
Buchstäblich hinterm Mond
„Fake news“, exemplarisch aufgedröselt – eine Rezension von Alf Mayer
Eigentlich dachte ich, diesem Buch mit einer Kurzbesprechung Genüge tun zu können, schnell wurde ich eines Besseren belehrt. Auch hat der Verlag Brill Schöningh Verlag, Paderborn, es sich nicht nehmen lassen, die wissenschaftlich fundierte Studie „Von der deutschen Flugscheibe zum Nazi-UFO. Metamorphosen eines medialen Phantoms 1950–2020“ bestmöglich auszustatten und keinerlei Illustrations-Veto einzulegen – wie das leider oft genug in Sachbuchverlagen so üblich ist. Herausgekommen ist ein vieler Preise würdiges Hardcover-Sachbuch mit Lesebändchen, reichlich und großzügig illustriert, im „Classic Plus“- oder „Premiumformat“ von 17 x 24 cm, insgesamt ein geradezu lehrbuchhaftes Exempel dessen, wie „fake news“ in die Welt kommen und sich hartnäckigst halten. Deren Kern hier: UFOs sind nicht unbedingt Gefährte von Aliens, sondern Zeugnisse nazideutscher Intelligenz, nämlich als Wunderwaffe am Ende des Zweiten Weltkriegs erfunden. Dieser populäre Mythos hält sich bis heute, brachte es auch in seriöse Zeitungen, sogar in ein Handbuch der Bundeswehr, in die Literatur und in Fernsehserien und mit dem finnischen Spoof „Iron Sky“ auch auf die große Leinwand.
Das Fabulöse an Gerhard Wiechmanns Recherche ist, wie minutiös er die kommunizieren Röhren und osmotischen Medienmembranen weitergereichter Medienlügen, Falsch- und Halbinformationen aufdröselt, mit viel zitiertem Quellenmaterial den Urheberschaften nachgeht, dabei auch ein Auge für Falschschreibungen, Glättungen und neue „Spins“ hat. So gut dokumentiert findet sich das selten. – Und unterhaltsam ist es obendrein. Manchmal könnte man glauben, nicht nur der Forschungsgegenstand „Reichsflugscheibe“, auch das Buch selbst sei einfach nur gut erfunden. Es klingt beinahe zu schön, dass der freie Oldenburger Historiker Gerhard Wiechmann mit einer Studie zur deutschen Kanonenbootpolitik dissertiert hat („Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866–1914“) und zu militärhistorischen Themen und zur Geschichte der Populärkultur arbeitet. Ist aber so. Die Reichsflugscheibe hat es immerhin zu einem Wikipedia-Eintrag gebracht, gegenüber den Funden Wiechmanns bleibt der aber mager.
Es ist ein großes, geradezu globales Gerüchte- und Verschwörungslabyrinth, das Wiechmann mit seiner stets ruhig vorgetragenen Recherche betritt. Populärkultur verschränkt sich mit Ideologien, Ewiggestriges pimpt sich mit Science Fiction, Verlierer werden zu Hütern geheimen Wissens, zerplatzter Größenwahn tröstet sich mit mythischen Wunderwaffen. Aus Kolportage und Hörensagen wird mit jeder Weitergabe zusehends Beweis. Natürlich unterdrückt. Verfemt. Zensiert. Und daher umso glaubwürdiger.
Hätte, hätte Fahrradkette. Die (aus welchen Gründen auch immer) nicht mehr zum Einsatz gekommenen deutschen Wunderwaffen waren nach Kriegsende Balsam auf Niederlagenseelen. Dass für den Trost einer besiegten Nation sogar fliegende Untertassen herhalten mussten (und müssen) zeigt die Tiefe der immer noch schwärenden Wunde. Steven A. Westlake, ein Sohn des großen Krimiautors Donald E. Westlake, kein Scheiß, gab 2016 den Band „Hitler Is Alive!: Guaranteed True Stories Reported by the National Police Gazette“ heraus, 400 Seiten stark, allesamt Sichtungen Hitlers auf der ganzen Welt, in nur einer einzigen Zeitschrift berichtet. Robert A. Heinlein war es, der 1947 im Jugendbuch „Rocket Ship Galileo“ junge US-Astronauten auf dem Mond eine Nazi-Basis finden ließ. Die „Mondnazis“ (später so in der finnischen SF-Satire „Iron Sky” so benannt) waren in der Welt.
