
Vormals wie Dreck behandelt
Trauriges Jubiläum: Fünfzig Jahre nach Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe ist „Der Fall in Singapur“ jetzt erstmals vollständig auf Deutsch erschienen Es ist der einzige Mafia-Roman von Ross Thomas. Und Ross Thomas ist der wohl bedeutendste politische Thriller-Autor aus Amerika und als literarischer Klassiker von bleibendem Wert. – Von Gerhard Beckmann.
Der bundesdeutsche Krimi wäre in der Nachkriegszeit weniger schmalbrüstig und spießig gewesen, er wäre vielleicht heute noch eine lohnenswerte Lektüre – hätten da nicht in den 1950er, 60er und 70er Jahren sogar Top-Verlage wie Rowohlt und Ullstein selbst angelsächsische Spitzenautoren wie feuchten Dreck behandelt und deren Romane bis um ein Drittel (oder mehr) verkürzt und verschandelt. So fehlten den deutschen Kollegen, die damals, wie die meisten ihrer Landsleute, kaum über nennenswerte Englischkenntnisse verfügten, die Leit- und Vorbilder, um ein rechtes, konstruktives Verständnis für diese besondereErzählform entwickeln zu können – und das deutsche Publikum wurde von deutschen Taschenbuchverlagen um die Möglichkeit einer Leselust und Welterkenntnis vermittelnden Lektüre moderner Weltliteratur gebracht.

Einer dieser Spitzenautoren war der Amerikaner Ross Thomas, ein Meister des politischen Kriminalromans bzw. Thrillers. Es verdient darum höchste Anerkennung, dass Alexander Wewerka in seinem kleinen Berliner Alexander Verlag seit 2005 das Gesamtwerk dieses Schriftstellers neu herausgibt. Nun ist dort unter dem Titel „Der Fall in Singapur“ der zwanzigste Band erschienen. Es gibt Anlass, auf einen eines für die deutsche Verlegerei traurigen Jahrestag hinzuweisen – dass dieses wichtige frühe Werk fünfzig Jahre (!) nach Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe 1969 deutschen Leserinnen und Lesern erstmals (!) so zugänglich wird, wie Ross Thomas es geschrieben hat! Hauptschauplatz ist das (noch) alte Singapur. Es ist die Zeit kurz nachdem es seine politische Unabhängigkeit erreicht hat – die ehemalige britische Kronkoloniewar zuvor ein Teil von Malaysia gewesen – und bevor sein Aufstieg zu einem streng autoritär regierten Zentrum der technologischen Moderne begann. Die Handlung spielt also im nach wie vor im berühmt-berüchtigten „orientalischen“ Singapur, wo Drogenhandel und Korruption exotische Urständ feiern, nicht weit entfernt aber der Vietnamkrieg tobt, in dessen Gefolge sich CIA und FBI-Agenten in Singapur tummeln.

Ross Thomas war mit dieser Welt Südostasiens vertraut. Er hatte während des Zweiten Weltkriegs in der US-Army auf den Philippinen gedient. Und in den Gängen des politischen Labyrinths, die in diesem Roman natürlich ebenfalls eine große Rolle spielen, kannte er sich bestens aus – er war dann in den PR-Berater und Wahlkampf-Manager von Politikern gewesen, so beispielsweise von Präsident Lyndon B. Johnson. Anschließend hatte er als investigativer Journalist und als Pressesprecher eines amerikanischen Gewerkschaftsbundes gearbeitet. Es kann also nicht wundernehmen, dass seine Romane in den Fakten wie im analytischen Durchstich als exemplarisch genaue Abbildungen der politischen Verhältnisse geschätzt wurden. Der Fall, um den es in diesem ohnehin bunt-undurchsichtigen Singapur geht, ist obendrein ein ganz besonderer. Wir haben es hier nämlich mit einem Mafia-Roman zu tun. Dem einzigen Mafia-Roman von Ross Thomas. Und auch dieses Ambiente ist akribisch genau dargestellt. In ihn sind die minutiösen Recherchen eingegangen, die Ross Thomas für eine (nie veröffentlichte) Biographie des Mafia-Bosses Joe Valachi anstellte.

