Geschrieben am 29. August 2009 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Andreu Martin über Kriminalliteratur – Ein Essay

Kriminalliteratur: Ihre Essenz, ihre Protagonisten

Der katalanische Autor Andreu Martin über Grundsatzfragen der Kriminalliteratur (Teil I+II).

Andreu Martín gehört spätestens seit dem Roman Protesis (1979) zu den wichtigen Innovatoren des Kriminalromans. Bei uns wurde er leider von der Popularität Manuel Vázquez Montalbáns überschattet, obwohl jeder einzelne von Andreu Martíns Romanen, die weiland im Elster Verlag erschienen waren, mehr Dynamik, Radikalität und Originalität aufwiesen. Als Autor von Jugendbüchern immerhin hat sich Andreu Martín auch hierzulande durchsetzen können. Eher unbekannt sind seine frühen Arbeiten als Comic-Szenarist. Deswegen freuen wir uns, Andreu Martín hier als jemanden vorstellen zu dürfen, der auf der Basis seiner eigenen Praxis über das Genre nachdenkt.

Teil I des Essays

Jedes Mal, wenn ich um eine genaue Definition des Kriminalromans gebeten werde, merke ich wieder, dass ich in der Patsche sitze. Es ist schon seltsam, denn wenn ich eine Buchhandlung betrete und nach Kriminalromanen suche, weiß ich, zu welchem Autor ich greifen muss; ich weiß, dass mir das Genre gefällt, und ich erkenne einen Roman des Genres sofort; ich schreibe selbst gern welche, und wenn ich damit fertig bin, weiß ich, ob es zum Genre gehört oder nicht. Wenn ich aber definieren soll, was das Genre Kriminalroman ist, gerate ich ins Stolpern, und wenn ich mich dann für ein Charakteristikum entscheide, dass ich für essenziell halte, habe ich das Gefühl, wichtige Romane außen vor zu lassen, die genau das nicht haben. Wenn wir sagen, dass ein Krimi keiner ist, wenn es keinen Detektiv oder Ermittler gibt, was ist dann zum Beispiel mit Wenn der Postmann zweimal klingelt? Wenn es uns genügt, dass es einen Mörder oder ein Verbrechen gibt, müssten wir fast die gesamte Weltliteratur mit einbeziehen … Und wenn das Wesentliche des Krimis in der präzisen Beschreibung der Personen, der Umgebung, der Gesellschaft, der Atmosphäre liegt, worin unterscheidet er sich dann von jedem anderen Roman? Warum beschränken wir uns nicht einfach darauf, ihn einen behavioristischen Roman zu nennen?

Vielleicht liegt das Problem darin, dass die Autoren von Kriminalromanen zu einer Gruppe gehören, die sich nicht um Etiketten schert. Wir schreiben, wie es uns passt und wozu wir Lust haben, das schicken wir dann an einen Verlag und beschäftigen uns schon mit dem nächsten Roman, ohne genau darüber nachzudenken, was wir tun. Das überlassen wir lieber den Akademikern und Kritikern, die mit der undankbaren Aufgabe befasst sind, Etiketten und Begriffe zu verteilen, mit denen wir, nebenbei gesagt, fast nie einverstanden sind. Unsere Lustlosigkeit, zu theoretisieren, stellt sich vor allem dann ein, wenn ein Journalist, ein Schüler oder einfach ein begeisterter Leser uns fragt, was wir so treiben und wie wir unser Leben gestalten; dann machen wir meistens ein dummes Gesicht. Oder wir reden und reden, lassen den erstbesten Schwachsinn vom Stapel und nähren damit die Legende, die behauptet, dass wir in einem Land leben, wo mehr geschrieben als gedacht wird.

Dass etwas mit unserem Berufsstand nicht stimmt, habe ich bemerkt, als ich einmal gemeinsam mit einem Schriftstellerkollegen zu einer Radiosendung eingeladen war. Die erste Frage, die uns der Moderator stellte, war typisch und in gewisser Weise vorhersehbar: „Was ist das Genre Krimi?“ Ich erstarrte, wusste nicht, was ich sagen sollte, und nach ein paar Sekunden des Zögerns und Stammelns ergriff der andere, erfahrenere Autor das Wort und behauptete, „das Genre Krimi ist undefinierbar; niemand weiß genau, was es damit auf sich hat.“ „Es ist ein urbanes Genre“, sagte er, „aber seine Geschichten können auch auf dem Land spielen; es ist eine Handlung, die um ein Verbrechen herum gebaut wird, aber manchmal gibt es auch kein Verbrechen …“ Während mein Kollege fortfuhr, erschrak ich bei der Vorstellung, was für ein Bild wir als Krimiautoren abgeben mussten, unfähig, unsere Arbeit zu definieren. „Wie sollen wir gute Kriminalromane schreiben, wenn wir nicht einmal wissen, was das ist?“, dachte ich.

