Geschrieben am 3. November 2019 von für Crimemag, CrimeMag November 2019

Alf Mayer über „Die Schweizer KZ-Häftlinge“

Die Schweiz hat sich schuldig gemacht

Über das wichtige Buch „Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs“

Dieses Buch ist ein Meilen- und ein Stolperstein. Autoren und Verlag gebührt dafür höchster Respekt. Vier Jahre haben die Journalisten Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid für ihr Buch über die vergessenen Schweizer Opfer des Dritten Reichs recherchiert. Anstoß war ihnen eine Gedenktafel auf dem ehemaligen Appellplatz im KZ Buchenwald. Sie erinnert an die Nationalitäten der Häftlinge, die dort gequält und ermordet wurden. Und zwischen „Schweden“ und „Senegalesen“ steht dort „Schweizer“.

Das war Spörri, Staubli und Tuchschmid neu, sie fragten nach, erst bei Kollegen, Freunden und Bekannten. Kaum jemand wusste, dass auch Schweizer während der NS-Diktatur in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren. Aber auch die Wissenschaft offenbarte eine große Forschungslücke. Zitat aus der Einleitung: „Die Schweizer KZ-Häftlinge sind vergessene Opfer des Dritten Reichs.“

Mit ihrem klar und verständlich geschriebenen Buch, das sie im Jahr 2015 begannen, wollen die drei Autoren diese frapante Erinnerungslücke schließen helfen. Sie wussten am Anfang nicht, wie viele Schweizer KZ-Häftlinge es gegeben hat. Inzwischen wissen sie – und wir nun durch dieses Buch: Es waren insgesamt mindestens 391 Menschen in einem KZ inhaftiert, die zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung oder zu einem früheren Zeitpunkt Schweizer Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger waren, 201 von ihnen überlebten die Torturen nicht. Und dazu kommen noch mindestens 328 Männer, Frauen und Kinder, die in der Schweiz geboren wurden, nie aber die Schweizer Staatsbürgerschaft besaßen. Von ihnen überlebten mehr als 250 die Lager nicht. Die Schweizer Opfer der NS-Verfolgung waren Widerstandskämpfer, Juden, Sozialisten, „Asoziale“, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma. Die meisten von ihnen wurden in Frankreich verhaftet und von dort in ein KZ deportiert. Andere lebten als Auslandschweizer in von Deutschland besetzten Ländern wie Polen, Österreich, Italien, Belgien oder Griechenland. 

Die Autoren selbst konnten keine Schweizer Überlebenden mehr finden, sie sprachen aber mit Töchtern, Enkeln und weiteren Verwandten, und sie hatten schon früh Kontakt zum pensionierten Walliser Briefträger Laurent Favre, der schon 1972 begann, Informationen über Schweizer KZ-Häftlinge zu sammeln, neun Überlebende persönlich traf und zu rund hundert weiteren in Kontakt stand.

„Die Schweiz hätte mehr tun können“

Das großzügig und werthaltig gestaltete Buch besteht aus drei Teilen. Der erste Teil umreißt in neun sehr anschaulichen und den Stand der Forschung wiedergebenden Kapiteln die historische Entwicklung der Konzentrationslager, schildert die Verhaftungen und Deportationen von Schweizer Bürgern, detailliert die Reaktionen der Schweizer Behörden darauf und bezieht klar Stellung. Das Fazit: „Nach vierjähriger Recherche besteht für uns kein Zweifel: Die Schweiz hätte viel mehr für die KZ-Häftlinge tun können, als sie es effektiv tat. Doch sie unterließ es. Aus Angst, das NS-Regime zu verärgern. Und aus mangelndem Interesse an den Opfern.“ 

Unaufgeregt, aber präzise in Detail und Wertung, entfalten die Autoren im ersten Drittel des Buches die mehr als zögerliche Haltung des Schweizer Bundesrats und der maßgebenden Diplomaten gegenüber dem NS-Regime. Man kann nur hoffen, dass das eine politische Debatte in der Schweiz entfacht. Der Teppich des Schweigens über diesem Thema, das wird bei der Lektüre klar, war (und ist) ein obszön riesengroßer. Auch das schäbige Verhalten des Bundesrates nach dem Krieg gegenüber den Häftlingen und ihren Angehörigen wird benannt.

KZ-Reportage der „Schweizer Illustrierten“, 1933: „Leichte Arbeiten und Zerstreuung“