Wäre „Der Fall in Singapur“ da also bloß eine Art von penibel erzählter, aber eigentlich irrelevanter Historie aus längst vergangenen Zeiten, weil dort ja doch nichts mehr so ist, wie es damals war? Wer noch nie einen Thriller von Ross Thomas gelesen hat, könnte leicht auf so eine komische Idee kommen – wenn er nur gängige Bestseller-Thriller der Gegenwart kennt. Heutzutage scheinen sehr viele Thriller und Krimis von engagierten politischen Auslandskorrespondenten zustammen, die ihren Job verloren oder hingeschmissen haben, weil die Zeitungen kein Geld und keinen Platz für lange seriöse Reportagen mehr haben und die Chefredaktionen der Fernseh-Anstalten die Nachrichten lieber von der Zentrale aus steuern, statt den Augen und Ohren kompetenter Beobachter vor Ort zu trauen. Und das Marketing der Verlage baut auch stark darauf, diesen Eindruck beim Publikum hervorzurufen. Dieses Treiben verursacht jedoch ziemlich böse Kollateralschäden. Denn erstens wirken derartige heutige Thriller so mit quasi-journalistischen Tagesinformationen im Ton medialer Tagesmoden überfrachtet, dass sie, kaum sind sie erschienen, schon wie Schnee von gestern beiseite geräumt werden. Und zweitens sind sie sehr oft „journalistisch“ geschrieben, als Unterhaltung schwer konsumierbar und als Literatur von irgendwie bleibendem Wert eh außen vor.

Solche Bücher bilden nun aber das genaue Gegenteil zu den Thrillern von Ross Thomas. Sein geistiges Format und seine literarische Kunst zeigen sich darin, dass er die Strukturen des Denkens und Handelns offenlegt, die in der politischen Klasse und bei den Wirtschaftseliten jedweder Couleur greifen – und die Genauigkeit, mit der er jeweils aktuelle Verhältnisse und Verhängnisse erfasst, bietet sozusagen die nachprüfbare, über den Augenblick hinaus gültige Legitimation seiner Darstellung. Das ist der eine Aspekt, warum er als ein zutiefst demokratischer Schriftsteller verstanden werden muss. Der andere Aspekt ist der, dass er einen literarischen Stil entwickelt hat, der das ermöglicht, was Politiker und ihresgleichen hoch und heilig versprechen, aber nie zu leisten imstande sind – die Menschen, hier: die lesenden Menschen mitzunehmen.

Es ist ein Stil, der zu den Akteuren und Mitläufern seiner Romane Distanz hält – daher dieser wunderbar lakonische, saloppe Ton, der sie in ihren Zwischenreichen von Recht und Unrecht, von Treue und Verrat, auf ihren (oft illegalen) Touren und Kollisionen von Geld, Macht und Sonderinteressen in Bild und Ton zum Vorschein kommen lässt. Das alles hat auch eben den Unterhaltungswert, mit dem den das„Infotainment“ der heutigen Massenmedien hausieren geht, ohne ihn liefern zu können. Es ist der hochgradige Witz und der scharfe Verstand, den Ross Thomas in seinen Thrillern an den Tag legt, der uns Lesende gegenüber den immer wieder falschen Gegebenheiten der großen weiten Welt auf Abstand bringt und Anstoß zum Suchen und Finden von Sinn und Verstand gibt.

„Der Fall in Singapur“ – in seiner neuen, jetzt vollständigen deutschen Ausgabe – ist ein Thriller, der für viele Leserinnen und Leser eine Entdeckung werden dürfte. Und es ist ein Glücksfall für solche LeserInnen – und ihre BuchhändlerInnen – ,dass dieser eminente politische Thriller-Klassiker sie für lange Zeit begleiten kann. Da wäre von Ross Thomas zum Anschluss etwa ganz besonders zu empfehlen „Der Umweg zur Hölle“ oder „Am Rand der Welt“. Und wer sich für einen außergewöhnlichen Thriller interessiert, der im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihren vier Besatzungszonen spielt, dem sei „Der Achte Zwerg“ empfohlen. Ross Thomas hat übrigens, bevor er im Alter von vierzig Jahren freier Schriftsteller wurde, auch eine Zeitlang in Bonn gelebt und dort das American Forces Network (AFN) aufgebaut.
Gerhard Beckmann
- Ross Thomas: Der Fall in Singapur (The Singapore Wink, 1969) . Deutsch von Wilm W. Elwenspoek, bearb. von Jana Frey und Gisbert Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2019. 319 Seiten, 16 Euro.
Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CrimeMag begrüßen dürfen, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor.