Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020

Barkowski, Feldmann, Kamberger, Sepúlveda, Thoke #covid-19

Corona-Werbung in Ocosingo, Chiapas/ Mexiko © Wiki-Commons

Lockdown forever

Ein böser Traum? Ich wache auf, gerädert von zuviel schlechten Nachrichten.

Und raus geht’s.
Zum morgendlichen Brötchenholen. Damit der Tag beginnen kann. Ganz sachte. Mit Kaffee.
Ersten Gedanken.

Doch dann: die Tür ist zugenagelt. Von aussen. Jetzt kann ich nicht mehr raus. Sie haben es getan.

Corona-Werbung, Mexiko

Was für ein Quatsch! Das war doch nur ein Traum.
Wir leben schliesslich in Deutschland.
Das so gut durch die grosse Krise kommt.
Vorbildlich geradezu.
Oder vielleicht nicht?

Beim Einkauf die Tage. Vor der Kasse. Man kommt sich irgendwie näher jetzt. 
Trotz Trennsstreifen auf dem Boden.
So sagt der Mann hinter mir, weil er nicht nur an der Kasse steht, sondern auch in einem von zwei Eingangsgängen, sagt dieser Mann also und freundlich zu Menschen, die in den Supermarkt stürmen: „Könnten sie bitte mit Abstand an mir vorbeigehen. Bitte!“

Das klappt mal gut. Und wir sprechen miteinander. Über die neuen Zeiten. Und dass es ok ist, Rückmeldung zu geben. Finde ich jedenfalls.
Bis der nächste Kunde kommt.
Der hat es eilig. 
Dabei hat es wieder genügend Toilettenpapier. Und Nudeln jeder Geschmackrichtung. Alles da.
Und stösst meinen neuen Bekannten zur Seite. Mit vollem Körpereinsatz. Garantiert ohne die vorgeschriebenen 1,50.

Irgendwie wird es mir gerade zuviel.

Zuhause wartet dann das Internet. Da wird gemeint, beraten und Sensationen gedrechselt, dass es eine Freude ist. Wenn ich nach einer halben Stunde die aktuellen Zahlen intus hab,  weiss ich nicht, wo mir der Kopf steht.

Da kommt mir gerade Paul Schrader recht, ein genialer Drehbuchautor. Der meint, dass die Kinobranche am Ende ist. Und dass es vor allem die jungen Autoren und Regisseure erwischen wird.

Am Ende? Apokalyse? Wir werden alle sterben?

Ja sicher. Der Tod ist unausweichlich. Und das Leben auch. Wie bei dem jungen Russen, der gerade seit Tagen im menschenleeren Frankfurter Airport ausharrt, wie einst Tom Hanks im Film „Terminal“.

Weil ihn die deutschen Grenzbeamten nicht einreisen lassen wollen.
Und nach Moskau zurück gehts auch nicht. 
Er sitzt jetzt fest.
In der Transitzone. 

Christoph Thoke  –Autor, Juror, Produzent, Ostwestfale.
Gelernter Münchner. 
Familienvater. 
Wartet aktuell auf 2021.

Joachim Feldmann: Völlerei mit Morse

Wer wie unsereins seine Freizeit am liebsten lesend und musikhörend verbringt, konnte dem verordneten Hausarrest der letzten Wochen gelassen entgegensehen. Endlich musste man sich keine faule Entschuldigung mehr einfallen lassen, um das Kiesertraining für den leidenden Rücken ausfallen zu lassen. Dafür durfte man abends gerne mal ein Glas Wein mehr trinken, denn die Zeit des frühen Aufstehens, um rechtzeitig vor seiner Klasse zu stehen, war vorbei. Wer zudem das zweifelhafte Glück hatte, mit einer eher behäbigen Schülerschaft gesegnet zu sein, konnte sich über einen unverdienten Zuwachs an freier Zeit freuen, um zum Beispiel endlich Mischa Meyers Tausendseiter über die Völkerwanderung zu Ende zu lesen. Das Scheitern dieses ehrenwerten intellektuellen Vorhabens bestätigte wieder einmal die Erkenntnis, dass dem Arbeitsalltag abgerungene Stunden produktiver sind als unstrukturierte Muße. Die verbringt man nämlich gerne auf dem Sofa vor dem Bildschirm. Und da in den Supermärkten zwar Toilettenpapier und Mehl knapp waren, nicht aber Studentenfutter und andere Nussmischungen, geriet die abendliche Unterhaltung nicht selten zur Völlerei, zumal die Fälle des Inspector Morse – wir hatten uns rechtzeitig eine kompletten DVD-Box der legendären Serie zugelegt – aller Verzwicktheit zum Trotz einen sehr beruhigenden Effekt hatten. Und dies war nicht nur dem nostalgieträchtigen Bildschirmformat 3:4 geschuldet. Mördersuche ohne den Anspruch auf sozialen Realismus hat etwas sehr Entspannendes. Zumal man oft erst nach einer Stunde merkt, dass man den Film schon einmal gesehen hat.

