzaubern. Die drei Töchter eines Bauern jedenfalls wollten alle hier weg, wurden eine nach der Anderen als Dienstmagd in die Stadt geschickt und wegen verschiedener Verfehlungen sind sie nun wieder da. Dienstmägde im eigenen Haus, verheiratet mit dem Erstbesten und ob sie ihr eigenes Schicksal nun schwer nehmen oder nicht – es ändert ja doch nichts. Als Märchen wird A Tale Of Three Sisters beschrieben und entsprechend schicksalshaft greifen die Geschehnisse ineinander. Der Ton mal lakonisch, mal tragisch und auf einen Prinzen oder ähnliche Sperenzien darf man lange warten.

Répertoire des villes disparues | Ghost Town Anthology (CAN 2018), Regie: Denis Côté © Lou Scamble

In diesem Jahr scheint es auf der Berlinale so etwas wie Jahreszeiten zu geben: In Öndög und Pferde stehlen haben wir Wiesen und Kornfelder zur Erntezeit gesehen, goldgelbe Gräser und volle Ähren, die sich im Wind biegen. Aber seit Sonntag herrscht Winter: In Mr. Jones, A Tale Of Three Sisters und auch in Denis Côtés Répertoire des villes disparues ( Ghost Town Anthology)sind die Felder leer, liegen verschneit im weißen Nebel. Wir befinden uns wieder in einem Dorf, diesmal in Kanada, irgendwo in Québec und seitdem Simon mit dem Auto in eine Baustelle geknallt ist (ob es nun Suizid oder ein Unfall war, weiß man nicht genau) gehen merkwürdige Dinge vor sich. Auf wunderbar krisselig-körnigem 16mm-Material hat Côté eine Mischung aus Geister- und Zombiefilm gedreht, der, wenn der Abspann anfängt, regelrecht frustriert, weil nichts erklärt, nichts gelöst ist, weil Côté Themen für seine Parabel andeutet und sie ebenso flüchtig wieder fallen lässt, weil so richtig eigentlich gar nichts passiert ist. Aber Stunden später denkt man dann noch immer an die Gestalten, die schemenhaft hinter den Schneewehen auftauchen, an den ausgeweideten Hirsch und die junge, schüchterne Frau, die plötzlich mitten in der Luft schwebt, zwischen den rotierenden Windrädern. In den Felderfilmen dieser Berlinale sind Dörfer mehr als sonst schon Orte, die von ihren eigenen Bewohnern als außerhalb der Gesetze, der Menschengemachten und der Naturgesetze, gedacht werden. Die sich deutlich abgrenzen gegenüber den Städtern. „Wir regeln hier unsere Probleme allein“, mit diesen Worten schickt die Bürgermeisterin in Répertoire des villes disparues eine Frau weg, die vom Bezirksvorstand aus der Stadt geschickt wurde, um das Dorf in der Trauerphase zu begleiten. In den Gesellschaften all dieser Filme verlaufen die Risse innerhalb und sie verlaufen vertikal. Klassenzugehörigkeit spielt eine Rolle, natürlich, das tut sie immer. Aber die tiefsten Gräben verlaufen da, wo sich Leute mit vermeintlich ähnlichen Interessen zusammenschließen und gegen das Andere, das Fremde abschotten.

Herbert Knaup in Die Sieger (Director’s Cut), DEU 1994, Regie: Dominik Graf © Bavaria Film

In Dominik Grafs Die Sieger hat es mit dem Zusammenschluss wiederum etwas anderes auf sich. Der restaurierte Director’s Cut des Neo-Noir von 1994 läuft in den Berlinale Classics. Im Zentrum die Männer eines Sondereinsatzkommandos. Einer erkennt bei einer fehlgeschlagenen Razzia einen ehemaligen, verstorben geglaubten Kollegen wieder, der sich als V-Mann entpuppt und von da an ist die Hölle los. Wirklich die Hölle. Einmal explodiert ganz nah eine Bombe und die Männer stehen im Feuerschein, die Gesichter entglitten und spätestens da wird es einem klar. All die lockeren Sprüche, ihre ironische Angst vorm Streifendienst, alles nur Pose, die verbergen soll, dass ihr Dasein schon das wahre Fegefeuer ist. Besonders in Heinz Hoenig hat der Film einen wunderbar wuchtig-körperlichen Darsteller und Katja Flints in weiche Wellen gelegtes Haar, der Lippenstift und die spitzen Kragen ihrer Blusen lassen sie wie eine Femme fatale der Vierziger Jahre wirken, aber in erster Linie macht Dominik Graf das über die Inszenierung der Straßen und Gebäude deutlich. Niemand hat die deutsche Architektur zum Ende des 20. Jahrhunderts gefilmt wie er. Bei ihm sehen selbst die neuen Gebäude damals schon so aus wie in der Realität heute: Man sieht noch den Gedanken dahinter, das Glas und die weißen und blauen Kunststoffverkleidungen aber es hat auch schon dieses Räudige, das Abgewohnte, wenn der Putz auf der dem Wind zugewandten Seite langsam grüngrau anläuft. 

Katrin Doerksen

Siehe auch Tagebuch # 1 sowie die Berlinale-Vorschau von Katrin Doerksen. Weitere Berlinale-Berichte von ihr folgen. Schauen Sie wieder herein.
Hier geht es zu unseren früheren Berlinale-Berichterstattungen.

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