Jahre später, während einer Podiumsdiskussion auf dem Krimifestival „Semana Negra“ in Gijón (wo sich Jahr um Jahr die besten Krimischriftsteller der Welt versammeln, um über Krimi zu diskutieren, ihn zu definieren und zu verstehen), traf ich auf drei Autoren, die entschlossen waren, dem Genre etwas mehr Würde zu verleihen. Ihr Auftreten machte mich erst misstrauisch, denn ich bin der Meinung, dass man nur einer Sache mehr Würde verleihen möchte, die man als unwürdig erachtet, und ich begreife nicht, wie sich jemand ein Leben lang mit etwas beschäftigen kann, das seiner Meinung nach keinerlei Würde besitzt. Doch vielleicht war das gar nicht das Problem, und sie kamen bloß zur „Semana Negra“ mit einem Stigma, das ihnen die ganzen Idioten verpasst hatten, die Kriminalliteratur für ein niedriges Genre halten und verächtlich auf sie herabblicken. Einer von ihnen fing also an, über die Auserlesenheit des Genres zu sprechen: „Der Kriminalroman existiert schon seit Urzeiten, und die größten Autoren haben sich ihm gewidmet. Hamlet ist zum Beispiel ein großes Werk der Kriminalliteratur.“ Der Nächste, dem diese Würdigung anscheinend noch nicht genügte, setzte die Lobeshymne über „das beste Genre in der Geschichte der Literatur“ eine ganze Weile fort, und um das Publikum von seinen Qualitäten zu überzeugen, verlegte er die Geburtsstunde des Kriminalromans in Anspielung auf seinen Kollegen noch um ein paar Jahrhunderte vor und nannte als Ursprungstext König Ödipus, „denn es gibt Ermittlungen und ein Verbrechen.“ Für den dritten Schriftsteller hing die Latte also schon ziemlich hoch, als er das Wort ergriff, und indem er das Genre noch mehr würdigte, machte er es mir – ich war als letzter dran – immer schwerer. Nachdem er sich mit den Ausführungen seiner Kollegen einverstanden erklärt hatte, nahm er Bezug auf „den größten Bestseller des Kriminalromans; das meist verkaufte Buch in der Geschichte der Menschheit; ein Buch voller Spione, Konspiration, Mord, Verrat, Streit und Ermittlungen jeder Art …“ Natürlich meinte er damit die Bibel. Weil ich keine Lust auf das Spiel hatte, sich gegenseitig in der Würdigung des Genres zu übertreffen, beschränkte ich mich schließlich auf folgenden Kommentar: „Wenn mich ein Verleger damit beauftragen würde, eine Krimireihe zusammenzustellen, und die ersten drei Titel, die ich auf den Markt bringen wollte, Hamlet, König Ödipus und die Bibel wären, würde diese Reihe wahrscheinlich nie erscheinen.“ Schon richtig, dass die drei erwähnten Bücher voller Verbrechen und Ermittlungen sind, aber wahr ist auch, dass niemand sie in den Krimiregalen einer Buchhandlung erwartet. Genauso wenig wird unter den Titeln des Genres Verbrechen und Strafe erwartet, ein weiterer Roman, auf den gern angespielt wird, um das Genre zu adeln. Dostojewskis Text hat, wie die drei anderen Bücher, von denen bei der Podiumsdiskussion der „Semana Negra“ die Rede war, alle Ingredienzen, um als Beispiel des Genres zu gelten: Mörder, Morde, Polizisten, Ermittlungen … aber es ist kein Krimi. Denn egal, wie großartig die Lektüre von Verbrechen und Strafe sein mag, egal wie viel Verbrechen und Ermittlung drinsteckt, wenn ich als Leser einen guten Krimi suche, wäre ich ziemlich genervt, einem Raskolnikov zu begegnen. Wovon reden wir also, wenn wir von Kriminalroman reden?

Wenn der Körper nach einem Kriminalroman verlangt, sucht ein guter Leser etwas ganz Bestimmtes. Er sucht etwas, das den verschiedenen Subgenres gemeinsam ist, sowohl dem klassischen Whodunnit wie auch dem Police Procedural, wie sie Ed McBain oder Joseph Wambaugh entwickelt haben; oder dem psychologischen Verbrechen bei James M. Cains Wenn der Postmann zweimal klingelt, Horace McCoys Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss oder der genialen Patricia Highsmith; oder den crook stories, deren Protagonisten die Bösen sind, wie bei Donald Westlake, der unter dem Pseudonym Richard Stark schreibt, oder Lawrence Block und seinem großartigen Hit Man … Was haben diese Romane also gemeinsam? Den Detektiv? Das Verbrechen? Die Ermittlung?

Die Fachleute sind sich einig darüber, dass der Ursprung des Kriminalromans Edgar Allen Poes Der Mord in der Rue Morgue ist. Um also das Genre korrekt definieren zu können, scheint es mir notwendig, zu den grundlegenden Eigenschaften seines Gründungstextes zurückzukehren.

Mehr über Edgar Allan Poe, den „klassischen“ und den „modernen“ Kriminalroman, lesen Sie im 2. Teil des Essays.

Auf der Suche nach der Essenz: Rückkehr zu den Ursprüngen (Teil II)

Die Fachleute sind sich einig darüber, dass der Ursprung des Kriminalromans Edgar Allen Poes Der Mord in der Rue Morgue ist. Um also das Genre korrekt definieren zu können, scheint es mir notwendig, zu den grundlegenden Eigenschaften seines Gründungstextes zurückzukehren.

Nach einer Zeit der Exzesse, in der Poe häufig seinen Aufenthaltsort wechselte, ließ er sich in Philadelphia nieder. Dort heiratete er, gründete eine Familie, gab das Trinken auf, fand eine Arbeit und versuchte, es zu etwas zu bringen. Es war in diesem Moment, als sein Leben stabil und geordnet wurde, als er Der Mord in der Rue Morgue schrieb, und so seine alte Begeisterung für das Gruselige, Übernatürliche und Abergläubische wiederentdeckte. Nicht umsonst hatte er jahrelang Schauergeschichten geschrieben, die voller düsterer und grausamer Dinge waren. Doch beschränkte sich der amerikanische Autor nicht darauf, die Erfahrungen seiner früheren Erzählungen einzubringen, sondern würzte sie mit dem Einfluss positivistischer Philosophie, die zu seiner Zeit vorherrschte, und mit die Ideen von Autoren wie August Comte, David Hume, John Stuart Mill oder Herbert Spencer arbeitete. Auf diese Weise wurde alles, was mit Übernatürlichem und Aberglauben zu tun hatte, von der ersten Erzählung an mit nachvollziehbaren Gründen widerlegt und auf rationale Weise erklärt.

In Der Mord in der Rue Morgue erschafft Edgar Allan Poe den ersten Amateurermittler, Auguste Dupin, und präsentiert ihn als einen Typus mit enormen analytischen Fähigkeiten. Tatsächlich zeigt der Detektiv zu Beginn der Erzählung seine Fähigkeiten, indem er durch logische Verknüpfung die Gedanken seines Begleiters errät. Dann gibt er ein scheinbar unlösbares Rätsel auf. Die Konzeption des Falls könnte uns denken lassen, dass es sich um eine seiner fantastischen Geschichten handelt: Der Autor beschreibt ein schreckliches Verbrechen, in dem eine Frau und ihre Tochter grausam verstümmelt in einem Zimmer entdeckt werden, das allem Anschein nach weder jemand betreten noch verlassen hat. Der Mörder scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, als handele es sich um einen Teufel oder Geist. Doch anstatt uns wie sonst in Angst und Schrecken zu versetzen, lässt Poe bei seiner Figur Dupin Vernunft walten und bietet uns eine Lösung an, die genauso plausibel wie überraschend ist. Die Lösung des Falls erinnert an ein Bilderrätsel, eine Scharade oder irgendein anderes Intelligenzspiel, nicht nur, weil man durch Deduktion zu einem Ergebnis kommt, sondern auch, weil es, wie bei jedem Spiel, Spaß macht. In der Geburtsstunde des Kriminalromans wächst seiner spielerischen und intellektuellen Herausforderung eine wichtige Rolle zu, wie die ersten Zeilen des Gründungstextes belegen:

