Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Anne Holt „In Staub und Asche“

Der 22. Juli

Constanze Matthes über ein Verbrechen im Sommer und dessen literarisches Echo

Sie hießen Ida, Maria, Espen, Andreas. Vier der insgesamt 77 Menschen, die am 22. Juli 2011 während des Anschlags des rechtsextremen Terroristen Anders Behring Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya getötet wurden. Unter den Opfern befanden sich zahlreiche Kinder und Jugendliche eines Zeltlagers der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Das Attentat hat eine Wunde in die Seele des Landes gerissen. Des Landes, das so sicher und friedvoll galt, dessen Einwohner glücklich und zufrieden schienen. Der Anschlag hat gezeigt, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit ein Teil der Gesellschaft sind. Mittlerweile sind dieser Tag und seine Folgen auch in der norwegischen Literatur angekommen. In ihrem Roman „In Staub und Asche“ widmet sich die Krimi-Autorin Anne Holt diesem anspruchsvollen Thema – und das meisterhaft.

In ihrem Blog, den sie unter einem Pseudonym führt, verbreitet Iselin Havørn, Rechtspopulistin sowie Geschäftsführerin eines Unternehmens für Nahrungsergänzungsmittel, rechtes Gedankengut und hetzt gegen Ausländer, vor allem Muslime. Es ist die Zeit, in der zahlreiche Flüchtlinge auch Norwegen erreichen. Havørns wahre Identität fliegt durch die Recherche eines Journalisten auf. Wenig später wird sie tot in ihrem Haus aufgefunden. Die Polizei geht von Selbstmord aus. Als sich die erfahrene Kommissarin Hanne Wilhelmsen den Abschiedsbrief der Frau sehr genau anschaut, hat sie indes Zweifel an dieser Theorie. Zeitgleich erhält ihr jüngerer Kollege Henrik Holme einen alten Fall von einem früheren, mittlerweile in den Ruhestand gegangenen Polizisten namens Kjell Bonsaksen angetragen: Jonas Abrahamsen soll vor 14 Jahren seine Frau getötet haben. Das Gericht verurteilte damals den Mann, obwohl er stets seine Unschuld beteuerte, Bonsaksen ihm auch Glauben schenkte. Wilhelmsen und Holme ahnen zu Beginn nicht, dass beide knifflige Fälle nur durch eine Person miteinander verbunden sind. Bis zu dieser Erkenntnis ist es für das Ermittler-Duo ein schwieriger Weg, der mit der Entführung eines Kleinkindes einer zweiten erfolgreichen Bloggerin, deren Vater ein dunkles Geheimnis und eine große Schuld verbirgt, noch eine ganz andere Richtung einschlägt.

Mit Wilhelmsen und Holme hat Anne Holt zwei sehr ungleiche, aber auch charismatische Figuren geschaffen, die sich in ihrer Arbeit wunderbar ergänzen. Seit sie bei einem Einsatz angeschossen wurde, sitzt Wilhelmsen im Rollstuhl. Die erfahrene Ermittlerin lebt mit ihrer türkischstämmigen Frau Nefis und Tochter Ida zusammen, Holme ist mit der Zeit zu einem vierten Familienmitglied geworden. Der Kommissar in den 30ern, der mit seinen Tics auffällt und eingefleischter Single ist, wird von Wilhelmsen wegen seiner Klugheit und seiner grenzenlosen Einsatzbereitschaft geschätzt. Auch wenn zwischen beiden ab und an die Luft brennt. Gemeinsam haben sie das Attentat am 17. Mai in Oslo mit mehr als 40 Opfern aufklären können, auch hier zeigt sich die Verbindung zum unheilvollen, indes realen 22. Juli. Dieses große Thema verhandelt Holt nicht nur durch Zahlen und Andeutungen. In Wilhelmsens Gedanken und ihren Gesprächen mit Bekannten der toten rechten Bloggerin, die ebenfalls in einer Partnerschaft mit einer Frau lebte, wird ihre tolerante Haltung als klarer Gegensatz allzu deutlich. Eine weitere Thematik im Roman ist das Buch Hiob, ein Teil des Alten Testaments, über das sich Wilhemsen und Holme intensiv unterhalten und auf den das Buch bereits zu Beginn mit einem Zitat verweist.

„In Staub und Asche“ ist der nunmehr zehnte Band der Wilhelmsen-Reihe aus der Feder der norwegischen Autorin und Juristin, die von 1996 bis 1997 Justizministerin des Landes war und wie ihre Heldin mit einer Frau in einer eingetragenen Partnerschaft lebt. Der vielschichtige Roman besticht durch seine meisterhafte Konstruktion und seinen konzentrierten Blick auf verschiedene Lebensgeschichten und -schicksale, ohne eines aus den Augen zu verlieren. Den wahren und gemeinsamen Hintergrund sowohl des aktuellen Falls als auch des Cold Case wird nach und nach gelüftet. Erst gegen Ende wird dem Leser wirklich klar, worin der überraschende Zusammenhang zwischen beiden Morden besteht. Das Motiv ist ein altes, das in der Menschheit schon seit deren Anbeginn existiert: die Gier nach Macht und Geld, die einen dazu treiben kann, Unrecht zu begehen. Im Gegensatz stehen dazu Verlust, Schmerz und Trauer – ein Thema, das der Roman bravourös an der Figur des Jonas Abrahamsen und dessen Schicksal verhandelt.  

Holt ist mehrfach mit Preisen geehrt worden. In den vergangenen zwei Jahren erschienen mit „En grav for to“ und „Furet/værbitt“ zwei weitere Romane, in denen nunmehr die Juristin Selma Falck im Mittelpunkt steht und die noch nicht in deutscher Übersetzung erhältlich sind. Mit „In Staub und Asche“ als Finale der Wilhelmsen-Reihe heißt es wohl, Abschied zu nehmen. Obwohl man das so recht nicht glauben mag. Denn sie und ihr genialer Partner schließt man samt ihrer teils schrulligen Eigenheiten unweigerlich ins Krimileser-Herz. Vielleicht gibt es ja auch ein Comeback…

Constanze Matthes

  • Anne Holt: In Staub und Asche (I støv og aske, 2018). Übersetzt von Gabriele Haefs.  Piper Verlag, München/ Berlin 2018. 416 Seiten, Hardcover 22 Euro, Taschenbuch 11 Euro.

Die freie Journalistin Constanze Matthes lebt und arbeitet in Naumburg/Saale. Auf ihrem Blog „Zeichen & Zeiten“ schreibt sie über Bücher, die sie ans Herz legt. Ihre Texte bei uns hier. Bei Twitter.

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