„Die Schweiz hätte Dutzende Leben retten können, wenn sie sich mutiger und mit mehr Nachdruck für die Schweizer KZ-Häftlinge eingesetzt hätte“, konstatieren die Autoren. Doch die Schweiz intervenierte nur zögerlich beim NS-Regime. Teil aus Angst, Hitler zu verärgern und einen Einmarsch in die Schweiz zu provozieren, teils aus mangelndem Interesse an den Opfern – und teilweise durchaus auch aus Sympathie  zum Regime. Eins der Details, bei dem mir bei der Lektüre die Spucke wegblieb, ist eine am 26. April 1933 in der „Schweizer Illustrierten“ erschienene Fotoreportage mit dem Titel „Arbeit bietet Zerstreuung“. Auf einem großen Foto sitzen sechs Häftlinge im Kreis und schälen Kartoffeln, der Bildtext erklärt: „Die Gefangenen in den deutschen Konzentrationslagern werden durch leichte Arbeiten beschäftigt, damit sie Ablenkung und Zeitvertreib finden. Das Kartoffelschälen wird zu einer anregenden, kurzweiligen Unterhaltung.“ Ein anderes Bild zeigt einen Häftling mit einem lachenden Wachmann. Dazu heißt es: „Berufliche Betätigung hilft über langweilige Stunden hinweg. Und wenn auch noch der Ton des Vorgesetzten kein mürrischer, sondern ein freundlicher ist, dann vergisst man zeitweise ganz, dass man sich in Gefangenschaft befindet.“ – Die Fotos stammten aus dem KZ Oranienburg und waren inszeniert, notieren die Autoren. Im Herbst 1933 zeichnete auch die „Neue Berner Zeitung“, das offizielle Organ der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, ein freundliches KZ-Bild: Einfache Unterkünfte, aber gute Hygiene, vortreffliches Essen, dazu Sport und Baden: „Dieses Faulenzerleben in der Sonne und der frischen Luft bewirkt, dass der Gesundheitszustand der Leute außerordentlich gut ist.“ Das Buch stellt andere Auslandsstimmen aus der gleichen Zeit daneben. Die „Chicago Tribune Daily“ mokiert sich etwa vom 7.4.1933 über das „schockierende Aussehen“ der Häftlinge eines Lagers im heutigen Baden-Württemberg, am 16.8.1933 schreibt der britische „New Statesman“, dass die Gefangenen in den deutschen KZs „mit extremer Brutalität“ behandelt werden.

Berichte über Massaker: nur „Gräuelpropaganda“

Wenige Tage nach Kriegsausbruch führte der Schweizer Bundesrat die Zensur ein. Ihre Vorgabe: Die Armee durfte nicht kritisiert, der Bundesrat nicht ins einem Ansehen geschmälert und die Neutralität nicht in Frage gestellt werden. Und die Zeitungen durften in keiner Weise ausländische Kriegspropaganda unterstützen. Die Verbreitung von sogenannten Gräuelmeldungen war untersagt, dazu zählten auch Berichte über die Ermordung von KZ-Häftlingen – das wurde von der Zensur als aktive Parteinahme betrachtet und verstieß gegen die Neutralität der Schweiz. Im Dezember 1943 zum Beispiel verwarnte die Zensurstelle die St. Galler „Volksstimme“ scharf, weil sie über die Erschießung von 70 000 Juden in Kiew berichtet hatte. „Es handelt sich um ausländische Gräuelpropaganda übelster Art“, hieß es dazu.
Eine besonders abwieglerische Rolle spielte der Schweizer Berlin-Gesandte Hans Frölicher, der noch in seinen Erinnerungen eine Mahnung an die Wanderer aus der Urner Schöllenen-Schlucht zitierte: „Und willst du die schlafende Löwin nicht wecken, so wandle still durch die Straßen des Schreckens.“ Immer wieder forderte er von der Schweizer Presse Zurückhaltung oder gar Wohlwollen gegenüber dem NS-Regime.
Die Schweiz akzeptiere auch die Diskriminierung ihrer jüdischen Staatsbürger in Frankreich, wehrte sich gar gegen ihre Rückführung auf ihr Territorium. Die Eisenbahnzüge fuhren so nach Auschwitz. Ende 1943 zog die Schweizer Gesandtschaft in Berlin Bilanz über die sogenannte Repatriierung: „Im Berichtsjahr wurde die vollständige Entjudung zuerst des Reichsgebietes und hernach fast aller von der deutschen Wehrmacht besetzten Territorien durchgeführt.“ Auf der grusligen Akte steht handschriftlich: „Welche Sprache!“ Aber, so notieren die Autoren, solch eine Stellungnahme war kein Ausrutscher. „Selbst in amtlichen Dokumenten übernahmen die Schweizer Behörden oft die Terminologie des NS-Regimes.“
Die Schweiz hat sich schuldig gemacht. Damit muss sie leben.

Menschen statt Nummern

Der zweite, gut 110 Seiten umfassende Mittelteil, porträtiert zehn Schweizerinnen und Schweizer. Er zeigt, dass völlig unterschiedliche Menschen Opfer des NS-Terrors wurden: eine aus Frankreich deportierte Jüdin, ein Zürcher Sozialdemokrat, eine Schweizer Bauernfamilie in der Steiermark, ein Zürcher Hochstapler mit seiner Geliebten, eine Resistance-Kämpferin aus Paris. In den Konzentrationslagern waren sie Nummern, im Schweizerischen Bundesarchiv sind sie Entschädigungsfälle. Das Anliegen des Autoren-Trios ist, sie wieder zu Menschen zu machen. Wie sie das machen, rührt zu Tränen.

Der dritte Teil ist für die Schweiz ein Novum. Es ist eine aufwändig recherchierte Liste der 391 Schweizer KZ-Häftlinge mit ihrem Schicksal. In anderen Ländern existieren solche Listen längst. Die Liste soll ein Memorial sein. Und eine Mahnung.  

Und ja, dieses Buch kommt spät. Sehr spät. Erst 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber jetzt ist es da.

Möge es wirken.

Alf Mayer

  • Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs. NZZ Libro/ Schwabe Verlagsgrupppe AG, Basel 2019. Hardcover, Lesebändchen, 320 Seiten, 147 Abbildungen, 48 CHF/ 48 Euro.

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