Die alte Serie (1987 – 2000) war eine gute Vorbereitung auf die brandneue siebte Staffel des Morse-Spin-offs „Endeavour“ („Der junge Morse“), die den Liebhaber italienischer Opern und kryptischer Kreuzworträtsel als arroganten Schnösel porträtiert. Der Dreiteiler, angesiedelt im Jahre 1970, kommt natürlich nicht ohne entsprechendes Zeitkolorit aus. Die Produktion ist aufwendig, das Ensemble (u. a. Shaun Evans, Caroline O’Neill, Anton Lesser, Roger Allam) exzellent und das Drehbuch inclusive aktionsträchtigem Finale einfallsreich. Auf „Tatort“-Tristesse hat man danach nur noch wenig Lust.

Während ich dies schreibe, hat die Schule ihren Betrieb unter restriktiven Bedingungen wieder aufgenommen. Die erzwungenen Semi-Ferien sind vorbei, aber das, was man „Normalität“ nennt, wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Unseren eskapistischen Neigungen frönen wir nun mit der ersten Staffel des nordischen Mord-mit-System-und-ethischem-Anspruch-Spiels „Die Brücke – Transit in den Tod“, die wir bei der Ausstrahlung im ZDF vor einigen Jahren verpasst haben. Ein Epos in verblichenem Beige-Grün, sozialkritisch. sensationalistisch und ziemlich spannend. Es wie die alten Morse-Folgen ein zweites Mail anzuschauen, lässt sich allerdings nur schwer vorstellen.

Corona-Werbung, nein, nicht in Úbeda © Wiki-Commons

Klaus Kamberger: Einschlägiges aus Úbeda/Andalusien

Das schmucke Städtchen im ostandalusischen Spanien strotzt vor Renaissance-Denkmälern, verfügt stolzbrüstig über einen berühmten Sohn (in Person von Spaniens wohl wichtigstem Gegenwartsautor Gabriel Vazquez Molina) und erfreut sich überdies eines ganz besonderen Rufs. Von selbigem kündet die eigentlich harmlose Redewendung „Irse por los cerros de Úbeda“, wörtlich etwa: „über die Hügel von Úbeda laufen“. Bedeutet aber so viel wie: „dauernd um etwas herumreden, ohne wirklich zur Sache zu kommen“ oder auch einfach „dummes Zeug schwätzen“. Und damit wären wir irgendwie, nein, nicht irgendwie, eher genau beim Thema. Úbedas größter Supermarkt ist stolz darauf, das Beste aus aller Welt im Angebot zu haben. Auch für die Biere gilt das. Und im Extra-Regal für die globalen Biermarken prangen deswegen dort nicht nur „Löwenbräu,“ „Heineken“ und das unvermeidliche, wenn auch bekanntlich untrinkbare „Budweiser“, sondern natürlich auch – man hat ja gemeinsame Geschichtserinnerungen – dieses berühmte Bier aus Mexico… Nein, falsch getippt, nicht „Tecate“ (das man stets nur aus der Dose schlürft, nachdem man vorher Salz und Zitronensaft auf dem Deckel verteilt hat), sondern natürlich, horribile dictu, „Corona“ (Zitronenschnitz in den Flaschenhals drücken und ebenfalls feste schlürfen).

Klar doch, „Corona“ thronte hier immer schon gelb und breit im Cerveza-Extra-Abteil, optimal auf Augenhöhe präsentiert. Thronte. Thront aber nicht mehr. Tagelang war es sogar ganz weg. Warum wohl? Eine Übersprungs-Corona-Covid-Schutzmaßnahme? Ein Akt geisterbeschwörender Sixpack-Verbannung? Parano-spontane Verjagung der  Viren-Geister, die man rief? Könnte man meinen. Doch dann die Wende: Plötzlich war „Corona“ wieder da! Hatten da etwa zuvor selbstlose Trinker-Brigaden die Vorräte aus Mexico wegexorziert, und zwar so schnell, dass die Nachfüller vom Dienst nicht mehr nachgekommen waren? Mag sein. Doch eines irritiert: Sind doch die „Corona“-Flaschen nun auf einmal von ihrem Sonderplatz um gut einen Meter nach unten gewandert. Zur Bückware. Eindeutig ein Abstieg. Eine Demütigung. Por qué? Nun ja, wenn schon keine Verbannung, dann doch wohl eine Strafaktion. Etwa nach der Devise: Wenn‘s sein muss, bitte sehr! Aber dafür ab in die Hocke und ohne Aufhebens wegsaufen! Und wenn, dann mit schlechtem Gewissen – und Schmerzen im Kreuz.  „Irse por los cerros de Úbeda.“  