Zu den „urban legends“ der Nachkriegszeit gehörten und gehören die Reichsflugscheiben, mit den Adolf Hitler und andere Nazis zum Beipiel in die Antarktis flüchteten, um dort die Kolonie „Neuschwabenland“ aufzubauen. Es wimmelt von Buchtiteln wie „Heß and the Penguins. The Holocaust, Antarctica and the Strange Case of Rudolf Heß“ oder „Roswell and the Reich. The Nazi Connection“, „Hitler’s flying saucers. A guide to German flying discs of the Second World War“ oder von als Sachbuch getarnter Neonazi-Fantasy wie etwa „Genesis“ des Briten W.A. Harbinson (1980). Der Anbieter „Nostalgie Salzburg“ bietet aktuell als Sonderangebot für 88,22 Euro bei ZVAB von einem Autor namens O. Bergmann und in der Reihe „Philosophische Studien“ den Titel „Deutsche Flugscheiben und U-Boote überwachen die Weltmeere“ von 1988. „Reichsflugscheiben und Wehrmachtsmythen: „Stahlfront“ – rechtsextreme Unterhaltung als Science Fiction?“, fragte Dierk Spreen sich 2009 im Science-Fiction Jahrbuch… und on und on…

Ich denke, die Nazi-Untertassen werden uns noch lange um die Köpfe schwirren. Abgesehen von ihrem Ideologiegehalt sind sie als bizarre Idee einfach zu schräg, um sie dem Vergessen zu überantworten. Nach 161 Folgen war am 21. April 1969 Schluss mit der englischen Agentenserie „Schirm, Charme und Melone“ (The Avengers), schräg genug war es oft genug dabei zugegangen. Als sieben Jahre später die Nachfolgeserie „The New Avengers“ aufgelegt wurde, galt es, all das zu übertrumpfen, also lag in der ersten Folge „Der Adlerhorst“ (The Eagle’s Nest) vom 19. Oktober 1976 Adolf Hitler auf einer englischen Nordsee-Insel auf Eis und waren Nazi-Agenten am bösen Weltherrschaftswerk…
Einfach unverwüstlich, dieser Topos.
Umso wichtiger sind Rechercheure wie Gerhard Wiechmann. Einen Vorläufer (den er auch sehr anständig zitiert) hatte er in dem Bremer Archivar Justus Meier (1912 – 2003), in den 1930ern Leiter der Modellbaugruppe des Bremer Vereins für Luftfahrt und Deutscher Meister im Modellflug, dann bei Messerschmidt-Bölkow-Bohm im Firmenarchiv tätig, flugtechnisch also vermutlich deutlich besser beschlagen als viele UFO-Gerüchte wiederkäuende Feld- & Wiesenjournalisten. 1975 in „Luftfahrt international“ und dann noch einmal 1994 und 1998 im „Fliegerkalender. Internationales Jahrbuch der Luft- und Raumfahrt“ zerlegte Meier aus technisch-aerodynamischer Sicht die medial immer wieder auferstehenden Flugscheibenlegenden. Sein Fazit: „Das 1954 von einem anonymen Schreiber der Regenbogenpresse skizzierte, technisch unsinnige Vehikel war keine Geheimwaffe, sondern ein Hirngespinst – und sonst nichts.“
Und weiter bei Justus Meier: „Nichts von dem, was die Regenbogenpresse Anfang der 50er Jahre zum Thema deutsche Flugkreisel und –scheiben veröffentlichte, lässt sich durch die von den Alliierten erbeuteten, ausgewerteten und später an die Bundesrepublik Deutschland zurückgegebenen Unterlagen aus der Zeit des 3. Reiches belegen. Keines dieser Dokumente enthält konkrete Hinweise auf derartige Geheimwaffen und deren Konstrukteure.“
Alf Mayer
Gerhard Wiechmann: Von der deutschen Flugscheibe zum Nazi-UFO. Metamorphosen eines medialen Phantoms 1950–2020. Brill Schöningh Verlag, Paderborn 2022. 174 Seiten, viele Abbildungen, 39,90 Euro.