„Charaktereigenschaften, die man analytisch nennt, sind selbst einer Analyse nur wenig zugänglich. Wir schätzen sie lediglich nach ihren Erfolgen ein und wissen unter anderem, dass sie für denjenigen, der in großem Maße darüber verfügt, eine Quelle köstlichsten Genusses sind. Wie der Starke auf seine Körperkraft stolz ist und an Übungen, bei denen er seine Muskeln spielen lassen kann, Freude hat, so frohlockt der Analytiker über die Wachheit seines klärenden Geistes. (…)

Dank der Intelligenz und der analytischen Fähigkeiten Dupins, wird der Leser nicht dem Schrecken des Chaos und der Ungewissheit überlassen. Die unerwartete Lösung stellt die Ordnung wieder her und verschafft dem Leser einen besonderen Genuss, den Genuss der spielerischen Deduktion. Rationalität erklärt die Welt um ihn herum, und nebenbei macht es Spaß, weil das Interpretationsmittel analytischen Charakter hat; ein Spiel der Beobachtung und Analyse von Gesellschaft, mit dem Ziel, Ordnung zu schaffen, natürliche Erklärungen für scheinbar Übernatürliches zu finden, mit dem Aberglauben der Schauerliteratur aufzuräumen und Rationalität walten zu lassen. Was Poe konzipiert ist also die Beweisführung dafür, dass jedes Geheimnis des Lebens eine logische Erklärung hat.

Im Werk von Edgar Allan Poe tauchen also die drei Elemente auf, die seit damals das Genre kennzeichnen. Auf der einen Seite ist das Verbrechen (oder allgemein gesprochen, das Delikt oder irgendeine Art von Verstoß); andererseits gibt es das Spiel, in das er den Leser miteinbezieht; und an dritter Stelle gibt es die Ermittlung, die durch analytisches Vorgehen den Schrecken des Verbrechens auflöst und so Ordnung in eine chaotische Situation bringt. Jahre später sollte Arthur Conan Doyle diese von Poe eingeführten Elemente in zahllosen Geschichten mit dem weltberühmten Sherlock Holmes erst richtig zu einer Art literarischen Grundstruktur konsolidieren. In den Geschichten mit dem Ermittler aus der Baker Street gibt es immer ein Verbrechen, eine intellektuelle Herausforderung und ein befriedigendes Ende, weil der Fall gelöst wird. Mit seinen Werken nahm das Genre sogar Einfluss auf die Gesellschaft, als nämlich Conan Doyle, der vielleicht sogar als Erster in der Geschichte der Literatur seinen Protagonisten hasste, beschloss, Sherlock Holmes während eines Abenteuers am Reichenbachfall gemeinsam mit seinem berühmten Feind Moriarty sterben zu lassen. Dieser originelle Einfall hatte zahlreiche Konsequenzen: Es gab eine Eingabe im Parlament, um gegen das Verschwinden des Detektivs zu protestieren, die Magnaten der City von London zeigten sich in schwarzen Umhängen, die britische Königsfamilie zeigte öffentliches Unbehagen… Ganz England hüllte sich in Trauer. Angesichts der Situation blieb Conan Doyle nichts anderes übrig, als Holmes wiederauferstehen zu lassen. Dabei ist der sogenannte Rätselroman entstanden, der Sherlock’sche Roman, typisch für London, für den später Agatha Christie bekannt wurde.

Manche behaupten, dass der Kriminalroman bis zu diesem Moment bloßer Zeitvertreib war; es gibt eine Gesetzesverletzung, und niemand weiß, wie es dazu gekommen ist, bis der Detektiv auftaucht und das Rätsel auf überraschende Weise löst. Allerdings gibt es mehr als das spielerische Element in diesen Romanen. Von den drei vorhin aufgezeigten zentralen Elementen kann das Verbrechen, das nichts als der Nachfolger des Grauens in Poes ersten Werken ist und auf das wir uns generisch als Übertretung der herrschenden Ordnung beziehen können, als repräsentatives Element der Wirklichkeit definiert werden. Die alltäglichen Ängste, die wir alle in uns tragen – von Entführungsangst über häusliche Gewalt bis hin zur Welt der Drogen oder einfach nur der Panik, von einem Axt schwingendem Menschen auf der Straße angegriffen zu werden – stellen eine Art von Paranoia dar, die jeder zu ignorieren versucht, weil er sonst verrückt würde. Zum Beispiel würde jeder vernünftige Mensch vor einem Unbekannten fliehen, der einem einen Fleck auf der Anzugtasche zu entfernen versucht, in der man sein Portemonnaie trägt. Womöglich hat dieser tatsächlich nur die Absicht, den ursprünglichen Zustand der Kleidung wiederherzustellen, doch diese Miniparanoia, diese Furcht vor alltäglichen Schrecknissen, bringt uns dazu, ihn für einen Taschendieb zu halten. Die Angst, die wir Bürger solchen Situationen gegenüber in uns tragen, ist dem Umstand geschuldet, dass ein Taschendieb eine reale Gefahr ist, und nicht eine paranoide Fantasievorstellung. Diese Paranoia, die lediglich eine Reaktion darauf ist, dass plötzlich alles anders ist, entspricht der Wirklichkeit in einem Kriminalroman. Unsere Ängste werden, übertragen auf Papier, ausgetrieben durch ein Spiel, indem sie durch einen rationalen Filter geschickt werden, um sie überwinden zu können. Nun gut, diese Ängste sind also in den Werken der Londoner Zeit (obwohl schon in den USA begonnen) präsent, und allein ihr Vorhandensein stellt bereits eine gesellschaftliche Analyse dar. Man erfährt von den Ängsten einer Gesellschaft, wenn man zu den Kriminalromanen ihrer Zeit greift.

Schon im Licht dieser ersten Überlegungen scheint mir der Entstehung des Kriminalromans der reinen Analyse äußerst bedeutsam zu sein, und ich habe auch nicht vor, ihn als reaktionär und belanglos zu bezeichnen, wie es gelegentlich geschieht. Das reine Spiel, die Freude daran, die Analyse und die kritischen Überlegungen als Ausgangspunkt des Bewusstseins, die Zurückweisung blinden Glaubens, das Verbrechen als Element der Grenzübertretung erscheinen mir essenziell, wenn es darum geht, die Konzeption des Kriminalromans zu definieren. Klar ist natürlich auch, dass das nicht genügt. Denn der Kriminalroman handelt, wie sein Namen sagt, von zu wichtigen Themen, als dass man auf der Ebene des Spiels verharren könnte. Ein bewusster Schriftsteller, der nicht irgendwelche Stereotypen bedienen will, muss sich früher oder später der Wirklichkeit, über die er schreibt, annähern, und diese Wirklichkeit ist in diesem Fall die Polizei und die Kriminalität, das Verbrechen und seine Verfolgung, die Justiz und die Strafe. Und es dauerte nicht lange, bis die Autoren damit anfingen, diese Wirklichkeit, die sie in ihren Büchern darstellten, kritisch unter die Lupe zu nehmen: Warum verübt der Verbrecher eine Straftat und warum verfolgt ihn die Polizei? Wer überwacht die Polizei, und was passiert, wenn Polizisten ebenfalls Verbrecher sind? Wer erlässt die Gesetze und warum, und wer sorgt dafür, dass sie eingehalten werden und wie …

Im 3. Teil lesen Sie, wie alles anfing hat mit dem Kriminalroman und wohin er sich entwickelt hat.

Die Entstehung des Kriminalromans (Teil III)

Der Kriminalroman hat zu Beginn nicht versucht, mit seinem literarischen Vorläufer, dem Rätselroman des Whodunnit, zu brechen. Sowohl in der Grundstruktur von Raymond Chandlers als auch Dashiell Hammetts Werken gibt es Geheimnisse und Verborgenes und Rätsel zu lösen. Auch wenn sie sich mit humorvollen Szenen und kruden Beschreibungen gesellschaftlicher Niederungen vergnügen, ist das strategische Mittel, um den Leser bei der Stange zu halten, das Rätsel um den Malteserfalken oder die Frage, wer den Partner von Sam Spade ermordet hat. Und am Ende erwartet uns immer eine vorhersehbare Überraschung. Der Mörder ist derjenige, von dem wir es am wenigsten erwartet hätten, der Falke ist aus einem Material gemacht, aus dem Träume gemacht sind …