Die Machado-Skulptur in Baeza © Wiki-Commons

Exakt neun Kilometer und ein paar Olivenhügel weiter liegt das noch kleinere, aber ebenso denkmalgeschwängerte (Weltkulturerbe-)Städtchen Baeza – beide zusammen werden von Reiseführern auch gern als die größere und kleinere Schwester (mit jeweils maurisch-christlicher Vergangenheit) geführt. Und auch die kleinere Schwester ist  halt stolz, wie ein Spanier nur sein kann, nämlich darauf, dass des Landes, wie man sagt,  größter Lyriker hier vor hundert Jahren den jungen Leuten am Gymnasium eine Zeitlang Französisch eingetrichtert hat – bevor er dann mit Picasso, Casals und Konsorten vor Franco nach Paris floh: Antonio Machado heißt er. Aber vor dem neuen Virus fliehen muss hier keiner. Die Leute sind ungeheuer diszipliniert. Und so verzeichnet die Provinz Jaén auch nur zwei „Fälle“: Ein „Jubilario“ (Rentner) war einige Tage „zur Beobachtung“ in der Klinik, und eine Frau, die von einem Italien-Trip zurückkam, musste für zwei Wochen in die häusliche Quarantäne. Mehr war nicht. Die schwer heimgesuchten Metropolen Madrid und Barcelona sind fern. Und von dort lassen wir hier einfach nichts mehr herein. Dafür sorgt schon die allseits streng kontrollierende Polizei. Am Postamt von Baeza unterhalte ich ein Postfach. Als ich dieses kürzlich geleert hatte, hielt an der nächsten Straßenecke  ein Guardia mein Auto an und fragte nach dem Woher und Wohin. Ich zeigte auf die Briefkuverts auf dem Beifahrersitz und erzählte ihm von der erfolgten Leerung meines Postfachs. Er war ganz und gar nicht zufrieden und fragte nach einem „documento“ als Beleg dafür, dass ich tatsächlich gerade von der Post kam. Zum Glück hatte ich auch einen Brief aufgegeben und am Schalter eine Quittung für das Porto – mit Datum und Uhrzeit – bekommen. Jetzt war er zufrieden. Daheim durfte ich mich dann, wenn auch ein wenig schmunzelnd, fragen, wie es mir wohl ergangen wäre, wenn… Heimflug mit anschließender zweiwöchiger Quarantäne? Na ja, vielleicht hätten sie mich nicht gleich brutal nach Deutschland ins Exil geschickt, aber ganz unglimpflich wäre ich wohl nicht davongekommen. Die Ordnungsstrafen können hier nämlich drakonisch sein. Vor eben demselben Baezaner Postamt habe ich mal – erlaubterweise – kurz im Halteverbot gestanden, um einen Postgang zu erledigen, hatte dann aber im Laden gleich nebenan ein Kilo Orangen gekauft. Das hat mich 100 Euro gekostet (und es wären schlappe 200 geworden, wenn ich etwa sinnloserweise Einspruch einzulegen gewagt hätte). 

Unser Supermarkt im benachbarten Úbeda (aus dem übrigens einer der wichtigsten spanischen Gegenwartsautoren stammt: Gabriel Vázquez Molina) präsentiert seit langem schon innerhalb seines reichen ‚Cerveza‘-Angebots mit einigem Stolz ein Extra-Regal mit internationalen Bieren – holländischen, deutschen, amerikanischen und sonstigen Ursprungs, und darunter fanden sich stets, passend auf Augenhöhe präsentiert, die unvermeidlichen „Corona“-Flaschen aus dem aus dem für Spanier ja gar nicht so fernen Mexico. Tja, sie fanden sich… Finden sich aber nicht mehr. Wie das? Eine Art Ersatz-Verbannung? Die Geister, die man rief, treiben wir euch flaschenweise wieder aus? Viren-Exorzismus im Kaufhaustempel? 

Ja mei, so funktionieren Verschwörungs-Aficionados wohl…

Dabei herrschen hier bei uns in der andalusischen Provinz eigentlich Ruhe und Frieden: Zwei „Fälle“ hatten wir bisher, aber nur „zur Beobachtung“, nix Gravierendes. Dafür bin ich selber aber schon dreimal von der Polizei kontrolliert und gar streng nach dem  Woher und Wohin geragt worden…

Kurzum: Es gibt keinen Grund zu klagen. 

Rolf Barkowski: Bares oder Corona?

„Ihr Lieben, hallöchen. Ich bin der Horst. Wat habt ihr denn mitgebracht?“
– Horst Lichter, Deutschlands Duzkönig (wobei fast jeder auch geduzt werden möchte … gibt es etwas Größeres, als von Horst geduzt zu werden?)

Horst Lichter, Bares für Rares (c) ZDF/Frank W. Hempel

Was wird aus Deutschlands so beliebtem Fernsehformat?
Kontrollierter Einlass, die Händler mit Abstand, Horst mit Maske und die Experten ja sowieso. Jede Antiquität – erst mal desinfizieren nach der Begutachtung, oder?
Und wer braucht den ganzen Krempel jetzt noch nachdem gerade alle Keller und Dachböden sowas von aufgeräumt wurden?
Eine große Herausforderung für das ZDF.
Wie viele Aufzeichnungen sind noch am Lager, wie viele Wiederholungen müssen wir uns ansehen?
Sind wir gespannt. Sonst wird bald aus Horsts ‚… dat Händlerkärtchen … dat Coronakärtchen …

Foto © Wiki-Commons

Ein Nachruf auf Luis Sepúlveda

von Theo Bruns, Assoziation A.

Liebe Freundinnen und Freunde, uns erreichte die traurige Nachricht, dass der Schriftsteller und Aktivist Luis Sepúlveda am 16. April 2020 an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung in Oviedo in Nordspanien gestorben ist. Wir erinnern uns an einen großen Compañero.

Luis Sepúlveda wurde am 4. Oktober 1949 in Ovalle im Norden Chiles geboren. Sein Vater war Restaurantbesitzer und Mitglied der Kommunistischen Partei, seine Mutter Krankenschwester und Angehörige der Mapuche, die 300 Jahre lang die spanische Kolonisation bekämpft hatten, sein Großvater ein exilierter andalusischer Anarchist. Eine Familientradition, die prägte.

Der junge Sepúlveda schließt sich zunächst der Kommunistischen Jugend an. Früh beginnt er zu schreiben, für seinen ersten Erzählungen-Band »Crónica de Pedro Nadie« wird ihm ein Preis des kubanischen Kulturinstituts Casa de las Américas verliehen. Im Anschluss bekommt er ein Stipendium an der Lomonossow-Universität in Moskau, wird aber schon nach ein paar Monaten nach Hause geschickt, weil er gegen »die proletarische Moral« verstoßen habe, und aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Er wird nun Mitglied bei den Sozialisten, betätigt sich weiter als Schriftsteller, studiert an der Theaterschule. Ende der 1960er Jahre lernt er seine erste Frau Carmen Yañez kennen, 1971 heiraten die beiden, kurz darauf wird ihr Sohn Carlos geboren.

Erst spät wird bekannt, dass Luis Sepúlveda zwischenzeitlich in den Reihen der bolivianischen ELN aktiv war, die sich nach dem Tod Che Guevaras reorganisierte und 1970 einen tragisch gescheiterten Versuch unternahm, einen neuen Guerillafokus in Teoponte, nördlich von La Paz, zu installieren. Zurück in Chile beteiligt er sich am Versuch der Unidad Popular, auf friedlichem Weg den Sozialismus aufzubauen. Luis Sepúlveda wird diese Phase später als die beste Zeit seines Lebens bezeichnen und es als Privileg empfinden, an diesem gelebten »schönen Traum« teilgehabt zu haben. Er gehört zum Kreis der GAP (Grupo de Amigos Personales), die die Leibgarde Salvador Allendes bildet. Durch den maßgeblich von der USA unterstützten Militärputsch Pinochets wird dieses Experiment einer solidarischen Gesellschaft 1973 in Blut erstickt. Luis Sepúlveda wird verhaftet und schwer misshandelt. Auf internationalen Druck kommt er nach sieben Monaten frei, geht in den Untergrund, wird ein zweites Mal verhaftet und zu lebenslänglich verurteilt. Nach zwei Jahren Haft wird seine Strafe 1977 aufgrund erneuten Einsatzes von Amnesty International in acht Jahre Zwangsexil umgewandelt.