Vielleicht liegt der Unterschied zwischen den beiden Romantypen in ihren Helden. Der Kriminalroman schafft den großartigen Typus des Verlierers. Bis dahin waren Sherlock Holmes und andere Detektive der ersten Stunde die strahlenden Sieger. Da ihre Aufmerksamkeit sich allein darauf richtete, einen Schuldigen zu finden und Ordnung in ihre Umgebung zu bringen, genossen sie Applaus, Schulterklopfen und Glückwünsche. Doch der Ehrgeiz des Protagonisten eines Kriminalromans geht viel weiter. Vielleicht beschränkt sich sein Augenmerk erst einmal auf den Mörder, wenn das Abenteuer beginnt, doch nach und nach wird er während seiner Ermittlungen eine Menge Schweinereien aufdecken, er wird merken, dass man sich nicht auf den fraglichen Mörder beschränken kann, wenn es wirklich um Gerechtigkeit geht, sondern auch denen Einhalt geboten werden muss, die über diesem Mörder oder sogar an der Spitze des Rechtssystems stehen. Selbst wenn der Detektiv in der letzten Szene den Schuldigen erwischt, wird er weiterhin der Verlierer sein, denn er weiß, dass nichts besser wird, indem man den Mann ins Gefängnis steckt. Er weiß, dass sein Feind der Große Drache ist und er höchstens einen seiner Zwerge erledigt hat. Während der Lektüre eines Romans von Chandler oder Hammett oder irgendeines anderen Hard-boiled-Autors merkt man, dass es mehr als einen Schuldigen gibt, weshalb es kein echter Erfolg ist, dass ein einzelnes Individuum zur Rechenschaft gezogen wird. Auch wenn Sam Spade beim Lösen der Fälle mit ein paar Blessuren davonkommt, auch wenn Philip Marlowe immer mit dem hübschesten Mädchen ins Bett geht, sind die Detektive von Kriminalromanen die eigentlichen Verlierer, unfähig, die Ordnung in der Gesellschaft wiederherzustellen, etwas, das den Figuren von Conan Doyle und Agatha Christie noch gelungen ist.

Deshalb ist das Besondere eines Kriminalromans, dass es um eine kritische Reflexion von wichtigen Themen wie Gerechtigkeit, Gesetz, Straftäter, Schuld und Bestrafung geht. Durch die Art der Darstellung der Verhältnisse hat der Kriminalroman einen kritischen Blick auf die häufig korrupte und moralisch verdorbene Gesellschaft.

Die zentralen Elemente eines Kriminalromans haben ihr fiktionales Korrelat in drei Figurentypen, die charakteristisch für das Genre sind: der Detektiv, der Polizist und der Verbrecher.

Der Privatdetektiv repräsentiert das Spielerische, das jeder Kriminalroman hat, das, was für den Leser als Rätsel beginnt und dessen Auflösung zu einer intellektuellen Herausforderung wird. Auf den ersten Blick glauben nicht einmal die Privatermittler selbst der Figur des Detektivs. In Der Mord in der Rue Morgue gibt es eine exzentrische Gestalt, die allein mit ihrer Intelligenz, ihrer Anwendung von Logik und ihrer Freude daran, analytische Spielchen zu spielen, den Fall des verschlossenen Zimmers löst und die Polizei dabei übertrumpft, die über mehr und bessere Mittel verfügte, um ihn aufzuklären. Etwas Ähnliches geschieht bei Sherlock Holmes, der Scotland Yard mit seinen Überlegungen immer einen Schritt voraus ist, und dessen Agenten in Conan Doyles Romanen und Erzählungen wie naive Hampelmänner erscheinen. Das wirkt ziemlich unecht und ist deshalb das literarische Element, mit dessen Hilfe das Spiel, das es in jedem Kriminalroman geben muss, eingeführt wird. Das Auftauchen einer Detektivfigur im Roman ist mittlerweile eine gesellschaftlich akzeptierte Konvention, u.a. wegen des Misstrauens, mit dem die konventionellen Methoden des Polizeiapparats betrachtet werden, und literarisch, weil es dem Autor dazu dient, die Identifikation des Lesers mit dieser solitären und herausragenden Gestalt gegenüber dem unübersichtlichen Gewimmel von Polizisten zu ermöglichen.