Schweden hatte ihm Asyl angeboten, doch bereits beim ersten Zwischenstopp des Flugzeugs in Buenos Aires durchkreuzt Luis Sepúlveda den Reiseplan und hält sich in der Folge in mehreren Ländern des Cono Sur auf. Schließlich landet er in Ecuador, wo er seine Theaterarbeit wieder aufnimmt. Eine Zeit lang lebt er hier unter den Shuar-Indígenas im Amazonasgebiet, eine Erfahrung, die später in seinen erfolgreichsten Roman »Der Alte, der Liebesromane las« einfließen wird. Ende 1978 schließt er sich der internationalen Brigade Simón Bolívar an und kämpft in Nicaragua gegen die Diktatur Somozas. Nach dem Sieg der Revolution verlässt er aufgrund von Differenzen mit der sandinistischen Führung das Land und lässt sich in Deutschland nieder. Hier heiratet er seine zweite Frau Margareta, mit der er drei Kinder haben wird.

In den 1980er-Jahren lebt Luis Sepúlveda in Hamburg, arbeitet als Journalist u.a. für den Spiegel und entdeckt mit dem Umweltschutz das zweite große Thema seines Lebens. Er ist auf Schiffen von Greenpeace unterwegs und engagiert sich als Öko-Aktivist gegen den Walfang. Nach der Trennung von seiner zweiten Frau, mit der ihn Zeit seines Lebens weiter eine innige Freundschaft verbinden wird, verbringt er zwei Jahre in Paris. 1996 siedelt er schließlich nach Asturien in Nordspanien über, wo er seither mit Carmen Yáñez zusammenlebt, zu der er den Kontakt wieder aufgenommen hatte. Er heiratet Carmen, eine Überlebende der Pinochet-Diktatur wie er und längst eine anerkannte Dichterin, ein zweites Mal. Ein Liebesgeschichte, die selbst ein Roman ist. In Gijón ist er Gründer und Organisator des Salón del Libro Iberoamericano und beteiligt sich an dem von Paco Ignacio Taibo II alljährlich organisierten Literaturfestival Semana Negra in Gijón.

Sein Werk wurde in rund fünfzig Sprachen übersetzt und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören neben »Der Alte, der Liebesromane las«, »Die Welt am Ende der Welt«, »Patagonia Express« und das Jugendbuch »Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte«. Bei Assoziation erschien von ihm »Die Spur nach Feuerland« (Nombre de Torero). Hauptfigur des Romans ist der chilenische Ex-Guerillero Juan Belmonte, ein Alter Ego des Schriftstellers.

Von Luis bleibt mir neben seinem Werk die Erinnerung an eine begeisternde Woche, die wir mit vielen Genossinnen und Genossen gemeinsam im Rahmen der Semana Negra verbrachten. Es war ein einmaliger Mikrokosmos von Überlebenden der lateinamerikanischen Militärdiktaturen, dissidenten Kubanern und Kriminalschriftstellern, die ihr Werk als kritische Röntgenaufnahme der Gesellschaft verstanden. Paco, Paloma und Marina Taibo; der Tupamaro Mauricio Rosencof; Justo Vasco, Leonardo Padura, Daniel Chavarría und Humberto Solás aus Kuba; Jürgen Alberts aus Bremen – sie alle waren dabei. Wir haben gesungen, gelacht und Wein getrunken. Es war seine Welt.

Die Literatur hat Luis Sepúlveda ganz im Sinne Walter Benjamins den Verlierern der Geschichte gewidmet. »Wir Schriftsteller müssen die Stimme der Vergessenen sein«, war sein Motto. Er war ein Kosmopolit und leidenschaftlicher Reisender, dem das Wort »Vaterland« nichts bedeutete. Er sei »rot bis auf die Knochen«, hat er einmal von sich gesagt. Dabei war er von einer anarchischen Unabhängigkeit des Denkens. Seinen politischen Zielen blieb er immer treu und hat den Traum von einer besseren Welt nie aufgegeben. Ihr galt wie der Liebe seine ganze Hingabe. Um mit seinen Worten zu schließen:

»Cada uno
tiene en la memoria
un álbum privado
De recuerdos felices,
De esos días en los que
Lo hemos dado todo…
Y nos pareció
dar muy poco.«

»Jeder von uns
hat in seinem Gedächtnis
ein privates Album
glücklicher Erinnerungen
an jene Tage, in denen
wir alles gegeben haben,
und es uns schien,
als gäben wir nur sehr wenig.«

Adiós compañero!

Mit herzlichen Grüßen
Theo Bruns

P.S.: Unter dem Titel »Widerstand vom Ende der Welt« ist in der arte-Mediathek und bei YouTube noch bis zum 16. Juli ein wundervolles filmisches Porträt Sepúlvedas (Regie: Sylvie Deleule) zu sehen.




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