Trotz der Unterscheidung von Detektiven und Polizisten darf man nicht vergessen, dass es sich um verwandte Berufe handelt. Vor ein paar Jahren, inmitten der Transición, konnte ich für Recherchen zu meinen Kriminalromanen zum ersten Mal mit einem Polizisten sprechen. Der betreffende Mitarbeiter war bei der Brigada Social (vollständig: Brigada de la Investigación Social (BIS); Polizeieinheit in Katalonien, die während der Franco-Diktatur regimekritische Personen verfolgt, bedroht, misshandelt und den franquistischen Tribunalen zugeführt hat; A.d.Ü.), und mit einer gewissen Ernüchterung sagte er zu mir: „Ich verbringe den Tag damit, Kommunisten zu jagen. Glaubst du, jemand wird Polizist, um Kommunisten zu verfolgen? Jeder Polizist geht doch wegen dem, was er in den Fernsehserien gesehen hat, auf die Akademie, es schreibt sich doch keiner dort ein, um Kommunisten zur Strecke zu bringen. Wir wollen sein wie Starsky und Hutch, wollen Mörder fangen, weil wir die Bösen kriegen wollen.“ Wenn die Polizisten die Akademie verlassen haben, wird tatsächlich so etwas wie eine Rangliste nach Leistungen angelegt, damit die Besten ihre bevorzugte Laufbahn einschlagen können. Mit der besten Note die beste Auswahl. Und fast systematisch gehen die besten Polizisten zur Mordkommission: Alle Polizisten wollen Mordfälle lösen und Mörder jagen. Heutzutage, und wahrscheinlich wegen so spannender Fernsehserien wie C.S.I., wollen die Neulinge zur Spurensicherung.

Der Einfluss von Starsky and Hutch auf den Polizisten, der mit mir sprach, gilt also für Tausende von Polizisten in der Welt. Vielleicht wollen nicht alle wie das berühmte Zweierteam der Fernsehserie aus den Siebzigern sein, doch wahrscheinlich haben alle, die sich für diesen Beruf entschieden haben, es mehr oder weniger unter dem Einfluss von Fiktion getan: Filme, Romane, Comics … Wenn dieser Einfluss im Polizeiapparat existiert, dann auch in der Welt des professionellen Detektivs; es gibt keinen Detektiv, der nicht beeinflusst ist von Holmes, von Marlowe oder einer ähnlichen Figur. Ich kenne viele Detektive, die einen auf Detektiv machen. In Barcelona bin ich sogar mit einem befreundet, der behauptet, ein Feinschmecker zu sein und Machado zitiert. Erkennen Sie das Vorbild?

Der Polizist ist derjenige, der mit dem Fall beauftragt wird, deshalb verkörpert er im Roman den Ermittlungsprozess. Er ist also auch damit beauftragt, den Fall zu lösen, nicht der Detektiv. Doch wenn man mit Polizisten spricht, hat es den Anschein, als redete man nur über Dienstvorschriften, Polizeiinterna und technische Details … denn so sehr ein Polizist auch von seiner Lieblingsromanfigur träumen mag, muss er sich doch immer bestimmten Regeln unterwerfen.

Eine weitere typische Figur des Kriminalromans ist der Böse. Es mag kindisch erscheinen, diesen Begriff zu verwenden, doch wird er tatsächlich so von den Polizisten benutzt, wenn sie sich auf denjenigen beziehen, den sie verfolgen müssen. Wenn der Detektiv die unglaubwürdige Figur des Genres ist, steht der Verbrecher für die Realität, für die Ängste, die wir mit der Lektüre austreiben wollen. Mit ihm beginnt die Romanhandlung, und wegen ihm setzt sich ein ganzer Apparat in Bewegung.

Das erste Mal, als ich die Abteilung für Spurensicherung der Nationalpolizei besuchte, durfte ich mir Mappen mit Fotografien vom Tatort anschauen. Diese Bilder waren mit das Eindringlichste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Während ich die Seiten umblätterte, dachte ich, dass ich ähnliche Bilder schon in Filmen, in Fernsehserien, in Zeitschriften und Zeitungen gesehen hatte … doch das konnte mir nicht das extreme Unwohlsein nehmen, das ich verspürte. Es lag daran, dass ich nicht mit gestellten Bildern, sondern mit der Wirklichkeit konfrontiert war: Das Gehirn, das über die Kacheln eines Terrazobodens verteilt war, hatte einmal existiert, war lebendig gewesen, war keine Gelatinemasse, die man für eine Filmaufnahme benutzt hatte. Deshalb sind der Böse und sein Verbrechen das, was die Wirklichkeit herstellt, die der Roman braucht.

In Piel de policia, meinem letzten Roman, den ich vierhändig gemeinsam mit Carles Quílez geschrieben habe, wird eine wahre Geschichte erzählt, die in Barcelona in den 80er Jahren stattfand. Damals erlebte die Stadt eine solche Welle von Banküberfällen, dass man die Mitarbeiter vom Raubdezernat über die Straftaten gar nicht verständigen musste: Es genügte, dass sie an einer strategisch günstigen Stelle warteten, und sie konnten fast sicher sein, demnächst einem Banküberfall beizuwohnen. In diesem Raubdezernat koexistierten frühere Mitglieder der franquistischen Polizei, die für ihre gesetzeswidrigen Methoden bekannt waren, und junge Polizisten, die gewillt waren, ihre Arbeit korrekt zu tun. Unter den Polizisten, die ihre Laufbahn in der Franco-Zeit begonnen hatten, war einer, der einen Überfall auf das Casino von Lloret de Mar geplant und den Angreifern genaue Instruktionen gegeben hatte, wie sie an die Beute herankommen und am schnellsten wieder damit verschwinden konnten. Danach wurde ihnen aufgelauert, ein paar der Räuber wurden getötet, zwei weitere laufengelassen, und die Polizisten behielten das Geld und behaupteten, dass diejenigen, die ihnen entwischt waren, damit geflohen seien.

Carles Quílez, der neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller für Verbrechensmeldungen bei Cadena Ser in Barcelona zuständig und somit ein Kenner seines Kiezes ist, traf sich eines Abends mit dem Typen, der den Überfall auf das Casino in Lloret de Mar ausgeheckt und organisiert hatte. Sie redeten stundenlang, und der Kerl, der bei Polizei und Gericht von Barcelona ziemlich bekannt war, erzählte ihm haarklein, wie der Überfall vonstatten gegangen war. Quílez, der den Wert des Materials, das ihm der Ex-Polizist da bot, zu schätzen wusste, versprach ihm, dass er seine Geschichte eines Tages erzählen würde. Dank dieses Kontakts lernte ich eines Tages die betreffende Person ebenfalls kennen, und der Schauder, der mich überlief, als er mir gegenüber saß, glich dem beim Betrachten der Tatortbilder. Zweifellos war das einer der unangenehmsten Momente meines Lebens. Die „bad vibes“, die dieser gewalttätige und skrupellose Typ in mir auslöste, sind nur sehr schwer in einem Roman darzustellen. Deshalb ist die Figur des Bösen die Veranschaulichung der Realität, sie repräsentiert das, was uns Angst macht.

Der Kriminalroman ist somit ein perfektes Amalgam von Realität und Fiktion. Die Realität wird von der Fiktion ausgehend analysiert. Die Angst vor der Realität wird mit dem Spiel der Fiktion exorziert. In Bezug auf den Kriminalroman wird gern gesagt, dass die Wirklichkeit die Fiktion übertrifft. Dieser Satz verursacht mir ebenfalls einen Schauder, wenn auch nicht so heftig, denn es stimmt weder, dass die Wirklichkeit die Fiktion übertrifft, noch umgekehrt. Auf den Journalistenschulen wird gelehrt, dass ein Hund, der ein Kind beißt, keine Nachricht sei, sondern erst das Kind, das den Hund beißt, womit die Zeitungen theoretisch voll mit Hunde beißenden Kindern sein müssten. So ist das aber nicht. Ab und zu passiert es, ab und zu beißt ein Kind einen Hund, ab und zu gibt es unglaubwürdige Nachrichten, die wir glauben, weil sie in den Zeitungen stehen, die wir jedoch nie glauben würden, wenn sie in einem Roman vorkämen. Deshalb macht es mich nervös, wenn die Leute sagen, dass die Wirklichkeit die Fiktion übertrifft. Natürlich tut sie das: Die Wirklichkeit ist unglaubwürdig, und die Fiktion nährt sich von der Wirklichkeit, um glaubwürdige Geschichten hervorzubringen, ohne dass der Leser den Eindruck bekommt, an der Nase herumgeführt zu werden.

Andreu Martin

Originaltitel: ,,El género policíaco: esencia y personajes“.
Aus: Informe confidencial – La figura del detective en el género negro.
Hrg. Àlex Martín Escribá, Javier Sánchez Zapatero, Difácil, Valladolid 2007

Aus dem Spanischen von Susanna Mende, August 2009

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